„Generation beleidigt“ – treffender kann man die jüngeren Generationen, die eine „linke“ Identitätspolitik auf ihre Fahnen geschrieben haben, nicht charakterisieren. Die Französin Caroline Fourest betitelt ihr Buch zur Identitätspolitik so. Der Untertitel lautet: „Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei. Über den wachsenden Einfluss linker Identitärer. Eine Kritik“. Udo Brandes hat das Buch für die NachDenkSeiten gelesen und stellt es vor.
Caroline Fourest ist eine französische Intellektuelle. Sie arbeitet als Journalistin, Autorin und Filmemacherin unter anderem für Charlie Hebdo, als Kolumnistin für Zeitungen und lehrt am Sciences Po (das ist das „Institut für politische Studien in Paris“; das Institut genießt in Frankreich ein sehr hohes Ansehen und gilt als Eliteeinrichtung). Im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten hat sie sich viel mit dem Thema Identitätspolitik beschäftigt. Sie gehört selbst einer Minderheit an (sie ist lesbisch) und hat sich politisch gegen die Diskriminierung von Homosexuellen engagiert bzw. für deren Gleichberechtigung gekämpft. Sie beschreibt das so:
„Ich habe das Recht zu lieben gegen homophobe Beschimpfungen behaupten müssen, die ich meine Kindheit und Jugend lang zu hören bekam. Meine ersten Schlachten schlug ich gegen Sexismus, Homophobie und Rassismus. Als Vorsitzende des Centre gay et lesbien habe ich für den Stammvater der ‚Ehe für alle‘ gekämpft. Um ihn zu verteidigen ließ ich mich von irgendwelchen Schergen unter dem Ruf ‚dreckige Lesbe‘ verprügeln. Der Kampf für die Gleichheit hat mich geprägt, doch dem für die Freiheit bleibe ich innigst verbunden. Wegen meiner Arbeit als Regisseurin und Journalistin, frühere Mitarbeiterin von Charlie Hebdo, fürchte ich um die Freiheit, schöpferisch tätig zu sein, zu denken, zu zeichnen und zu spotten. Sämtliche Facetten meiner Identität haben meiner Analyse des Gleichgewichts genährt, das es in Sachen Redefreiheit und Gleichheit zu finden gilt“ (S. 10).
Man kann also wahrlich nicht behaupten, dass die Autorin gegenüber Minderheiten und ihrem Engagement voreingenommen wäre. Das Gegenteil ist der Fall, wie in ihrem Buch auch immer wieder deutlich wird. Sie sagt es auch selbst noch einmal ausdrücklich:
„Es geht nicht darum, die guten alten Zeiten zu bedauern, in denen man sich an Homosexuellen, Schwarzen oder Juden auslassen durfte; noch darum, denjenigen Rückendeckung zu geben, die das Verlangen nach Gleichheit mit einer phantasierten ‚Tyrannei der Minderheiten‘ verwechseln“ (S.10).
„Ohne einen Aufschrei wird ihr kultureller Sieg vollständig sein“
Fourests Buch beschäftigt sich vor allem mit der Praxis der Identitätspolitik in Frankreich, den USA und Kanada. Trotzdem ist es auch für deutsche Leser interessant. Zum einen, weil in Deutschland die Verhältnisse ähnlich sind und auch hier immer wieder Cancel Culture und Zensurversuche bzw. totalitäre Machtansprüche von Minderheiten an der Tagesordnung sind. Zum anderen werden die im Buch beschriebenen hysterischen identitätspolitischen Exzesse, sofern sie hier noch nicht derartig schlimm ausgeprägt sein sollten, über kurz oder lang garantiert auch in Deutschland zu beobachten sein. Für Frankreich diagnostiziert Fourest Folgendes:
„Frankreich hält sich noch ziemlich gut. Doch gehen auch in diesem Land bereits Gruppen von Studenten gegen Ausstellungen und Theaterstücke vor, um deren Aufführung zu unterbinden oder einen Redner, der ihnen missfällt, am Reden zu hindern. Manchmal zerreißen sie auch seine Bücher. Autodafés, die an das Schlimmste erinnern. Diese Kulturpolizei geht von keinem autoritären Staat aus, sondern von der Gesellschaft und insbesondere einer Jugend, die ‚aufgeweckt‘ sein will, weil ultraempfindlich gegen jedwede Ungerechtigkeit. Was großartig wäre, wenn sie dabei nicht auf Unterstellungen und inquisitorische Methoden verfiele. Die Millenials gehören weitgehend einer identitären Linken an, die den wesentlichen Teil der antirassistischen Bewegungen und der LGBTI-Szene beherrscht und sogar den Feminismus spaltet. Ohne einen Aufschrei wird ihr kultureller Sieg vollständig sein“ (S. 8-9).
