Binnen zehn Monaten sind aus deutschen Krankenhäusern 9.000 Intensivplätze verschwunden und 7.000 projektierte gar nicht erst aufgetaucht. Immer dann, wenn die Not der Pandemie gerade am größten ist, steuern die Kapazitäten stramm auf Kurs „fünf nach Zwölf“. Das kann man für Zufall halten, die Folge vermasselter Politik oder eines Schwunds nach Plan. Fakt ist: Vor jeder Etappe des Niedergangs gab ein Gesetz aus dem Hause Jens Spahn den Startschuss. Das verdient Applaus, meint Ralf Wurzbacher.
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Neben den sogenannten Neuninfektionen, dem Inzidenz- und R-Wert sowie den Corona-Toten ist sie ein zentraler Indikator der Krise: die Auslastung der Intensivstationen. Je enger es in den Notfallabteilungen der deutschen Kliniken zugeht, desto höher steigt die Fieberkurve der allgemeinen Erregung. Hierzulande sind augenscheinlich schwindende Kapazitäten inzwischen sogar zur Königskennziffer der Pandemie aufgestiegen. Was die Fall- und Sterbezahlen an Dramatik nicht mehr hergeben, besorgt in diesen Tagen und Wochen die Rede von den „volllaufenden Kliniken“ und als Wasserstandsmelder Nr. 1 im Lande firmiert dabei das DIVI-Register. Die von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin gemeinsam mit dem Robert Koch-Institut (RKI) aufgebaute Datenbank liefert seit über einem Jahr alle 24 Stunden eine Bestandsaufnahme zur Anzahl der Patienten mit Covid-19-Diagnose in Intensivbehandlung und der noch freien Intensivbetten.
Dabei begnügt sich der Verband längst nicht mehr mit der Vorlage trockener Statusberichte. Die DIVI ist mittlerweile so etwas wie die lauteste Alarmanlage im Corona-Panikorchester und wichtigster Stichwortgeber für die Warner und Mahner von der Sorte Merkel, Spahn, Drosten, Wieler, Lauterbach und Söder. Es vergeht kaum noch ein Tag, an dem DIVI-Präsident Gernot Marx nicht den Teufel an die Wand malt, über „Kliniken am Limit“ um „fünf nach Zwölf“ klagt und die Notwendigkeit noch drastischerer Maßnahmen beschwört. Und jedes Mal greifen die politischen Krisenmanager die Vorlagen begierig auf, um damit die eigene harte Gangart zu rechtfertigen.
Kein verlässliches Monitoring
Dabei gibt es durchaus Leute vom Fach, die die Lage entspannter sehen. Zum Beispiel erklärte dieser Tage Thomas Hermann Voshaar, Chefarzt der Lungenklinik Bethanien Moers, gegenüber der „Bild-Zeitung“: „Wir sind und waren zu keiner Zeit am Rande unserer Kapazitäten.“ Nicht mal ein Viertel der 22.000 Intensivbetten in Deutschland seien mit Covid-19-Patienten belegt. Den Alarmismus der DIVI nannte er deshalb „unverantwortlich“ und „unverhältnismäßig“. „Ich befürchte keinen Kollaps, aber bis zum Sommer eine schwierige Situation“, befand auch der Leiter der Klinik für Intensivmedizin und Notfallmedizin des Klinikums Bremen Mitte, Rolf Dembinski. Die Lage sei „angespannt, aber noch beherrschbar“.
Für Francesco De Meo, den Vorsitzenden der Helios-Kliniken, der europaweit größten Krankenhauskette, sind volle Intensivstationen „nichts Neues“ und zudem spezifisch für Deutschland, wie er vor einer Woche der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ sagte (hinter Bezahlschranke). Als „Beitrag zur Transparenz und einer zahlengestützten Beurteilung der aktuellen Situation“ veröffentlicht der Helios-Konzern täglich die Zahlen zur Bettenauslastung an den 89 deutschen Standorten. Für den gestrigen Donnerstag verzeichnet die Statistik knapp 15.300 Patienten auf Normalstation, davon 771 mit Covid-19, und 1.142 Intensiv- und darunter 334 Covid-19-Fälle.
