Hoffnung auf einen linken Politikwechsel – hat die in diesem Wahljahr wirklich noch irgendjemand? Eine rot-rot-grüne Mehrheit auf Bundesebene scheint zur fernen Vision geworden zu sein. Die SPD ist katastrophal schwach – aber ihre verlorenen Stimmen landen nicht mehr bei der LINKEN, die im Vergleich zu ihren Hoch-Zeiten ebenfalls nur noch ein Schatten ihrer selbst ist. Ihr Führungspersonal wirkt gleichwohl befremdlich selbstzufrieden. Welchen Ausweg kann es aus diesem Dilemma geben? Wie kann es doch so etwas wie eine von links geprägte Zukunft geben? Sahra Wagenknecht beantwortet diese Frage mit einem Frontalangriff auf einen Großteil des linken Establishments dieser Republik. In ihrem neuen Buch „Die Selbstgerechten“ wirft sie denen, die heute die Linke präsentieren wollen, nicht weniger vor als einen Seitenwechsel. Den sie nicht zu akzeptieren bereit ist. Von Jonas Christopher Höpken.
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Eingesetzt hat dieser Seitenwechsel für Wagenknecht aber nicht erst in den letzten Jahren, sondern schon vor Jahrzehnten. Als entscheidenden Moment dafür macht sie ausgerechnet das Datum aus, das für einen Großteil des sich als links verstehenden Milieus als positiver Wendepunkt gilt: 1968. Hier begann für Sahra Wagenknecht die linke Entfremdung von der Arbeiterschaft und der Prozess hin zu einer Linken, die sich nicht mehr für die Belange der sozial Benachteiligten, sondern im Gegenteil für die der Gewinnerseite einsetzt. Damit hätten die Verlierer ihre authentische politische Stimme verloren.
In den Fokus nimmt Wagenknecht dabei einen Begriff, der gesellschaftlich überwiegend positiv besetzt ist: den Linksliberalismus, auf den sich die Mehrzahl der sozialdemokratischen und linken Parteien eingelassen und sich damit selbst entkernt habe. Neben dem Neoliberalismus sei der Linksliberalismus die zweite „große Erzählung“ der Gegenwart, die aus der Lebenswelt der akademischen Mittelschicht hervorgegangen sei und den öffentlichen Diskurs bestimme. Spätestens seit der Jahrtausendwende habe der Linksliberalismus den Neoliberalismus als dominierende Erzählung sogar abgelöst. So erfolgreich sei er deshalb, weil er unmittelbar an die Werte und das Lebensgefühl der Großstadtakademiker anknüpfe. Diese profitierten von genau der Entwicklung, die der einstigen Wählerschaft linker Parteien das Leben schwer mache: der Globalisierung, der neoliberalen Ausrichtung der europäischen Integration, der Arbeitsmigration sowie dem wirtschaftsliberalen Umbau.
Die linksliberale Elite, die in den 70er Jahren die ehemalige Arbeiterpartei SPD gekapert habe, sehe diese Entwicklung aus der Perspektive ihrer Profiteure: als vermeintliche Fortschritts- und Emanzipationsgeschichte. Im Mittelpunkt ihres Denkens ständen dabei individualistische und kosmopolitische Werte.
Der Linksliberalismus sei, so betont Wagenknecht, nicht wirklich liberal: Während zum Liberalismus die Toleranz gegenüber Andersdenkenden gehöre, zeichne sich der Linksliberalismus durch äußerste Intoleranz gegenüber allen aus, die seine Sicht der Dinge nicht teilten. Linksliberale Intoleranz und rechte Hassreden seien kommunizierende Röhren. An die Stelle fairer Auseinandersetzungen sei eine Cancel-Kultur getreten. Während der Liberalismus traditionell für rechtliche Gleichheit kämpfe, stehe der Linksliberalismus für Quoten und Diversity, also die ungleiche Behandlung verschiedener Gruppen.
