Im Moment kann aufgeatmet werden bei der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschist*nnen, kurz VVN-BdA, nachdem die aberkannte Gemeinnützigkeit wieder gewährt wurde. Ein sicheres Zeichen für Entwarnung ist das nicht, denn das strukturelle Problem bleibt. Von Sabine Schiffer.
Alles begann mit Edward Bernays, dem Neffen von Sigmund Freud, der in den USA der 1930er Jahre einer der führenden Köpfe der Public Relations werden sollte. Aber bevor wir uns dem widmen können, noch ein Wort oder zwei zum VVN-BdA.
Allein das Engagement der Ehrenvorsitzenden Esther Bejarano, die ihr Leben lang als Holocaust-Überlebende gegen Faschismus gekämpft hat und dies im Alter von 95 Jahren fortsetzt, bezeugt die Ernsthaftigkeit des Anliegens. Die Notwendigkeit dürfte angesichts der neuesten Entwicklung einer Normalisierung faschistischer politischer Positionen auf der politischen Bühne, im öffentlichen Diskurs und in Form von Mord- und Terroranschlägen nicht in Frage stehen – wobei wir weiter unten sehen werden, dass diese Normalisierung gar nicht so neu ist.
Antifaschismus als Grundkonsens schien offiziell lange etabliert und anerkannt zu sein. War das ein Trugschluss? Oder sah nur ein vermeintlich „gallisches Dorf“ – Bayern – das anders und vermerkt deshalb diesen antifaschistischen Verein in seinem Verfassungsschutzbericht? Während dem VVN eine Nähe zum „linksextremistischen“ Milieu vorgeworfen wird, drängt sich natürlich die Frage auf, warum nach Jahren freundlichen „Übersehens“ des rechtsextremen NSU-Netzwerks der Inlandsgeheimdienst Verfassungsschutz immer noch als Diskursgewicht in diesen Dingen ernstgenommen wird. Soweit, so strukturell.
Interessant ist nun aber zunächst, was sich in der Behörde hinter dem Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit verbirgt, und dann kommen wir auch schon zu Freuds Neffen in den USA, Edward Bernays.
Im Bayerischen Verfassungsschutzbericht 2018 heißt es ausführlich:
„Die VVN-BdA ist die bundesweit größte linksextremistisch beeinflusste Organisation im Bereich des Antifaschismus. Sie arbeitet mit offen linksextremistischen Kräften zusammen. In der VVN-BdA wird nach wie vor ein kommunistisch orientierter Antifaschismus verfolgt. Diese Form des Antifaschismus dient nicht nur dem Kampf gegen den Rechtsextremismus. Vielmehr werden alle nicht marxistischen Systeme – also auch die parlamentarische Demokratie – als potenziell faschistisch, zumindest aber als eine Vorstufe zum Faschismus betrachtet, die es zu bekämpfen gilt.“
(12.05.2019)
Ist eine solche Organisation demokratiefeindlich, weil sie angeblich oder tatsächlich kapitalismuskritisch, also irgendwie „linksextremistisch“ ist? Welche Bedeutung verbirgt sich hinter dem Konstrukt, dass Antifaschismus ohne Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem einhergehen könnte? Kein Geringerer als Max Horkheimer stünde also heute im Verfassungsschutzbericht Bayerns, denn er äußerte: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen!“
Und welcher Zusammenhang soll darin bestehen, dass Kritik am Wirtschaftssystem antidemokratisch sei? Angesichts von Lobbyinterventionen großer Konzerne, als Stiftungen getarnte Think Tanks global agierender Großunternehmen und damit verbandelter korrupter Politiker, die allem anderen als der Demokratie verpflichtet sind, muss diese Engführung genauer unter die Lupe genommen werden. Das genannte Konglomerat mitsamt Banken und Finanzspritzen zum Aufrechterhalten einer nicht funktionierenden Wirtschaft und einer zunehmenden Handlungsunfähigkeit von Politik im Frame wirtschaftlichen Prosperierenmüssens, das – wie die Fridays for Future erinnern – ins globale Wüstenklima führt, ist für Demokratien ungeeignet. Wer in diesem System, das auf Wachstumszwang basiert, ein Primat von demokratischer Meinungs- und Mehrheitsbildung sowie politischer Umsetzung behauptet, ist entweder naiv oder bewusst manipulativ.
Nicht, dass die Corona-Einschränkungen nicht gezeigt hätten, dass die Politik anders (entscheiden) kann, wenn sie will, auch mit den Lockerungen drängen die Rufe der Wirtschaft nach Förderung alter Strukturen schon wieder laut durch.
