Die Situation an der russisch-ukrainischen Grenze spitzt sich zu. EU-Europa folgt dabei fast bedingungslos der Konfrontationspolitik der USA und der NATO. Ein aktives Eintreten besonders von Deutschland und Frankreich für die gemeinsam erarbeiteten Ziele von Minsk2 ist nicht zu erkennen, statt dessen eine kampagnenhafte, geradezu primitive Verurteilung Russlands. Die Verantwortung für die jetzige Situation liegt bei der NATO, besonders bei den USA, aber auch bei der Bundesregierung. Die NATO-Politik ist Konfrontationspolitik, die durch die Unterstützung der aggressiven Kreise in der Ukraine kriegerische Auseinandersetzungen mindestens billigend in Kauf nimmt. Von Reiner Braun.
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„Nichts ist schwerer und
nichts erfordert mehr Charakter,
als sich in offenem Gegensatz
zu seiner Zeit zu befinden und
laut zu sagen: Nein.“
Ich stelle dieses Zitat von Kurt Tucholsky zu Beginn meiner Ausführungen, weil es auch darum geht, dem Narrativ von Mainstreampolitik und Medienberichterstattung Aufklärung und Fakten entgegenzustellen.
Wir erleben eine massive Verlagerung von Truppen und Kriegsmaterial an die Grenze zwischen der Ukraine und Russland sowie an die innere Konfliktlinie zwischen der Ukraine und den sich für unabhängig erklärten Regionen von Donbass und Lugansk. Die kriegerischen Auseinandersetzungen, der gegenseitige Beschuss an der Grenze zwischen der Ukraine und den Volksrepubliken haben massiv zugenommen – mit Opfern auch in der Zivilbevölkerung und einer erneuten Zerstörung ziviler Infrastruktur.
Die Regierung der Ukraine hat entgegen allen Waffenstillstands- und Rückzugsvereinbarungen ihre Truppen in der Krisenregion auf 90.000 erhöht (die Gegenseite hat höchstens 30.000 Menschen unter Waffen), schwere Artillerie, Raketenwerfer und Drohnen sowie über 100 Panzer in die Region verlagert (Angaben nach OSZE-Dokumenten). Dabei wurde besonders die Truppenstationierung an der Grenze zu Belorussland ausgebaut. Mehrere tausend rechtsradikale und faschistische „Kämpfer“ stehen einsatzbereit „an der Front“.
Die ukrainische Armee wurde besonders mit US-, aber auch NATO-Unterstützung massiv modernisiert. Zwischen 30% und 40% des Haushaltes der Ukraine fließen in die Rüstung. Bis zu 2.000 US-Soldaten werden 2021 vorläufig – eine permanente Stationierung verbietet die ukrainische Verfassung – in der Ukraine stationiert, eingeflogen über die Air Base Ramstein. Kriegsschiffe werden ins Schwarze Meer verlegt. Die Zeichen stehen auf militärische Offensive. Bestätigt werden die Offensivpläne u.a. vom Oberkommandierenden der ukrainischen Streitkräfte, Ruslan Chomtschak.
Gleichzeitig beginnt 2021 mit „Defender 21“ das größte Militärmanöver der NATO in Europa mit ca. 30.000 Soldatinnen und Soldaten in Süd-Ost-Europa und der Schwarzmeerregion (einschließlich Rumänien/Bulgarien und des Asowschen Meeres). Bei dem Manöver in Polen und in der Region des Schwarzen Meeres, vielfach nahe der Grenze der Ukraine/Russland, ist die “Abwehr eines Angriffs aus dem Osten“ die zentrale Herausforderung – so die offizielle NATO-Propaganda. Deutschland ist erneut die Drehscheibe für die Truppentransporte und mit 430 eigenen Soldatinnen und Soldaten beteiligt. Defender 21 ist zwar das größte, aber lange nicht das einzige Manöver der NATO. Wie “telepolis” berichtete, sind die weiteren Manöver: Steadfast Cobalt, Ramstein Apex, Ramstein Ambition, Steadfast Defender, Noble Bonus, Steadfast Jupiter, Steadfast Leda. Dass diese Manöver gegen Russland gerichtet sind, ist offensichtlich.
Russland reagiert auf den als Bedrohung empfundenen Aufmarsch mit der Verlagerung von 4.000 Soldatinnen und Soldaten an seine Grenze zum Westen.
