Inmitten der Coronavirus-Pandemie mit ausufernden Fallzahlen und Todesfällen, umrandet von einer dramatischen Wirtschafts- und Verarmungskrise, die das Land im letzten Jahr der Administration Lenín Moreno erschüttern, fand am vergangenen Sonntag, dem 11. April, in Ecuador die Stichwahl für das Präsidentenamt statt. Ein Bericht von unserem Südamerika-Korrespondenten Frederico Füllgraf.
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Wie die NachDenkSeiten in ihrer Ausgabe vom 10. Februar berichteten, gewann der progressive Kandidat Andrés Arauz zwar die erste Wahlrunde mit 32,72 Prozent, doch fehlten ihm weitere 7,3 Prozent, um mit 40 Prozent und einem zehnprozentigen Vorsprung gegenüber dem Zweitplatzierten als Präsident in der ersten Wahlrunde bestätigt zu werden. Folglich musste er sich einer Stichwahl stellen. Die NachDenkSeiten berichteten damals, als zweiter und dritter Rivale rangierten hinter Arauz der Indigenen-Führer Yaku Pérez und der Bankier Guillermo Lasso mit jeweils 20,04 Prozent und 19,97 Prozent. Ende Februar stand das komplette offizielle Endergebnis fest: Nach einer Stimmen-Neuauszählung positionierte Lasso sich bei 19,74 Prozent, aber Pérez sackte auf 19,39 Prozent ab und war von der Stichwahl ausgeschlossen.
Arauz als Zielscheibe der Fake-News-Dreckschleuder und der US-Intervention
Dass es für Arauz kein Zuckerschlecken sein würde, stand fest. Dass er jedoch die Stichwahl gegen den erzkonservativen Bankier Guillermo Lasso mit 46,6:53,3 Prozent der Stimmen verlieren würde, überraschte allerdings. Skeptische Beobachter in Politik und Medien hatten längst vor jedem Triumphalismus, insbesondere vor der Naivität gegenüber einem potenziellen bösen Spiel der ecuadorianischen Rechten gewarnt. Und so kam es.
Arauz traf eine doppelte, medial befeuerte Diffamierungs-Kampagne. Zum einen mit der durch keinen Beweis belegten Anschuldigung, sein Wahlkampf sei von der kolumbianischen Narco-Guerilla ELN mitfinanziert worden. Zum anderen intervenierte die US-Regierung John Biden zwischen 1. Wahlrunde und Stichwahl mit einer zynisch anmutenden „Prämie“ – dem „State Department´s International Anticorruption Champions Award“ – für die ecuadorianische Staatsanwältin Diana Salazar, die über die angeblichen Verbindungen zwischen dem ehemaligen Präsidenten und Gönner Arauz‘, Rafael Correa, und der ELN ermittelt. Die Auszeichnung ist eine Initiative des neuen US-Außenministers und George-Soros-Verbündeten Antony Blinken, der sich auf Twitter stolz zur Fortsetzung des weltweit von den USA angefeuerten Lawfare bekannte.
Als drittes Manöver traf Arauz die von Lasso et al. politisch umstellte und unterwanderte Wahlbehörde CNE, die von einem bisher anonym gebliebenen Funktionär der Vorbereitung einer mit ausgefeiltesten Tricks programmierten Wahlfälschung verdächtigt wird. Im Vorfeld der Stichwahl, so der Informant gegenüber der argentinischen Tageszeitung Pagina12, sollen beispielsweise 600.000 gefälschte Wahlzettel landesweit in die Wahlbüros eingeschleust worden sein, die im Fall eines Stimmenvorsprungs von Arauz in die Stimmzählungs-Computer zugunsten Lassos eingespeist würden. Lasso wird jedenfalls als offizieller Wahlsieger gefeiert, ob die Stimmzählung redlich war, steht allerdings auf einem anderen Blatt.
Szenenwechsel zum Handlungsort Peru
Im ebenfalls krisengeschüttelten Nachbarland Peru fanden ebenfalls am 11. April Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt, deren technischer Ausgang längst ein offenes Geheimnis war. Nämlich auch eine Stichwahl, die für den kommenden 6. Juni 2021 angesetzt ist. Nicht weniger verblüffend rangierte dort nach der ersten Hochrechnung von 20,36 Prozent der Wahlzettel der sich zum „Kommunismus“ bekennende linke Lehrer und Gewerkschaftsführer Pedro Castillo von der Wahlliste Peru Libre/Freies Peru mit 16,1 Prozent der Stimmen auf Platz 1.
Als Herausforderer entpuppte sich Hernando de Soto (Wahlliste Avanza País/Land Vorwärts: 11,9 Prozent), ein ultraliberaler Ökonom, der in der Vergangenheit dem blutigen Regime Alberto Fujimoris, aber auch als Berater Ronald Reagans und Bill Clintons diente. Mit minimalen Prozentsätzen von beiden abgehängt wurde mindestens ein weiteres Dutzend Kandidatinnen und Kandidaten von Splitterparteien, darunter vor allem Keiko Fujimori (11,9 Prozent), Yonhy Lescano (11,0 Prozent), Rafael López Aliaga (10,5 Prozent) und die linke Sozialdemokratin und populäre Abgeordnete Verónika Mendoza von der Wahlliste Juntos Por el Perú/Zusammen für Peru, die eigentlich anstelle Castillos als Favoritin galt, jedoch auf 8,8 Prozent der Stimmen absackte. Mendoza erfuhr scharfe Angriffe unter der Gürtellinie von Castillo, der nicht nur frauenfeindliche Parolen verbreitete, sondern mit dem Ziel, ihr Rang und Stimmen abzuwerben, Mendoza des „Falschspiels und des Opportunismus“ beschuldigte.