Im Text des bayerischen Geheimdienstes Verfassungsschutz schwingt ein weit verbreiteter Subtext mit, der dringend ausgesprochen werden muss: Kapitalismuskritik sei demokratiefeindlich, oder umgekehrt: Demokratie und Kapitalismus seien vereinbar, ja gehörten nachgerade zusammen. Woher kommt diese Idee, die keiner Wirtschaftstheorie standhält? Eine Schnapsidee, die im Gegenteil längst als absurd überführt wurde – und inzwischen auch von führenden Ökonomen, wie Joseph Stiglitz, hinterfragt wird.
Werbung für den Konsum
Auch vor dem Wirken des Kommunikations-Genies Edward Bernays gab es die Behauptung eines Zusammenhangs bzw. des gegenseitigen Bedingens von Demokratie und Kapitalismus, aber ohne ihn dürfte er sich nicht so erfolgreich durchgesetzt haben. Edward Bernays etabliert auf der Grundlage der Massenpsychologie seines Onkels Sigmund Freud die moderne Public Relations in den USA, u.a. manifestiert in seinen Büchern „Engieneering Consent“ von 1923 und „Propaganda“ von 1928.
Zunächst ist er darin erfolgreich, den Konsum anzutriggern, weil es ihm gelingt, die Werbebotschaften weg vom „need“, also Bedarf, hin zum „desire“, also Verlangen, zu entwickeln. Wünsche sind unerschöpflich, Verlangen kann künstlich kreiert werden und so auch das Wirtschaftswachstum, dachten er und seine Auftraggeber. Mit der großen Depression 1929 und den damit einhergehenden sozialen Verwerfungen kam die Armut und als Gegenmaßnahme ein politisch-korrigierender Eingriff in Form einer Wirtschaftsreform zurück, welche Präsident Franklin D. Roosevelt als „New Deal“ bezeichnete.
Schließlich gelang es jedoch Bernays im Sinne seiner Auftraggeber – Unternehmen und Banken – die Idee von Demokratie und freier Meinung mit der von freien Märkten erneut und nachhaltig zu verknüpfen. Dies gelang mittels sinn-induktiver Diskursstrategien, die Fortschritt und ökonomische Prosperität mit Freiheit und Demokratie verschränkten, im Vorfeld und während der großen Weltausstellung in New York Ende der 1930er Jahre. Seine futuristische Vision einer technologisch-innovativen und in Wohlstand blühenden USA nannte er nicht zufällig „Democracity.“ So kam am Ende die besagte und weithin unhinterfragte Verknüpfung zustande, die angesichts der Probleme von heute nurmehr als kurios anmuten kann: Demokratie brauche freie Märkte und freie Unternehmen, letztere seien quasi der Garant für Freiheit und eben Demokratie. Die Beschwörung „freier Märkte“, die es schon richten werden, und die nicht zuletzt in der Gesundheits- und Klimakrise resultieren, klingen einem im Ohr – wenn der Desire vor dem Bedarf steht, ist Ressourcen-Verschwendung eingepreist. Die Verfassungszusätze in den USA belegen bis heute, dass Freiheitsrechte vor allem anti-staatlich gedacht waren und andere Gefahren – etwa Einflussnahmen globaler Konzerne – übersehen werden.
Kleine Anekdote am Rande: Die „fliegenden“ Transportmittel bei der Weltausstellung 1939 mögen an die Flugtaxi-Phantasie der computerspiel-inspirierten Dorothee Bär der CSU erinnern. Man könnte lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Übrigens auch damals zählte General Motors zu den großen Sponsoren politischer Einflussnahme. Nach dem Historiker George Kennan, der die sogenannte Containment-Politik gegen die UdSSR propagierte, sollte schließlich auch Edward Bernays dazu beitragen, Präsident Eisenhower davon zu überzeugen, dass dieser gezielt Angst vor dem Kommunismus schüren solle – dies würde das Konsumverhalten der Amerikaner im Sinne wirtschaftlicher Prosperität (mitsamt der Aufrüstung als Wirtschaftsmotor) und somit seiner Wiederwahl ankurbeln.
Die Verwerfungen des entfesselten Kapitalismus sind heute überall zu sehen, bis dahin, dass wir die Welt(-Ressourcen) dreimal täglich verbrauchen. Das wird so nicht weitergehen, VVN, Attac & Co. hin oder her. Und da braucht man sich auch nicht der Unterstellung hingeben, dass damit automatisch ein Staatssozialismus als Alternative gemeint sei. Ein Konzept, das ein Wirtschaften auf Basis des Needs/Bedarfs und nicht des Wachtstumszwangs (mitsamt seiner eingebauten kriegerischen Zusammenbrüche) ermöglicht, gilt es noch zu erfinden.
