In drei bahnbrechenden Texten formuliert der Pulitzer-Preisträger Walter Lippmann Anfang des 20. Jahrhunderts eine elementare Kritik an den Medien als Bedrohung für die Demokratie und als Gefahr für den Wert der Freiheit im Allgemeinen. Lippmann entwickelt seine zentrale These: Freiheit und Wahrheit sind unverzichtbar miteinander verbunden. Zudem prangert er die Neigung der Medien und der Journalisten an, die Wahrheit zu verzerren, indem sie ihre eigene Agenda und ihre eigenen Ziele fördern, anstatt den wahrheitsgemäßen Austausch von Fakten und den freien Fluss von Ideen zu ermöglichen. Die drei Aufsätze sind nun unter dem Titel „Die Illusion der Wahrheit oder die Erfindung der Fake News“ exklusiv in der „edition buchkomplizen“ neu aufgelegt worden, mit einem einordnenden Vorwort von Walter Ötsch und Silja Graupe. Die NachDenkSeiten präsentieren einen Auszug, der zeigt, wie erschreckend aktuell, oder anders gesagt visionär die Texte Lippmanns sind.
Lesen Sie zu diesem Buch bitte auch das zweiteilige Interview, das Florian Rötzer für die Buchkomplizen mit dem Ökonomen Walter Ötsch geführt hat (Teil 1 und Teil 2) .
Die erste Ausgabe der ersten amerikanischen Zeitung – sie hieß Publick Occurrences – wurde am 25. September 1690 in Boston veröffentlicht. Die zweite Ausgabe erschien schon nicht mehr, weil der Gouverneur und der Rat dies verhinderten. Sie befanden, dass Benjamin Harris, der Herausgeber, überaus »hochgesteckte Überlegungen« gedruckt hatte.[1] Tatsächlich scheinen einige seiner Überlegungen bis auf den heutigen Tag sehr hochkarätig zu sein. In seiner Broschüre hatte er geschrieben: »Dass man etwas tun möge, um den vorherrschenden Geist der Lüge zu heilen oder doch zumindest zu bannen. Darum soll unter Rückgriff auf die besten verfügbaren Informationsquellen nur das berücksichtigt werden, wovon wir Grund zu der Annahme haben, dass es wahr ist. Und wenn sich in den dargelegten Informationen irgendein sachlicher Fehler herausstellt, dann wird er in der nächsten Ausgabe korrigiert. Des Weiteren ist der Herausgeber der Publick Occurrences bereit, sich in Anbetracht zahlreicher Falschmeldungen – die in böswilliger Absicht gemacht und in Umlauf gebracht werden – für Folgendes einzusetzen: Dass jeder von einer rechtschaffenen Person aufgespürte Urheber einer solchen Falschmeldung in dieser Zeitung (außer, es wird ein gegenteiliger Hinweis gegeben) als böswilliger Initiator der Falschmeldung bloßgestellt wird. Es wird davon ausgegangen, dass dieser Vorschlag niemandem missfallen wird; außer vielleicht denen, die durchaus beabsichtigen, sich eines derart schäbigen Verbrechens schuldig zu machen.«
Heute sind sich die Menschen durchgehend im Klaren darüber, dass sie sich auf die eine oder andere Weise mit Fragen beschäftigen müssen, die komplizierter sind als alle Fragen, für deren Bearbeitung die Kirche oder die Schule sie vorbereitet hat. In zunehmendem Maße begreifen sie, dass ihr Verständnis bald an seine Grenzen stößt, wenn die relevanten Fakten nicht schnell und zuverlässig verfügbar sind. Sie sehen sich angesichts dessen zunehmend ratlos; und sie fragen sich, ob ein auf Zustimmung angewiesenes Regierungshandeln in einer Zeit Bestand haben kann, in der die Herstellung von Zustimmung[2] eine unregulierte private Unternehmung ist. Denn in einem ganz konkreten Sinne ist die gegenwärtige Krise der westlichen Demokratie eine Krise des Journalismus.