Die NATO-Militärstrukturen in Ost- und Zentraleuropa werden massiv ausgebaut. Nach dem Polen-USA-Abkommen zur verstärkten Zusammenarbeit wurden alleine in Polen 11 Standorte, darunter sieben Luftwaffenstützpunkte, massiv ausgebaut und modernisiert (u.a. Lask, Podwitz, Mieroslawiec, Deblin). Der sogenannte Raketenabwehrschirm der USA/NATO in Polen, Rumänien und Bulgarien ist einsatzbereit und die Abwehrsysteme können schnell zu Einsatzsystemen für konventionelle und atomare Raketen „umgepolt“ werden. Dann sind es Erstschlagswaffen zur Ausschaltung der „Zweitschlagskapazitäten“ des Gegners.
Die Partnerschaft zwischen NATO und Ukraine wird immer enger, NATO-Offiziere trainieren die ukrainische Armee, neue US-Waffen (besonders Drohnen und Raketenwerfer) werden beschafft. Der Präsident der Ukraine erklärt den NATO-Beitritt seines Landes als einzige Möglichkeit, den schwelenden Konflikt im Donbass zu lösen. NATO-Generalsekretär Stoltenberg besuchte demonstrativ Kiew und ermutigte die Regierung, ihren provokativen Kurs fortzusetzen. US-Verteidigungsminister Austen erklärte seine Unterstützung und unterstrich Garantien, die Souveränität der Ukraine zu verteidigen.
Die Stationierung von NATO-Truppen in der Ukraine wurde von Russland mehrfach als Überschreiten einer „roten Linie“ bezeichnet. Gegenreaktionen sind mehr als wahrscheinlich. Die Ukraine will trotzdem unbedingt und schnellstmöglich Mitglied der NATO werden, obwohl dieses – losgelöst von den geostrategischen Konsequenzen und Verwerfungen – nach NATO-Statut nicht möglich ist. Dieses lässt die Mitgliedschaft eines Landes mit inneren kriegerischen Konflikten nicht zu.
Die Ukraine plant, zwei neue Militärbasen zu bauen, einen Stützpunkt am Schwarzen Meer und den anderen am Asowschen Meer, der Wasserstraße, die die Ukraine und Russland trennt.
Die Ukraine und die Volksrepubliken Donbass und Lugansk haben die Mobilmachung zum Militärdienst angeordnet.
Ziel der ukrainischen Regierungspolitik ist es, den Konflikt zu internationalisieren und besonders die NATO noch aktiver in diesen zu verwickeln. Die Gefahren für die europäische Politik und Sicherheit liegen auf der Hand.
Russland seinerseits baut seine Truppenkonzentration an seiner Westgrenze deutlich aus – aus pazifistischen Gründen sicher abzulehnen (Krieg ist nie die Lösung von Konflikten), aus geostrategischen Gründen mindestens nachvollziehbar angesichts der NATO-Politik: von der absprache-widrigen Osterweiterung bis hin zur versuchten Beendigung der Nutzung des Hafens Sewastopol.
Warum diese erneute massive Zuspitzung?
Zentraler Punkt: Die ukrainische Regierung lehnt aus innenpolitischen Gründen das Minsker Abkommen nach wie vor ab und setzt auf eine militärische Lösung des Konfliktes. Die Verfolgung einer Parlamentsdebatte, die Äußerungen vieler Regierungsvertreter, die Medienberichterstattung und das praktische Handeln der ukrainischen Militärs verdeutlichen dieses fast täglich. Die ukrainische Regierung will zu Gesprächen im Rahmen des Abkommens nicht länger nach Minsk fahren, mit der Begründung der „feindlichen Rhetorik Weißrusslands“ in Bezug auf die Ukraine. Sie weigert sich beharrlich, die Schritte entsprechend der Steinmeier-Formel in der vereinbarten Reihenfolge (Autonomieregelung, regionale Autonomie verankert in einer neuen Verfassung, international überwachte Wahlen und dann Regelung der Grenzkontrollen zwischen Russland und der Ukraine) auch nur in Erwägung zu ziehen, geschweige denn politisch anzugehen. Zu diesem, das Minsk2-Abkommen negierendem Verhalten wird die ukrainische Regierung vom Westen, besonders der USA, aber auch der Bundesregierung – trotz verbalem Bekenntnis zum Abkommen – geradezu ermutigt, entgegen Buchstaben und Geist des vom Westen verbal unterstützten Minsker Abkommens.