Wagenknecht beschreibt die Bildung einer neuen akademischen Mittelschicht, die durch die wirtschaftsliberale Politik Vorteile habe, sich nach unten abschotte und bei der sich die linksliberale Erzählung als Leitbild durchgesetzt habe. Darunter entstehe in jüngster Zeit eine neue akademische Unterschicht, die von der Entwicklung der letzten Jahre gerade nicht profitiere, sich aber, wie es oft der Fall ist, trotzdem an den Erzählungen und Werten der sozialen Gruppe orientiere, zu der sie eigentlich gehören und in die sie aufsteigen wolle; daher sei der Linksliberalismus auch in diesem Milieu ausgesprochen populär.
Als zentrales Projekt des Linksliberalismus identifiziert Wagenknecht die Identitätspolitik, die sich dadurch auszeichne, nicht die Interessen der im Kapitalismus sozial Benachteiligten, sondern stattdessen die von vermeintlich diskriminierten Minderheiten in den Mittelpunkt ihrer Politik zu stellen, dabei in Wirklichkeit aber den bereits materiell Privilegierten bessere Chancen auf dem Markt zu verschaffen. Tatsächlich sozial Benachteiligte aus diesen Gruppen wie z.B. prekär beschäftigte Frauen oder Einwandererkinder aus ärmeren Verhältnissen würden von dieser Politik gerade nicht profitieren, sondern hätten in der Realität sogar mit verschlechterten materiellen Bedingungen zu kämpfen.
Anstatt sich auf das Thema der Verteilung von Eigentum und ökonomischer Macht zu konzentrieren, lenke die Identitätspolitik die Aufmerksamkeit weg von gesellschaftlichen Strukturen und Besitzverhältnissen und richte sie stattdessen auf individuelle Eigenschaften wie Ethnie, Hautfarbe und sexuelle Orientierung. Indem die Identitätspolitiker die Menschen nach Abstammungsgruppen sowie sexuellen Vorlieben separierten und ein unüberbrückbares Gegeneinander von Minderheiten und Mehrheit konstruierten, brächten sie Menschen gegeneinander auf und zerstörten damit Solidarität und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Damit entzögen die Identitätslinken sozialen Kämpfen um gerechte Entlohnung, sozialstaatliche Absicherung und demokratische Teilhabe das Fundament.
Als perfide beschreibt Wagenknecht, wie der Linksliberalismus durch die Propagierung von Individualismus und Kosmopolitismus neoliberale Politik in eine Erzählung einbette, die sie als Überwindung von nationaler Abschottung und Provinzialismus darstelle. Der Linksliberalismus erfülle damit die Funktion, den globalisierten Kapitalismus progressiv umzudeuten. Genau dies führe zu der ablehnenden Haltung von Nichtakademikern gegenüber der linksliberalen Erzählung, die den Angriff auf ihre sozialen Rechte als progressive Modernisierung beschreibe.
Die Autorin sieht dieses Versagen der Linken, die realen Probleme von sozial Benachteiligten anzuerkennen und ihnen ein attraktives Programm anzubieten, als wichtigste Ursache der politischen Rechtsentwicklung. Anstatt sich selbst als Vertreter der zentralen sozialen Interessen zu verstehen und dadurch stark zu machen, verzwerge sich die Linke und verhindere, dass politische Mehrheiten für einen anderen Zukunftsentwurf entstehen könnten.
Wagenknecht kritisiert die Idealisierung von Migration durch die herrschende linksliberale Erzählung. Zwar lässt sie keinen Zweifel daran, dass Menschen in bestimmten Notsituationen ihre Heimat verlassen müssen und dass diese Anspruch auf einen sicheren Hafen hätten. Aber die Glaubwürdigkeit einer betont moralisierenden Propagierung von Migration durch gut situierte Linksliberale zieht sie in Zweifel, da diese in ihrer sozialen Wirklichkeit davon gar nicht tangiert seien.
Der Schwerpunkt von Wagenknechts Argumentation liegt jedoch in der Identifizierung der Abwerbung von Ärzten und anderen Fachkräften aus ihren Heimatländern mit einer „Subventionierung des Nordens durch den Süden“. Aber vor allem die gezielte Aufnahme billiger migrantischer Arbeitskräfte beschreibt sie als neoliberale Strategie des Lohndumpings und der Schwächung der Arbeitnehmerschaft in Lohnkämpfen.