Fragen sich die Leserinnen und Leser, wie ist es möglich, dass zwei progressive Wahllisten oder Parteien, die zusammen mindestens 25 Prozent der Wähler hinter sich haben, nicht nur kein gemeinsames Bündnis eingehen, sondern sich obendrein auf niedrigstem Niveau und zum Gaudi der bürgerlichen Medien beschimpfen? Die spalterische Haltung des „Macho“ Castillo, der in seinem Wahlkampf keinen einzigen Programmpunkt den Rechten der Frauen (mehr als 50 Prozent der 32,5 Millionen Einwohner/Volkszählung 2019), geschweige denn der sexuellen Minderheiten widmete, ist jedoch kein Einzelfall. Als Folge des Fujimori-Regimes, das Peru von 1990 bis 2000 zehn Jahre lang beherrschte und dreißig Jahre vor Jair Bolsonaro die faschistoide Doktrin der „Anti-Politik“ verbreitete, lief Peru dem Nachbarland Chile nicht nur den Rang des radikalen wirtschaftlichen und (a)sozialen Neoliberalismus ab, sondern verdammte die Politik zur hanebüchenen Fragmentierung; dergestalt, dass die nationale Wahlbehörde (ONPE) bis zum März 2021 mindestens 24 politische Parteien für die Präsidentschaftswahl zuließ.
Peru, darin sind sich verschiedene Politikwissenschaftler und seriöse Beobachter einig, erlebt seit Jahrzehnten nicht etwa eine „Parteienkrise“, sondern nach der Zerschlagung von Politik und des Entwicklungs-Nationalismus der 1970er Jahre eine einwandfreie politische Repräsentationskrise, die die Bevölkerung in den Verdruss trieb. Die neugegründeten Parteien dienen den meisten Politikern als schiere Mietadressen ohne ernstzunehmendes Programm, die öfter gewechselt werden als Hemd oder Hose; ein Zustand, der das institutionelle System in enorme Unvorhersehbarkeit stürzt, befindet Milagros Campos, Politikwissenschaftlerin und Juristin an der Pontificia Universidad Católica del Perú (PUCP).
Ecuador und der Clash zwischen zwei Gesellschaftsmodellen
„Was für Arauz in der ersten Runde als klarer Sieg und für Lasso als Niederlage erschien, hat sich in diesen Wochen in einem politischen Kontext der Frustration und der Ablehnung des Status Quo durch die Wähler geändert“, erklärte Sebastián Hurtado, Geschäftsführer der Beratungsfirma Profitas auf Anfragen von Journalisten. Die Frustration spitzte sich zu in der Forderung nach etwas Neuem. Dies war der Trend, der die Kandidatur Yako Pérez‘ und des Linken Xavier Hervas befeuerte, der in der ersten Runde des 7. Februar als Vierter abschnitt. „Wir haben geglaubt, dass diese Stimmen Arauz zugutekommen würden, weil sie eine Veränderung darstellen. Aber in der zweiten Runde hat Lasso die Opposition seines Rivalen gekonnt dekonstruiert und dessen politische Redlichkeit zertrümmert“, erzählt Hurtado.
Lassos Mantra sind die Klassiker der Politik des sogenannten „freien Marktes“ und der minimalen Eingriffe in die Wirtschaft durch den Staat. Der wegen den Panama-Papers mehrfach angeklagte Ex-CEO von Coca Cola und Bankier zeigte wenig Programm, umso mehr den Hang zu Privatisierungen für die Erhöhung der Erdölförderung, die Hauptdevisenquelle des Landes. Arauz wiederum plädierte für eine stärkere staatliche Intervention und versprach einer Million armen Frauen als Familienoberhäuptern eine Beihilfe in Höhe von 1.000 Dollar. Lasso, so liest es sich, setzte auf eine zweite Auflage seiner Konfrontation von 2017, als er die Wahl gegen Rafael Correa verlor, dessen Schützling Andrés Arauz er jedoch als Reinkarnation von „Autoritarismus und Korruption“ brandmarkte und als „Matrix des Correismus“ beschimpfte. Dass er von einem Teil der indigenen Bevölkerung gewählt wurde, die rund 10 Prozent der zugelassenen Wähler ausmacht, scheint trotz der mehrheitlichen Stimmabgabe für Arauz ohne Zweifel und ist nicht nur in Ecuador zu bedauern.
Ab dem 24. Mai übernimmt Guillermo Lasso das Kommando über die 17,4-Millionen-Seelen- Republik, in der im Jahr 2020 das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der dollarisierten Wirtschaft um 7,8 Prozent sank und die In- und Auslandsverschuldung auf bedrohliche 63 Prozent des BIP anstieg. Lasso wird auch keine Parlaments-Mehrheit besitzen und sich auf harte Verhandlungen bei seiner sozialen und wirtschaftlichen Agenda einstellen müssen. Es bleibt abzuwarten, mit welchen Tricks der Bankier die Opposition auszuschalten versucht. Tut er derer zu viel, hat er wie Vorgänger Lenin Moreno bald neue Massenproteste am Hals.
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