Diese Diagnose könnte man im Wesentlichen auch auf Deutschland übertragen. Lediglich in einem Punkt liegt Fourest meiner Meinung nach falsch: Diese identitäre Bewegung besteht nicht aus „den“ Millenials, sondern aus Millenials, die entweder den Minderheiten entstammen oder aus gut situierten bürgerlichen Schichten kommen – und meistens in Städten leben. Millenials aus der Arbeiterschicht und dem Kleinbürgertum, die vielleicht auch noch auf dem Land aufgewachsen sind, sind meiner Erfahrung nach nicht oder nur selten Anhänger der Identitätspolitik.
Dürfen zukünftig nur noch Alkoholiker einen Alkoholiker spielen?
Im Kapitel „Castings auf der Grundlage von DNA-Tests“ (Castings = Besetzungen von Rollen) beschreibt Fourest wunderbar und mit bitterem Spot die Absurditäten, die inzwischen in der amerikanischen Filmindustrie Einzug gehalten haben:
„Häufig werden Verleumdungskampagnen von Organisatoren initiiert, die den betreffenden Film nie gesehen haben. Begründet wird die Ablehnung dann ausschließlich mit der DNA derjenigen, die im Film mitspielen oder ihn gedreht haben. Selbst dem so begabten Spike Lee, dem wohl berühmtesten afroamerikanischen Regisseur, warf man vor, dass er einen Film über Gewalt in Chicago drehte, wo er doch aus Brooklyn kommt. Das Politibüro begnügt sich nun nicht mehr damit, anhand der ‚Rasse‘ zu urteilen, es geht jetzt auch um die Meldeadresse und die Nachbarschaft. Man kann die Schauspielerinnen und Schauspieler, die auf eine Rolle verzichten mussten, weil sie für nicht schwarz genug befunden wurden, schon gar nicht mehr zählen“ (S. 87-88).
Auch die berühmte Hollywoodschauspielerin Scarlet Johansson traf es. Sie verzichtete aufgrund des öffentlichen Drucks von Transgender-Aktivisten darauf, Dante Gill, einen transsexuellen Zuhälter in den siebziger Jahren, zu spielen. Fourest fragt zu recht, warum eine große Hollywood-Schauspielerin davon abgehalten wird, eine Rolle zu spielen, die dazu beiträgt, Vorurteile abzubauen. Der Film würde ohne Scarlet Johansson schwieriger in die Kinos zu bringen sein und geringere Mittel haben – und ein geringeres Publikumsecho bekommen. Einige Zeilen vorher benennt sie eine Motivation, die ihre Frage zumindest teilweise beantwortet:
„Solche Anschuldigungen werden bisweilen von Schauspielerinnen erhoben, die selbst die Rolle nicht bekommen haben. In diesem Falle (gemeint ist der Film über den transsexuellen Zuhälter; UB) kamen die Aufschreie von Tracy Lysette (die in ‚Transparent‘ mitspielt) und von Jamie Clayton, also von zwei Schauspielerinnen, die es hassen, auf die Rolle von Transsexuellen reduziert zu werden, und dennoch diesen Anspruch erheben, wenn es darum geht, eine Konkurrentin zu kritisieren“ (S. 88).
Wenn man die Forderungen identitätspolitischer Aktivisten konsequent umsetzen würde, dann würde dies letztlich bedeuten, dass der Beruf des Schauspielers ad absurdum geführt würde, weil nur noch ein echter Alkoholiker einen Alkoholiker spielen dürfte, echte Mörder einen Mörder im Film. Ober eben nur noch Heterosexuelle einen Heterosexuellen:
„Man muss auch die Kehrseite der Medaille sehen: Wenn diese Regeln im Film durchgesetzt werden, dann dürfen Schauspieler, die einer Minderheit angehören, auch nur noch Angehörige von Minderheiten darstellen und keine anderen Rollen mehr spielen“ (S. 89).