Wagenknecht thematisiert weitere Problemfelder im Zusammenhang mit der Migration, deren Existenz kaum zu leugnen sind, bei denen aber auch der Rezensent merkt, wie unbehaglich es ist, sie aufzuschreiben: z.B. die Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt oder die Realität von Bezirken mit Schulen, in denen Grundschullehrer oft Klassen unterrichten, „in denen die Mehrheit der Kinder ihre Sprache gar nicht oder kaum versteht. Wer glaubt, dass das kein Problem darstellt, gehört vermutlich zu einer sozialen Schicht, deren Sprösslinge mit solchen Zuständen nie in Berührung kommen.“ Wagenknecht trifft hier einen wunden Punkt: Ich selbst, der Rezensent, bin in einem sehr migrationsfreundlichen Bewusstsein aufgewachsen und möchte das auch nie abstreifen. Eine nichteuropäische Ausländerin als Klassenkameradin habe ich in 13 Schuljahren aber selbst leider nur in einem einzigen Jahr erlebt, nämlich in der siebten Klasse. Danach musste die nette türkische Sadet vom Gymnasium wieder abgehen und vermutlich auf eine Realschule mit höherem Migrantenanteil wechseln. Ein Beispiel von realer Desintegration, die genau Wagenknecht anprangert. Nötig ist nach Wagenknechts Argumentation stattdessen massive Hilfe vor Ort, ein Ende der westlichen Interventionskriege und der Rüstungsexporte, eine andere Handelspolitik, die gezielte kostenlose Ausbildung von Studierenden aus Entwicklungsländern in Deutschland sowie die massive Besserausstattung der UN-Organisationen, die vor Ort helfen.
Wagenknecht belässt es nicht bei dieser Fundamentalkritik der gesellschaftlichen Linken. Im zweiten Teil des Buches stellt sie Eckpunkte eines Zukunftsprogramms vor. Sie betont dabei die Unverzichtbarkeit von sozialem Zusammenhalt. Als Anknüpfungspunkte für eine solche Politik definiert sie gemeinschaftsorientierte Werte, die in der Bevölkerung – gerade auch in der Arbeiterschaft – als identitätsstiftend breit verankert seien, in der linksliberalen Erzählung aber keinen Platz finden: familiärer und (sozial)staatlicher Zusammenhalt, Leistungsorientierung, Hilfsbereitschaft, Ideenreichtum. Die Sozialistin spricht ausdrücklich von „konservativen Werten“, auf denen ein fortschrittlicher und mehrheitstauglicher Zukunftsentwurf aufgebaut werden könne. Zu solch einem von ihr als positiv identifizierten „Wertkonservatismus“ zählten ein faires Miteinander, Zugehörigkeit, Stabilität, Sicherheit und Zusammenhalt. Gerade diese Werte seien nämlich nur durch sozialen Ausgleich und Verteilungsgerechtigkeit zu erreichen.
Ein notwendiger Faktor, auf den Wagenknecht dabei setzt, ist der Nationalstaat, den sie als „das aktuell einzige Instrument zur Einhegung der Märkte, zu sozialem Ausgleich und zur Herauslösung bestimmter Bereiche aus der kommerziellen Logik, das wir zur Verfügung haben“, sieht. Sie widerspricht hier diametral der linksliberalen Erzählung vom Ende des Nationalstaates und dessen nötiger Auflösung in supranationale Strukturen bis hin zu einer Weltregierung.
Wenn Wagenknechts Entwurf so zu verstehen ist, dass sie nicht nur für sich als Einzelperson spricht, sondern für einen breiteren politischen Zusammenhang, wird an dieser Stelle besonders deutlich, dass es sich bei ihrem Buch an wichtigen Stellen auch um eine Selbstkorrektur früherer idealistischer Vorstellungen handelt – war doch die „Überwindung nationalstaatlicher Kategorien“ lange Zeit auch zentraler Topos der sich als moderne Sozialdemokratie verstehenden Strömung um Oskar Lafontaine. Hier führt die Autorin dagegen aus, dass eine Verlagerung von Kompetenzen auf eine supranationale Ebene unter den derzeitigen Bedingungen nur um den Preis massiven Demokratieabbaus stattfinden könne, da mit jedem Verzicht auf nationalstaatliche Souveränität eine Festlegung auf Neoliberalismus und Sozialabbau unausweichlich verbunden sei. So könne eine von links vielfach propagierte europäische Arbeitslosenversicherung „im besten Falle eine Minimalversicherung“ sein.
