Die gesamten Corona-Maßnahmen von Bund, Ländern und Kommunen stehen und fallen mit dem Inzidenzwert. Liegt er unter einem Schwellenwert, darf gelockert werden, übersteigt er einen anderen Schwellenwert, muss die „Notbremse“ gezogen werden. Dabei wird nicht mehr hinterfragt, was dieser Inzidenzwert eigentlich aussagt. Das ist fahrlässig und töricht, da diese Größe willkürlich und nicht geeignet ist, um mit ihr derart schwere Eingriffe in die Gesellschaft zu rechtfertigen. Von Jens Berger
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Als Corona vor einem Jahr noch ein neues Thema war, begründeten Politik und Epidemiologie die Maßnahmen damit, man müsse das Gesundheitssystem vor dem drohenden Kollaps retten. „Flatten the curve“, hieß damals das politische Mantra. Die Schreckensszenarien der Politik-Berater Drosten („Mehr als eine Million zusätzliche Intensivpatienten“) und Meyer-Herrmann („Hunderttausende Intensivpatienten innerhalb weniger Monate“) traten jedoch nicht ein. Bis heute drohte dem Gesundheitssystem zu keinem Moment auch nur annähernd der Kollaps.
Die Politik schaltete um. Fortan hieß das Motto „Der Hammer und der Tanz“ – ein Modell, das übrigens auf einen IT-Blogger zurückgeht. Es wurde viel gehämmert und wenig getanzt und nachdem die Kapazitäten des Gesundheitssystems kein Thema mehr waren, mussten neue „Indikatoren“ her. Geboren war der sogenannte R-Wert, der nichts anderes als das Wachstum der Infiziertenzahlen – bemessen an den positiven durchgeführten PCR-Tests – aussagt. Spätestens im Sommer war jedoch auch dieser Indikator unbrauchbar, da bei einem niedrigen Infektionsgeschehen schon lokale Cluster wie der in der Fleischfabrik von Tönnies den R-Wert förmlich explodieren lassen. Und warum sollte man eine Schule in Garmisch schließen, wenn sich in Gütersloh die Mitarbeiter einer Fleischfabrik infizieren?
Wann genau der Begriff „Inzidenzwert“ in die politische Debatte Einzug hielt, lässt sich heute schwer sagen. Der erste Treffer im Archiv des SPIEGELs ist ein Beitrag vom 17. September, in dem es damals um die Frage ging, ob die Bundesliga ihre Spiele vor Zuschauern austragen könne. Die Maßnahmen von Bund und Ländern wurden erstmals im November mit diesem Wert begründet. Und wie wir heute wissen, war dies der Beginn des aktuellen Dauerlockdowns, der fortan an ebendiesen Wert gekoppelt sein sollte.
Doch was ist eigentlich der „Inzidenzwert“? Die Erklärung ist eigentlich sehr einfach. Dieser Wert beschreibt, wie viele Menschen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung in einem bestimmten Zeitraum positiv mittels der PCR-Methode auf das Sars-Cov2-Virus getestet wurden. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Der Inzidenzwert gibt keine Auskunft darüber …
- Wie viele Menschen erkrankt sind
- Wie viele Menschen aus der Risikogruppe sich infiziert haben
- Ob sich verglichen mit einem anderen Zeitraum mehr oder weniger Menschen infiziert haben
Der Inzidenzwert ist nicht geeignet, um …
- Aussagen zum Infektionsgeschehen zu machen
- Aussagen zum Krankheitsgeschehen zu machen
- Das Infektions- oder Krankheitsgeschehen räumlich zu vergleichen
- Das Infektions- oder Krankheitsgeschehen zeitlich zu vergleichen
Diese Aussagen werden für viele Leser überraschend sein und verlangen daher nach einer Erklärung.
Anders als beispielsweise die Positivquote der PCR-Tests sagt der reine Inzidenzwert nichts darüber aus, wie sich die relative Zahl der Infektionen entwickelt. Das Hauptproblem des Inzidenzwerts ist, dass eine wichtige Variable bei der gesamten Bestimmung keine Rolle spielt: Und zwar die der Zahl der Tests. Dazu ein kleines Rechenbeispiel.
In den Städten Villarriba und Villabajo leben jeweils 10.000 Menschen, von denen 10 in der zu betrachtenden Zeitperiode mit dem Sars-Cov2-Virus infiziert sind und bei einem PCR-Test ein positives Ergebnis haben würden. Der Bürgermeister von Villarriba entscheidet sich, mit einer Testoffensive 50% der Bewohner zu testen. Sein Amtskollege in Villabajo hält nicht viel von Massentests und lässt nur 10% der Bevölkerung testen. Nach Adam Riese werden in Villarriba bei den Tests gemäß der Wahrscheinlichkeitsrechnung fünf Bewohner positiv getestet. Das Dorf hat fünf positive Fälle auf 10.000 Bewohner, was – wenn der betrachtete Zeitraum eine Woche beträgt – einer Inzidenz von 50 entspräche. Läge Villarriba in Deutschland, müssten sich die Bewohner wohl auf einen harten Lockdown einstellen.