Laut De Meo bewegen sich die Zahlen „insgesamt noch unter dem, was wir in der zweiten Welle im Winter bewältigt haben“. Außerdem verwies er auf die deutsche Besonderheit, wonach „Patienten vergleichsweise schnell auf die Intensivstation“ verlegt würden. Verglichen mit Spanien gebe es „dreimal so viele“ intensivmedizinisch Behandelte, „die Sterblichkeit ist dann in beiden Ländern aber wieder ungefähr gleich“. Nach Meinung des Helios-Chefs fehlt es für eine verlässliche Gefahreneinschätzung am nötigen Monitoring. „Wie viele Patienten sind auf den Intensivstationen, wie alt sind sie, wie lange und wie werden sie behandelt, wie viele versterben?“ Dafür brauche es gar nicht viel, man könnte die „ohnehin vorhandenen Daten“ nutzen, „die sogenannten Routinedaten“, die auch den Krankenkassen gemeldet würden. Allerdings habe es das Bundesgesundheitsministerium (BMG) verpasst, die rechtliche Grundlage zu verändern, damit auch die Meldedaten der Intensivmediziner „einfacher genutzt werden könnten“. Wirklich „aussagekräftig“ wäre so auch der Sieben-Tage-Inzidenzwert der Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner nur dann, wenn weitere Kennzahlen hinzugezogen und miteinander verknüpft würden, bemerkte De Meo.
Unechte Corona-Fälle
Wie die NachDenkSeiten bereits hier und hier thematisiert hatten, besteht ein großer blinder Fleck in der öffentlichen Wahrnehmung darin, dass der Kreis „echter“ Corona-Kranker massiv überschätzt wird. Eine Auswertung der von De Meo angesprochenen „Routinedaten“ durch die Initiative Qualitätsmedizin (IQM) hatte ergeben, dass von den übers Jahr 2020 als Covid-19-Patienten Hospitalisierten nur 45 Prozent tatsächlich eine per PCR-Test nachgewiesene SARS-Cov-2-Infektion durchgemacht hatten. Die anderen 55 Prozent wurden entweder gar nicht oder negativ getestet und lediglich durch eine klinisch-epidemiologische Begutachtung zum Covid-19-Fall auf Verdacht erklärt. Allerdings legen die ermittelten Daten zu Sterblichkeiten und Behandlungsroutinen für die IQM den Schluss nahe, dass es sich „bei diesen Patienten um eine andere Population als bei den nachgewiesenen Covid-19-Fällen“ handele.
Nach den neuesten Kennzahlen zum ersten Quartal 2021 hat sich das Verhältnis zwar zugunsten der laborbestätigten Fälle verschoben (53 Prozent gegenüber 47 Prozent). Gleichwohl bleibt es dabei: Sehr viele sogenannte Corona-Kranke sind faktisch gar keine Corona-Fälle, werden aber trotzdem als solche gehandelt und behandelt – mitunter auch falsch. Die offenbar massenhaften Fehldiagnosen könnten auch erklären, warum das System nicht längst an seine Grenzen gestoßen ist. Steckte hinter jedem Covid-19-Label tatsächlich ein „echter“ Corona-Fall, wären die Kliniken wohl mit einer über das in Herbst und Winter ohnehin anspruchsvolle Tagesgeschäft hinausgehenden Überlast konfrontiert. Die Belegungszahlen in der Breite – bei fraglos punktuellen Ausnahmen – liegen aber im Normalbereich der vorangegangenen Jahre. Jüngst erst offenbarte eine Studie der Technischen Universität Berlin, über die hier berichtet wurde, dass die Intensivbetten im ersten Pandemiejahr in kleinen Häusern im Schnitt zu unter 64 Prozent belegt waren, bei großen Standorten zu 71 Prozent. Gerade in der Intensivmedizin lässt sich dies schwerlich mit den in großem Stil aufgeschobenen Operationen und Behandlungen erklären – einen Notfall kann man nicht einfach absagen.
Volatile Bettenauslastung
Vom Medienmainstream werden solche Hintergründe allerdings konsequent ausgeblendet. Würde man sie berücksichtigen, müsste wegen der nur scheinbar Covid-19-überlaufenen Kliniken in puncto Hysterie kräftig abgerüstet werden. Aber Hysterie ist und bleibt in der Pandemie eine feste Konstante. Mehr noch gehört sie zum Geschäft, dem politischen sowieso, aber nicht minder zu dem der deutschen Krankenhausmanager. Dies zeigt sich gerade daran, dass die Zahlen zum Bestand an Intensivkapazitäten gerade nicht konstant sind. Sie sind im Gegenteil sogar hochgradig volatil.