Statt einer Vertiefung der derzeitigen von Wagenknecht als antidemokratisch und antisozial beschriebenen europäischen Integration plädiert sie für den Umbau der EU zu einer Konföderation souveräner Demokratien, in der gewählte Regierungen über gemeinsame Lösungen verhandeln. Das wichtigste Gremium wäre in einer solchen EU der Europäische Rat, während die EU-Kommission ihre dirigistischen Vollmachten verlöre. Unbeantwortet lässt die Autorin hier allerdings die sich in diesem Zusammenhang aufdrängende Frage des Umgangs mit der Europäischen Währungsunion.
Auf globaler Ebene beschreibt die ehemalige EU-Abgeordnete ihre Vorstellung einer internationalen Sicherheitsarchitektur mit defensiven und nicht-interventionistisch ausgerichteten Verteidigungsbündnissen; ausdrücklich bringt sie hier auch die schon in den 90er Jahren von Oskar Lafontaine propagierte Idee eines gemeinsamen Sicherheitssystems der bisherigen NATO-Länder unter Einschluss Russlands zur Sprache.
Ein weiteres Feld, dem Wagenknecht sich mit konkreten Vorschlägen widmet, ist die Verhinderung wirtschaftlicher Macht, die Demokratie und soziale Rechte untergrabe. Sie plädiert für eine De-Globalisierung von Wirtschafts- und Finanzmärkten. Insbesondere vor der Corona-Krise wurde eine solche Forderung aus linksliberalen Kreisen regelmäßig als nationalistisch gebrandmarkt und damit eine Kritik an der Globalisierung grundsätzlich zu delegitimieren versucht. Die Ökonomin weist auf, dass der vermeintlich freie Welthandel zu 80% innerhalb der Fertigungskette großer multinationaler Konzerne stattfinde, dass Freihandel bei wirtschaftlich schwachen Ländern zu Deindustrialisierung und Verarmung führe und dass Länder, die den Aufstieg vom Entwicklungsland zur Industrienation erfolgreich zu schaffen scheinen wie China, dies nur konnten, indem sie sich den vermeintlich naturgegebenen Globalisierungszwängen entzogen hätten. Die Autorin beschreibt die Ungleichheit und das ökologische Desaster, die eine ungebremste Globalisierung mit sich bringe, und plädiert für ein internationales Regelwerk, das den einzelnen Ländern wieder größere Spielräume zur Gestaltung der eigenen Wirtschaftspolitik geben solle. Als Zielvorstellung entwirft sie das Bild einer „Marktwirtschaft ohne Konzerne“, in der durch ein scharfes Kartellrecht die Zusammenballung wirtschaftlicher Macht verhindert und wirklicher Wettbewerb ermöglicht werden könne.
Wagenknecht identifiziert die gegenwärtige Wirtschaftsordnung als innovationsfaule und leistungsfeindliche Ökonomie, die von Marktmacht und Monopolen statt von offenen Märkten und echtem Wettbewerb geprägt sei. Sie distanziert sich von der linksliberalen Kritik an der Leistungsgesellschaft: Die Kritik an messbaren Leistungskriterien sowie einer leistungsgerechten Verteilung entspräche dem Bemühen der akademischen Mittelschicht, das eigene soziale Milieu nach unten abzuschotten. Hier sieht die Autorin auch den Grund, warum die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens, das die gegenwärtige Eigentumsverteilung zementieren würde, in akademischen Kreisen so viel und in der Arbeiterschaft so wenig Anhänger habe. Den gleichen Zusammenhang sieht sie bei der linken Kritik an Lernanstrengung und schulischem Leistungsdruck, verbunden mit dem Plädoyer für eine Abschaffung von traditionellen Lernmethoden und Noten, was nicht zu mehr Gerechtigkeit, sondern zu einer Vergrößerung herkunftsbedingter Bildungsunterschiede führe, da dadurch die mit viel Geld und elterlichem Engagement geförderten Akademikerkinder klar im Vorteil seien.