Das Telefongespräch zwischen US-Präsident Biden und dem ukrainischen Präsidenten vom 02.04.2021, die Äußerungen des US-Außen- und Verteidigungsministeriums sowie die Aussagen von Außenminister Maas u.a. im Interview in der Tagesschau am 01.04.2021 sind in Kiew als Verstärkung und Zustimmung zu dem aggressiven Kurs aufgefasst worden. Es war zwar keine uneingeschränkte, aber eine vielfältige „Solidarität“.
EU-Europa folgt fast bedingungslos der Konfrontationspolitik der USA und der NATO. Ein aktives Eintreten besonders von Deutschland und Frankreich für die gemeinsam erarbeiteten Ziele von Minsk2 ist nicht zu erkennen, statt dessen eine kampagnenhafte, geradezu primitive Verurteilung Russlands. Vergessen werden darf nicht, dass die USA kein Bestandteil der Vereinbarung von Minsk2 ist und wohl immer noch auf der Position „fuck the EU“ (Nuland) steht. Man kann es auch inner-imperiale Reibereien nennen.
Es ist geradezu wahnwitzig, wenn die NATO und auch die Bundesregierung immer wieder von Angriffsplänen Russlands gegenüber dem Westen sprechen. Allein die Militärausgaben von 1,1 Billionen zu 65 Milliarden Dollar zeigen den Irrsinn einer solchen Behauptung.
Russland befürchtet, dass es durch das Verhalten der Ukraine und der NATO in der Ukraine zu einem Bürgerkrieg kommen wird. Es wird von russischen Militärs und Politikern die Befürchtung formuliert, dass eine Situation wie 1999 in Srebrenica entstehen kann (Pressekonferenz mit Kosak am 31.03.2021). Man muss diese Position nicht teilen, sie zeigt aber Denkstrukturen und Einschätzungen auf, die sicher sehr ernst zu nehmen sind. Auf einer Pressekonferenz am 31.03.2021 erklärte der stellvertretende Chef der russischen Präsidialverwaltung, Dmitri Kosak, dass Russland die Donbass-Bewohnerinnen und -Bewohner im Ernstfall schützen werde.
Vergessen werden sollte auch nicht, dass die Interessenlagen der beiden „Volksrepubliken“ (die auch noch durchaus unterschiedlich sind) und Russlands Politik strategisch und taktisch nicht vollständig übereinstimmen.
Die Gründe für das kriegstreibende Verhalten der NATO und besonders der USA sind:
- Der überaus starke Einfluss rechtsradikaler und faschistischer Kräfte auf die Regierung in der Ukraine. Sie gibt diesen aus innenpolitischen Gründen immer mehr nach und gibt realistischere politische Positionen, die auch nicht wirklich friedlich waren, zugunsten einer Kriegsvorbereitung völlig auf. Frieden auf der Basis von Minsk2 steht nicht auf der Agenda der politischen Eliten der Ukraine, weder der Regierung noch der Opposition, diese versucht Präsident Zelenskyy mit noch aggressiverer Rhetorik vor sich her zu treiben.
- Die Ukraine ist als Staat bankrott und pleite, verarmt und ausgeplündert, völlig von westlichen Geldgebern und dem damit verbundenen Ausverkauf des Landes abhängig. Der Westen und die Geldgeber von IWF und Weltbank fordern weitere neoliberale Reformen ein, die die Bevölkerung weiter massiv sozial belasten und die Landwirtschaft zerstören. Krieg als Systemstabilisierung eines bankrotten Systems ist historisch nicht neu. Eine kleine Minderheit von Oligarchen hat sich hemmungslos bereichert. Die tiefe innenpolitische Krise, die soziale Katastrophe, führt – wie historisch oft – zu außenpolitisch aggressivem, von der Krise ablenkendem Verhalten. Die Menschen sollen nationalistisch in den Krieg taumeln und nicht gegen die eigene soziale Verelendung aufbegehren und die gesamten Eliten „zum Mond“ schicken. Deswegen auch die tägliche Unterdrückung der kleinen Opposition gegen die Politik.