Demokratie und Kapitalismus
Interessant ist allein, dass die politisch Verantwortlichen dieses unhaltbare Konstrukt einer Art naturgegebenen Zusammengehörigkeit von Demokratie und Kapitalismus immer noch verteidigen und deren Entlarver – nur in dieser Logik verständlich – als „Verfassungsfeinde“ brandmarken. Im unausgesprochenen Umkehrschluss würden die Wirtschaftskritiker, wozu heute Prominente wie Thomas Piketty oder Naomi Klein zählen, also angeblich und automatisch Demokratie meinen und angreifen? Diese Unterstellung scheint weit gefehlt. Im Gegenteil sogar, denn zur Demokratie gehören Wirtschaftskritik, Medienkritik, Politikkritik als freie Meinungsäußerungen.
Jedoch genau diese unterstellende subjektive und interessengeleitete Zuweisung passiert dem VVN-BdA in besagtem Verfassungsschutzbericht, dass nämlich – Antifaschismus hin oder her – keine Kritik am Wirtschaftssystem geübt werden darf. Dem widerspricht zwar das Grundgesetz, das ja sogar Verstaatlichungsmöglichkeiten im Sinne des Gemeinwohls vorsieht, aber das kann nicht einmal als das Kernanliegen der VVN ausgemacht werden. Offensichtlich sind jedoch die damit verbundenen irrationalen Ängste so groß, dass gar eine Kooperation mit oder Nähe zu einer winzigen Organisation, die das Wort „kommunistisch“ im Namen führt (DKP), bereits ausreicht, um als demokratie- „und“ verfassungsfeindlich eingestuft zu werden. Da mag man darüber hinwegsehen, dass Kommunisten zu den ersten Verfolgten unter den Nazis zählten.
Dies hat nun Folgen auf Bundesebene nach der neuen Abgabenverordnung von 2019, die der Sozialdemokrat und Finanzminister Olaf Scholz geprägt hat. Dort heißt es ganz klar, dass eine als extremistisch eingestufte Organisation nicht gemeinnützig sein kann. Das klingt plausibel, allerdings bleibt ungeklärt und subjektiv, warum alle Verfassungsschutzämter und der Bundesverfassungsschutz die VVN nicht als extremistisch einstuften, der bayerische hingegen als einziger doch – so dass das Finanzamt Berlin allein auf bayerischer Basis dem Bundesverband der VVN die Gemeinnützigkeit aberkannte.
Olaf Scholz und die SPD irritieren in finanzpolitischen Entscheidungsfindungen immer wieder – nicht zuletzt mit dem ausgehöhlten Vorschlag für den Überrest einer Finanztransaktionssteuer. Vielleicht kann man gar zu dem Schluss kommen, dass die SPD sich in derlei Gefilden noch nie besonders links positioniert habe – was man nicht zuletzt an der Einführung der Agenda 2010 sehe – aber dies allein auf das Konto der sog. Sozialdemokratie zu verbuchen, wäre verfehlt. Dass allerdings die Sozialdemokratie stets die Angst vor Links mittrug und in Persona Friedrich Ebert die Gefahr des Faschismus unterschätzte, ist historischer und mahnender Fakt.
Wieso kann angesichts der historischen Erfahrungen in Deutschland also heute immer noch die Angst vor Linksextremismus die vor Rechtsextremismus übertreffen?
Wenn die Politik die Wissenschaft aushebelt
Ja, Sie liegen richtig, wenn Sie jetzt an die sogenannte Extremismustheorie denken. Eckhard Jesse von der TU Chemnitz und Uwe Backes vom Hannah-Arendt-Institut der TU Dresden propagieren sie. Ihre ominöse, wissenschaftlich vielfach verworfene These wirkt – auch hierhinein. Aber warum? Wie kann es sein, dass eine wissenschaftlich marginalisierte Position in der angewandten Politik so raumgreifend wirkt?
Die sogenannte Extremismusformel mutet so schön überschaubar an und ist den Verfechtern äußerst sympathisch, suggerieren doch zwei Pole von Extremismen am Rand einer Gesellschaft – die sich am Ende noch hufeisenförmig quasi die Hand zu geben scheinen –, dass die gesellschaftliche Mitte frei von faschistischen Tendenzen sei. Diese Theorie schaffte es aber nicht in die breite Debatte, weil sie so genial ist, sondern weil die interessierte Politik ganz massives Interesse daran hatte und hat – und alles dafür tat, dass sie reüssierte. Mit ihr ist es möglich, auch in Zeiten von Stagnation und Wirtschaftskrisen jede Kritik am Kapitalismus als verfassungsfeindlich abzutun.