Einen erheblichen Schritt über den gegenwärtigen Diskurs hinaus geht Wagenknecht mit ihrem Vorschlag für ein neues Eigentumsrecht, für das sie den Begriff des Leistungseigentums einführt. Ein Unternehmen in Leistungseigentum solle keine externen Eigentümer, sondern einfach Kapitalgeber mit unterschiedlichem Verlustrisiko haben. Dadurch würde sichergestellt, dass vor allem diejenigen, die im Unternehmen wirklich eine Leistung erbrächten, von einer erfolgreichen Unternehmensentwicklung profitierten, nicht mehr externe Kapitalgeber. Die Ausweidung von Unternehmen durch Heuschrecken, der Verkauf und das Vererben von Unternehmen, das externe Aufzwingen sachfremder Kriterien der Unternehmensführung – all dies werde damit unterbunden. Ein bestechender Gedanke, der eine breite öffentliche Debatte verdiente, dessen zeitnahe Realisierung allerdings angesichts der Macht entgegenstehender Interessen auf absehbare Zeit eine Vision bleiben dürfte.
Einen weiteren, ganz neuen Vorschlag macht Wagenknecht in Bezug auf demokratische Entscheidungsprozesse. Sie plädiert für die Schaffung konkreter Institutionen direkter Demokratie und die Einführung einer zweiten Kammer mit Debatten- und Vetorecht, die auf Grundlage von Losverfahren aus Bürgerinnen und Bürgern gebildet werden soll – also ein demokratisches Oberhaus, in dem zufällig ausgewählte Menschen über Politik mitreden und mitentscheiden sollen. Es solle ein verbindliches Vetorecht und die Möglichkeit haben, Änderungsvorschläge und eigene Initiativen einzubringen, die abschließend parlamentarisch abgestimmt und bei wichtigen Fragen der Bevölkerung in einem Referendum vorgelegt würden. Hier handelt es sich sicher um einen interessanten Gedanken, von dem sich der Leser aber gewünscht hätte, dass er noch breiter entfaltet wird. Es stellen sich sehr viele Fragen hinsichtlich der demokratischen Stabilität, der Praktikabilität – vor allem aber auch der Akzeptanz gerade in den Bevölkerungsschichten, auf die Wagenknecht sich besonders beruft.
Ein eigenes Kapitel widmet die Autorin am Schluss ihres Buches der Digitalisierung. Sie plädiert für einen eigenständigen europäischen Weg der Förderung nichtkommerzieller digitaler Plattformen mit öffentlich zugänglicher Software, die individuelle Verhaltensdaten nicht speichern und damit auch nicht mehr missbrauchen könnten. Für alle Unternehmen, die in Europa ihre Dienste anbieten wollen, will Wagenknecht die Speicherung individueller Daten per Gesetz verbieten. Dadurch möchte sie nichtkommerzielle Plattformen, die kein eigenes Geschäftsinteresse verfolgen und keine Gewinne machen müssen, zur Grundlage der Vernetzung der Wirtschaft und der Kommunikation machen. Wenn – was sich nicht bestreiten lässt – die digitale Vernetzung heute auch zur Daseinsvorsorge gehört, kann eine Linke eigentlich kaum anders, als diese Vorschläge ihrer ehemaligen Bundestagsfraktionsvorsitzenden aufzugreifen und breit zu diskutieren. Dem Leser stellt sich freilich die Frage, wer diese Vorschläge realisieren soll, wenn in den linken Parteien derzeit ganz andere Interessen dominieren.
Für jeden, der an einer fortschrittlichen Veränderung der gegenwärtigen sozialen Verhältnisse und der realen Perspektive einer linken politischen Mehrheit interessiert ist, ist dieses atemberaubend zu lesende Buch ein Muss. Aber man sei vorgewarnt: Niemanden, der nicht völlig abgebrüht ist, wird die Lektüre ohne Blessuren zurücklassen – und er wird sich entscheiden wollen, auf welcher Seite er in den künftigen Auseinandersetzungen steht.