Nehmen wir den 28. April: Da schlüsselte der DIVI-Tagesreport 21.924 belegte und 2.730 freie Plätze auf, was insgesamt 23.924 Betten ergibt, zuzüglich einer Notfallreserve von knapp 10.000. Nur vier Tage davor, am 25. April, wurde die Kapazität mit 23.713 beziffert, also rund 200 Plätzen weniger, wobei die Reserve bei 10.149 notierte. Der Eindruck von „Verschiebebahnhof“ verstärkt sich noch, blickt man weiter zurück. Während derzeit in der Spitze etwa 24.000 Intensivbetten ausgewiesen sind, waren es vor drei Monaten mit 26.957 über 3.000 mehr. Wo sind die ganzen schönen Betten geblieben, die doch gerade jetzt, da die dritte Welle übers Land schwappt, so bitter benötigt werden?
Diese Frage hatte sich zuletzt auch Sahra Wagenknecht von der Linkspartei gestellt: „Im zweiten Halbjahr 2020 sind irgendwie 6.000 Intensivbetten aus der Statistik verschwunden. Keiner weiß, warum.“ Doch, doch, einer weiß bestimmt, was los ist: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Er nämlich hat durch diverse Gesetze die Anreize dafür geschaffen, dass die Intensivbetten kommen und gehen, wie es gerade in den Kram passt, sprich in die Bilanzen. Der Informatiker Tom Lausen und sein Rechercheteam aus Ingenieuren, Notärzten und Anwälten ist den Vorgängen auf Basis der offiziellen DIVI-Daten auf den Grund gegangen und hat dabei Erstaunliches ans Licht befördert. So wisse die DIVI aufgrund der Eingaben der Krankenhäuser „überhaupt nicht, wie viele Patienten jemals mit Covid in den Intensivstationen gelegen haben“, gibt Lausen in einem Video auf exomagazin.tv zu bedenken.
Doppel- und Dreifachzählungen
Beispielhaft verweist er darauf, dass ein einzelner Patient von der Statistik im Falle von Verlegungen mehrfach geführt wird. Das DIVI-Register räumt dies auf seinen Webseiten ein – „Mehrfachzählungen möglich“ – ohne dies jedoch zu quantifizieren. Dagegen hatte das „Ärzteblatt“ im März unter Berufung auf „AOK-Daten bis Ende Juli 2020“ geschrieben, dass „10,8 Prozent aller stationären Covid-19-Fälle mindestens einmal“ die Station gewechselt hatten, „unter den beatmeten Patienten waren es 31,9 Prozent“. Trifft das zu, könnte das die Angaben zur Auslastung signifikant aufblähen. Aber die organisierten Intensivmediziner interessieren solche Unschärfen nicht und sie geben sich gar nicht die Mühe, die Statistik entsprechend zu bereinigen. Lausen wollte dazu Auskunft beim DIVI einholen und erhielt zur Antwort, man wolle nichts über schwere Verläufe wissen, „sie möchten nur die Betten zählen“.
Aber wie kann man sich um 6.000 verzählen, wie Wagenknecht monierte und was sie sich wundern ließ: „Was sich dramatisch verändert hat, sind die freien Kapazitäten (…), aber nicht, weil es mehr Intensivpatienten gibt, sondern weil die Betten immer mehr reduziert wurden.“ Tatsächlich könnte die Zahl der Verluste sogar noch größer sein. Allein zwischen April und Juli 2020 hatten sich rund 7.000 Plätze irgendwie in Luft aufgelöst. Dabei hatte BMG-Chef Spahn mit seinem im März aufgelegten „Krankenhausentlastungsgesetz“ eine Aufstockung der Kapazitäten auf bis zu 40.000 versprochen. Eine halbe Milliarde Euro ließ er es die Steuerzahler kosten, jedes neue Bett mit 50.000 Euro zu prämieren. Überdies setzte er die bis dahin geltenden „Pflegepersonaluntergrenzen“ vorübergehend außer Kraft. Damit musste sich eine Krankenpflegerin plötzlich um mehr Patienten kümmern als davor, womit den Betroffenen immerhin „Applaus vom Balkon“ sicher war.
Das alles führte immerhin zu einer deutlichen Zunahme an Betten auf das Niveau von knapp 33.000 in der zweiten Julihälfte. Von den rechnerisch eigentlich fälligen 39.700 war das aber meilenweit weg. Irgendwann musste sich dann auch der Minister die Augen reiben und zur Kenntnis nehmen, dass das schöne Geld für Mitnahmeeffekte draufgegangen ist. Aber auch die auf dem Papier vorhandenen Betten verdünnisierten sich, je länger sich der Sommer hinzog und je weniger die spärlichen Corona-Fälle den Aufwand rechtfertigten. Passend dazu reaktivierte die Bundesregierung im August auch noch die alten Personaluntergrenzen. Nun durfte sich eine Pflegekraft tagsüber nur noch um maximal zweieinhalb Intensivbetten kümmern, womit immerhin ein Stück Realitätssinn ins System einzog. Denn ein Intensivbett ohne auskömmliche Personalausstattung taugt in der Not zu gar nichts.