Genau dagegen wehrt sich Fourest:
„Als Filmemacherin möchte ich Filme für die kommenden Generationen machen. Ich käme jedoch nie auf die Idee, einer heterosexuellen Frau zu verbieten, eine Lesbe zu spielen, wenn sie es glaubwürdig und gut macht. Ganz im Gegenteil, es beweist, dass unsere Kämpfe Erfolge zeitigen und die Barrieren allmählich verschwinden“ (S. 84).
Diese Beispiele allerdings sind noch vergleichsweise harmlos gegen das, was im Kapitel „Der Alptraum von Evergreen“ von Fourest geschildert wird. Evergreen ist eine sehr linke Universität im Bundesstaat Washington. Was dort geschah, erinnert mich an sozialpsychologische Experimente, die gezeigt haben, wie Menschen plötzlich zu gefährlichen Sadisten werden, wenn sie plötzlich Macht ausüben können.
Als der Universitätspräsident während einer Auseinandersetzung mit Studenten, bei der die Studenten hochaggressiv waren, auf einen Studenten zeigte, rastete, so Fourest, die Menge aus:
„’Das macht man nicht, du Hurensohn! Nimm deine Hand runter, George!‘ Eine schwarze Studentin näherte sich ihm auf eine bedrohliche Art. Der Universitätspräsident senkte seine Hand und versteckte sie hinter seinem Rücken. Sklavisch entschuldigte er sich bei ihnen für noch die geringste Bewegung: ‚Ich gebe mir Mühe‘. Die Studenten lachten ihn dafür aus. Erfreut darüber, die neuen Herren zu sein, führten sie sich auf wie Sklavenhalter. Studenten war es gelungen, sich antirassistische Professoren zu unterwerfen. Eine Umkehrung, die sie sichtlich genossen“ (S. 124).
Diese Vorfälle, so Fourest, seien nicht einfach so vom Himmel gefallen. Der Universitätspräsident habe nur geerntet, was er selbst gesät habe. George Summer Bridges, so sein Name, habe die Studenten nämlich darin bestärkt, sich so aufführen zu dürfen:
„Beseelt von guten antirassistischen Ansichten, zwang er Anfang des Jahres sein Lehrpersonal, sich öffentlich auf einer Bühne mit ihrer ‚Rasse’ vorzustellen, ihre Privilegien einzugestehen und sich für diese zu entschuldigen. (…) Ihre Stimmen zitterten. Und nicht nur derjenigen, die gezwungen worden waren, sich als ‚weiß, heterosexuell und cis-gender’ vorzustellen. Lesbische Lehrerinnen, Frauen, die oftmals die ersten ihrer Klasse waren, die eine Universität besuchten, mussten ihren Blick senken und sich für privilegiert erklären!“ (S. 124).
Quelle für diese Beschreibungen sind offenbar Filmaufnahmen. Hier hätte ich mir gewünscht, dass Fourest die Quelle exakter angegeben hätte, wie sie es ansonsten in ihrem Buch auch getan hat.
Resümee
Selbst wenn man sich mit dem Thema „Politische Korrektheit“ bzw. „Identitätspolitik“ schon länger kritisch beschäftigt und auch einiges dazu gelesen hat: Das Buch von Caroline Fourest kann einen mit der Fülle seiner Beispiele an unglaublichen Absurditäten auch dann noch vom Hocker hauen (z. B. wenn selbst das Praktizieren von Yoga von kanadischen Aktivisten als „kulturelle Aneignung“ gebrandmarkt wird). Wenn man ihr Buch gelesen hat, dann ist einem klar, dass die identitätspolitischen Aktivisten eine echte Gefahr für die Demokratie und unserer aller Freiheit sind. Diese Aktivisten, die sich selbst links verorten, stellen totalitäre Machtansprüche und sind genauso gefährlich für die Demokratie wie Rechtsextremisten. Wir sollten solchen scheinheiligen Tugendwächtern nicht das Feld überlassen, sondern uns gegen deren ebenso infantil-narzisstischen wie totalitären Machtansprüche zur Wehr setzen. Deshalb möchte ich allen Lesern das Buch von Caroline Fourest ganz besonders ans Herz legen. Die Lektüre lohnt sich.
Caroline Fourest: Generation beleidigt, Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei, Über den wachsenden Einfluss linker Identitärer, Eine Kritik, Edition TIAMAT, Berlin 2020, 143 Seiten, 18 Euro.