Und wie sieht es nebenan in Villabajo aus? Da man dort weniger testet, kommt man auch nur – im statistischen Mittel – auf einen positiven Test, was umgerechnet einer Inzidenz von 10 entspräche. Während Villarriba das öffentliche Leben herunterfahren muss, feiert man in Villabajo bereits wieder. Und das, obwohl beide Dörfer in unserem Beispiel exakt das gleiche Infektionsgeschehen haben!
Dieses Beispiel zeigt bereits, dass der Inzidenzwert als Bemessungsgrundlage für Lockdownmaßnahmen völlig ungeeignet ist. Lassen Sie es mich zuspitzen: Wenn ein Bürgermeister oder Landrat den Inzidenzwert drücken will, so gäbe es dafür ein ganz einfaches Instrument: Weniger testen. Denn der Inzidenzwert korreliert zwar mit der Zahl der Infizierten, wenn die Zahl der Tests konstant ist. Er korreliert aber auch mit der Zahl der Tests, wenn die Zahl der Infizierten konstant ist.
In den letzten Wochen ist der Inzidenzwert sogar noch unbrauchbarer geworden, als er es ohnehin schon ist. Grund dafür sind die mittlerweile weit verbreiteten Schnelltests. Diese gehen nämlich – anders als die PCR-Tests – nicht in die Berechnung des Inzidenzwertes ein. Das wäre nicht weiter tragisch. Problematisch ist jedoch, dass die allermeisten positiven Schnelltests indirekt dann doch wieder in die Berechnung eingehen. Grund dafür ist, dass Menschen, bei denen der Schnelltest positiv ausfällt, aufgefordert werden, dieses positive Ergebnis mit einem PCR-Test zu bestätigen. In der Statistik würde man in diesem Fall davon sprechen, dass die Stichprobe sich verändert. Zwar sind die Schnelltests alles andere als zuverlässig, aber man kann natürlich davon ausgehen, dass dennoch die meisten Schnelltest-Testpositiven auch PCR-positiv sind. Das ist alles durchaus löblich, wenn es darum geht, möglichst viele Infizierte zu erkennen, so dass sie freiwillig oder durch Zwang ihre Kontakte stark herunterfahren und weniger Menschen anstecken. Da durch dieses Verfahren jedoch die Positivquote und damit die Treffsicherheit der Tests steigt, steigt naturgemäß auch die Inzidenz. Auch hier gilt: Je mehr und je zielgenauer wir testen, desto höher die Inzidenz – unabhängig vom Infektionsgeschehen.
Und genau das scheint zurzeit der Fall zu sein. Vor allem durch die Verbreitung von Schnelltests in Kindergärten und Schulen rückt dabei eine Gruppe ins Visier der Testungen, die vorher dort kaum auftauchte – Kinder und Jugendliche. In diesen Altersgruppen verläuft die Infektion in den allermeisten Fällen symptomfrei oder sehr milde, wurde bislang überhaupt nicht erkannt und konnte so auch nicht in die offiziellen Zahlen eingehen. Wenn wir von der Dunkelziffer der Infizierten sprechen, so geht es dabei in erheblichem Maße um Kinder und Jugendliche. Nun wird aber mittels der Schnelltests auch hier vorselektiert. Wer in Kindergarten oder Schule mit einem Schnelltest positiv getestet wurde, wird mittels eines PCR-Tests nachgetestet, und wenn auch dieser Test positiv ausfällt – was meist ja der Fall ist – geht auch dies in den Inzidenzwert ein und treibt ihn weiter nach oben. Rein formal ist dieses Verfahren ja korrekt; die Aussagekraft für die Lockdown-Frage bleibt jedoch im Dunkeln.
Daher ist eine steigende Inzidenz per se weder schlecht noch gut. Sie kann auf ein gestiegenes Infektionsgeschehen hindeuten. Sie kann aber auch darauf hindeuten, dass mehr und besser – also zielgenauer – getestet wird. Als Indikator für die Frage, ob der Lockdown beendet, beibehalten oder gar verschärft wird, taugt sie jedoch überhaupt nicht. Denn warum sollte die Bevölkerung dafür bestraft werden, dass zielgenauer getestet wird?
Wenn es um die harten Folgen der Lockdown-Politik, die massiven Kollateralschäden und die schweren Eingriffe in die Grundrechte der Bevölkerung geht, kann man nicht mit derlei vagen und unzuverlässigen sowie nicht aussagekräftigen Werten arbeiten. Die einzigen Größen, die hier – mit viel Zugeständnis an die Lockdown-Fraktion – überhaupt in Frage kämen, sind die Zahl der Toten und die Kapazitäten des Gesundheitssystems. Und genau diese beiden Größen geben zurzeit keine Begründung für eine Beibehaltung oder gar Verschärfung der Lockdown-Maßnahmen.
Die Zahl der Todesfälle ist – trotz Planungsdesaster bei der Impfkampagne – seit den letzten Wochen merklich zurückgegangen …
… und die Zahl der belegten Intensivbetten ist ohnehin seit geraumer Zeit konstant.
Außerordentliche Bedrohungen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Aber die aktuellen harten Daten lassen den Schluss nicht zu, dass die Bedrohung durch Corona so außergewöhnlich ist, als dass man damit derart schwere und verheerende Eingriffe in unsere Gesellschaft und unser Leben rechtfertigen könnte.
Titelbild: Lucky Business/shutterstock.com