- Die NATO-Konfrontations- und -Diffamierungspolitik gegenüber Russland lässt sich am Beispiel der Ukraine wunderbar weiterführen. Hier ist vom Westen und den Eliten der Ukraine seit 2014 gelogen worden, dass sich alle Balken biegen, hier sind Putsche, faschistische Strukturen und undemokratische Veränderungen unterstützt worden. Ein Feindbild Russland wurde aufgebaut, das sich gut nutzen und ausbauen lässt, um eigene Interessen, Gewinne und Machtpositionen abzusichern. Die Ukraine als multikulturelle Gesellschaft, als pluralistischer Staat, als Brücke zwischen Ost und West wurde bewusst zugunsten einer Einbindung in NATO- und EU-Strukturen zerstört. Das Land wurde ausgeplündert, die sowieso geringe Demokratie ruiniert und die Korruption wuchs ins Gigantische. Das alles kann nur aufrechterhalten werden, wenn es einen „äußeren Feind“ gibt, auf den alle aggressive Rhetorik gelenkt werden kann.
- Es bleibt dabei, was schon Brzezinski und Kissinger immer wieder geschrieben haben: Wer Russland entscheidend schwächen will, muss eine Loslösung und Feindschaft des immer politisch und geistig geteilten Landes Ukraine von Russland aktiv betreiben und erreichen. Hier lässt sich die Schwächung Russlands und seine Einkreisung entscheidend vorantreiben.
- Die immer wieder – entgegen der Charta der NATO – auftauchende und von den USA vorangetriebene Aufnahme der Ukraine in die NATO verstärkt die Konfrontationspolitik, die Zuspitzung der Lage in Europa und behindert eine zivile, diplomatische Lösung des Konflikts.
- Ökonomisch-geostrategisches Interesse: Die Ukraine ist immer noch zentrales Gebiet der Durchleitung russischen Gases und Öls zur Verteilung in ganz Westeuropa.
Bei sicher notwendiger, kritischer Positionierung auch gegenüber der Politik Russlands, die in der Logik militärischer und politischer Abschreckungs- und Reaktionspolitik verharrt – siehe ihre Krimpolitik, die militaristischen Reaktionen auf westliche Provokationen, die oft widersprüchliche und zweifelhafte Unterstützung der Bewegungen in Donbass und Lugansk: Die Verantwortung für die jetzige Situation liegt bei der NATO, besonders den USA, aber auch der Bundesregierung. Die NATO-Politik ist Konfrontationspolitik, die durch die Unterstützung der aggressiven Kreise in der Ukraine kriegerische Auseinandersetzungen mindestens billigend in Kauf nimmt.
Die Dynamik des Konfliktes treibt eindeutig und mit großer Geschwindigkeit zu Krieg (womit ich nicht sagen will, dass in der Region jetzt Frieden herrscht). Ob dieser ein regionales Scharmützel bleibt (das sicher auch ausgesprochen blutig und opferreich sein wird), ist angesichts der Konfrontationspolitik der NATO und der wahrscheinlichen Reaktionen Russlands durchaus unwahrscheinlich. Es droht Krieg in Europa!
Was ist jetzt notwendig:
Die Friedensbewegung ist gefordert, aufzuklären und mit Aktionen für Frieden, Abrüstung in der Region, für Dialog und eine politische Lösung aktiv einzugreifen.
Eine europäische Friedensordnung, die natürlich Russland einbezieht, auf der Basis der Politik der gemeinsamen Sicherheit. Dies ist die Alternative zu Krieg und Konfrontation.
Als ersten Schritt sollte es ein „Zurück zur Diplomatie geben“. Erforderlich wäre angesichts der drohenden Eskalation, dass die Bundesregierung ihre diplomatischen Anstrengungen für eine schnelle Deeskalation verstärkt und einer weiteren Zuspitzung im Verhältnis zwischen NATO und Russland entgegenwirkt. Deutschland darf nicht noch mehr zum zentralen Aufmarschgebiet der NATO (Büchel, Ramstein, Ulm), zur Entwicklung einer Drohkulisse gegen Russland werden. Ein Zurück (oder besser Vorwärts) zur Politik der „gemeinsamen Sicherheit“ ist dringend erforderlich.
Dabei gilt es auch, die Rolle der OSZE zu stärken.
Titelbild: FabrikaSimf / Shutterstock