Spahn baut ab
Folgerichtig machten sich auf einen Schlag Tausende Betten aus dem Staub, beziehungsweise tauchten in Teilen in der Notfallreservekapazität auf. Das immerhin könnte die panischen Einlassungen manch eines Klinikchefs erklären, wenn die Belegung auf die Reserve zusteuert. Das fünfte Rad am Wagen mag es zwar geben, aber keinen, der es montieren kann. Von Spätsommer bis Herbst kannte der Bettenschwund kaum noch ein Halten. Befeuert wurde der Trend noch durch das Ende der sogenannten Freihaltepauschale zum 30. September. Bis dahin wurde das Vorhalten von Betten für mögliche Covid-19-Patienten, die aber wochenlang einfach nicht kamen, honoriert, etwa durch Verschiebung nicht zwingend notwendiger OPs. Weil die ganzen Betten von da an kein Geld mehr verdienten, wurden sie kurzerhand in großer Zahl in Bestände der Normalstation zurückverwandelt.
Allein bis Anfang November gingen über 4.500 Intensivbetten verloren, während die Regierung und ihre Berater unermüdlich Angst vor der zweiten Welle machten. Als dann die Fallzahlen im November tatsächlich schon merklich angezogen hatten, setzte Spahn zum nächsten Niederschlag an: dem „Krankenhausfinanzierungsgesetz“. Die am 18. November vom Bundestag beschlossene Neuregelung entschädigt Krankenhäuser für Ausfälle, die ihnen wegen der Pandemie entstanden sind. Zuwendungen erhalten allerdings bloß jene Einrichtungen, deren Intensivstationen zu mindestens 75 Prozent ausgelastet sind. Eine quantitativ gut ausgebaute Intensivpflege gerät da zum Ausschlusskriterium. „Besser“ steht da, wer wenig Betten hat und die auch noch möglichst voll bekommt. So kam es, wie es kommen musste. Viele Kliniken kürzten ihre Intensivbettenbestände künstlich und radikal ein, wodurch die Auslastung anteilig nach oben ging.
DIVI „hoch verblüfft“
Laut Informatiker Lausen war dies bei „sehr vielen Krankenhäusern“ zu beobachten, im Speziellen bei denen, die davor einen Überschuss an Kapazitäten hatten. Als Beispiele nannte er Leipzig, Bottrop, Goslar, Starnberg und Eisenach. Eindrücklich demonstriert er am Fall einer Klinik in Pinneberg, wie der „Bedarf“ an Betten je nach Belegungsumfang flexibel und „nach Belieben“ hoch und runter geregelt wurde, um ja nicht unter die 75-Prozent-Marke zu rutschen. Dabei sind die Schwankungen mitnichten nur auf etwaige Covid-19-Neuzugänge, sondern auf alle Arten von Krankheitsfällen zurückzuführen. Hier sollte man sich noch einmal die Worte von Helios-Chef De Mea vergegenwärtigen, wonach hierzulande Patienten vergleichsweise schnell auf der Intensivstation landen.
Rasend schnell rauschten nach Spahns Meisterstück die Intensivkapazitäten in den Keller. Am 11. November zählte das DIVI-Register noch rund 28.500 Plätze, zum Jahresende 2020 waren es schon fast 2.000 weniger, nämlich knapp 26.700. In den ersten Wochen des Jahres 2021, auf dem Höhepunkt der zweiten Welle, ging es noch rasanter bergab. Binnen vier Monaten verschwanden über 3.000 weitere Betten vom Bildschirm, obwohl sich aus demselben jeden Tag schlimmere Schreckensmeldungen von überfüllten Kliniken in die deutschen Wohnzimmer ergossen. Ein Schelm, wer dahinter Absicht vermutet.
Bei der DIVI hat man von all dem irgendwie nichts mitgekriegt. Lausen ist seine Schaubilder zwei Stunden lang am Telefon mit einer Pressesprecherin durchgegangen. Diese sei „hoch verblüfft“ gewesen „über das, was sie auf einmal visualisiert präsentiert bekommen hat“. Für den Informatiker steht jedenfalls fest, dass die DIVI-Tagesreporte „nicht zu einer bevölkerungsweiten Maßnahmensteuerung eingesetzt werden dürfen“. Kurzum: „Diese Zahlen sind nicht valide!“
Titelbild: Matthias Wehnert/shutterstock.com