Zur Fragestellung kann die Politik Wissenschaftler versammeln, um den Forschungsstand in der Sache zu ermitteln. Oder aber, man versammelt sie, um aus dem Pool diejenigen herauszupicken, die das untermauern, was man politisch will. Das geschieht in vielen Bereichen und nicht jeder Hofierte mag das Kronzeugen-Spiel durchschauen, dennoch enthebt das gerade nicht die Wissenschaft von ihrer Verantwortung.
Im konkreten Fall der Theoriestützung von Jesse und Backes sieht das ungefähr so aus: Ein „Jahrbuch Extremismus & Demokratie“ wurde aus der Taufe gehoben und mit Finanzmitteln versorgt, so dass es mitsamt seiner Theorie als ernstzunehmende Grundlage zunächst von der Wissenschaft erörtert und rezensiert wurde (ausführlicher dazu hier). Aber selbst das hätte noch nicht genügt, um die Theorie als Fundament der Arbeit der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) auszubauen und schließlich für die Arbeit der Verfassungsschutzämter nutzbar zu machen – die desaströsen Folgen der Gleichsetzung von Links und Rechts und der damit einhergehenden Verharmlosung rechten Gedankenguts sind in Nürnberg, Köln, Halle, Kassel und Hanau offenbar.
Ganz abgesehen davon, dass das besagte Jahrbuch zu nicht unerheblichen Teilen von den Doktoranden Jesses befüllt wurde, sorgten einschlägig bekannte Akteure für den zweifelhaften Erfolg der ominösen Theorie. Gestandene Rechtsaußen in bundesbildungspolitischer Verantwortung, wie in der Vergangenheit Hans-Helmuth Knütter und Günter Reichert, konnten so vermeintlich legitimiert ihre Verharmlosung rechtsextremer Gesinnung und Geschichtsklitterung in der Öffentlichkeit vertreten und mittels dieses Ansatzes in ihren Ämtern gar fördern. Seither ist es zum wiedererkennbaren Ritual geworden, bei Verbrechen von rechts auf die Gefahr eines Linksextremismus zu verweisen und damit den Rechtsextremismus zu relativieren. In dieser Tradition steht in neuerer Zeit auch der ehemalige Präsident des Verfassungsschutzes, Hans-Georg Maaßen, dessen rechtsradikale Gesinnung schon vor und während seiner Amtszeit durchschien und nicht unwesentlich für das Schicksal des Bremers Murat Kurnaz verantwortlich zeichnet – was Letzterem ohne deutschem Pass fünf Jahre in Guantanamo einbrachte.
Extremismusformel im Ministeramt
Maaßens Brüder im Geiste hatten das Terrain geebnet – in der Bundeszentrale für politische Bildung (Reichert), im Bundesinnenministerium (Knütter) und schließlich dem zugeordneten Bundesverfassungsschutz. In dieser Logik langer Kontinuität handelte auch die kurzzeitige Familienministerin Kristina Schröder, die im Dunstkreis der genannten Professoren ihren Doktortitel erworben hatte und schließlich mit ihrer einfachgestrickten Demokratieklausel die Geldmittel für den Kampf gegen Rechts einschränkte und auf den Kampf gegen Links umlenkte. Hier schließt sich der Kreis des phantasierten Hufeisens.
Das Zusammenspiel rechter Akteure auf verschiedensten Ebenen politischer Verantwortung zeigt auf, wie hochgradig durchsetzt bestimmte einflussreiche Strukturen wirklich noch sind und welche diese wiederum alimentieren. Ob ein „rechts-braun-versifftes“ Milieu in diesen einflussreichen politischen Kreisen die Diskursmacht erklären kann, die das ritualisierte Schwadronieren von einem „links-grün-versifften“ Mainstream ermöglicht, wäre zu überprüfen.
Klar ist jedoch, dass es ohne die hier nur angedeuteten Seilschaften heute sicher eindeutiger wäre, dass sich die kritische Betrachtung des Zusammenhangs von Kapitalismus und Faschismus lohnt und zwingend erforderlich ist – aus historischer, gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Verantwortung. Horkheimer nämlich behielt recht, noch bevor der (aus der Industrie gesponserte) Aufstieg der Nazis und ihre folgenden Verbrechen die Richtigkeit seiner Aussage bewiesen.
Titelbild: VVN-BdA via Facebook