Ich stimme nicht mit denen überein, die meinen, dass Korruption der einzige Grund ist. Gewiss gibt es reichlich Korruption: geldgesteuerte Kontrolle, Kastendisziplin, finanzielle und soziale Bestechung, Seilschaften, Dinnerpartys, Clubs, politisches Geplänkel. Die mit russischen Rubeln handelnden Spekulanten, die an der Pariser Börse über die Einnahme von Petrograd gelogen haben, sind nicht das einzige Beispiel ihres Schlages.[3] Trotz alledem erklärt die Korruption nicht den Zustand, in dem sich der moderne Journalismus befindet.
Kürzlich schrieb Franklin P. Adams: »In der sogenannten freien Presse finden sich heute viele Belanglosigkeiten – und eine schier unglaubliche Dummheit und Unwissenheit; aber es sind dies Trivialitäten und dergleichen, die dem Menschengeschlecht nun einmal inhärent sind – Trivialitäten, wie man sie bei Musikern, Installateuren, Vermietern, Dichtern und Kellnern antrifft. Und wenn Miss Lowell [welche die übliche aristokratische Beschwerde vorgetragen hatte] von dem unverbesserlichen Wunsch aller amerikanischen Zeitungen spricht, sich bei jeder Gelegenheit über jede nur erdenkliche Sache zu jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit lustig zu machen, dann sind wir uns wieder uneinig. In amerikanischen Zeitungen gibt es den unverbesserlichen Wunsch, die Dinge sehr viel ernster zu nehmen, als sie es verdienen. Liest Miss Lowell die gewichtigeren Nachrichten aus Washington? Liest sie die Nachrichten aus der Gesellschaft? Man kann sich fragen, ob sie überhaupt Zeitungen liest.«
Mister Adams liest sie zweifellos. Und wenn er schreibt, dass die Zeitungen die Dinge viel ernster nehmen, als sie es verdienen, dann kann man das wohl so sagen. Insbesondere seit dem Krieg sind Redakteure überwiegend zu der Überzeugung gelangt, dass ihre höchste Pflicht nicht darin besteht, zu berichten, sondern zu belehren; nicht darin, Nachrichten zu drucken, sondern die Zivilisation zu retten; nicht das zu veröffentlichen, was Benjamin Harris »den Zustand der öffentlichen Angelegenheiten im In- und Ausland« nennt, sondern die Nation auf Kurs zu halten. Nach Art der englischen Könige haben sie sich selbst zu Verteidigern des Glaubens erkoren. »Seit fünf Jahren«, so Mister Cobb von der New York World, »gibt es in der Welt keinen freien öffentlichen Meinungsbildungsprozess. In Anbetracht der unerbittlichen Zwänge des Krieges haben die Regierungen die öffentliche Meinung kassiert. […] Sie lassen sie im Gleichschritt marschieren. Sie haben ihr beigebracht, stramm zu stehen und zu salutieren. […] Manchmal hat es den Anschein, dass Millionen von Amerikanern nach der Unterzeichnung des Waffenstillstands ein Gelübde abgelegt haben müssen, wonach sie nie wieder selbstständig denken würden. Sie waren bereit, für ihr Land zu sterben, nicht aber, für ihr Land zu denken.« Jene Minderheit, die stolz darauf ist, dafür zu denken – und die nicht nur bereit, sondern auch todsicher ist, dass sie allein weiß, wie sie für das Land zu denken hat –, hat die Theorie übernommen, dass die Öffentlichkeit erfahren sollte, was gut dafür ist.
Auf diese Weise hat man die Arbeit von Journalisten mit der Tätigkeit von Predigern, Erweckungstheologen, Propheten und Agitatoren durcheinandergebracht. Die aktuelle Theorie des amerikanischen Zeitungswesens besagt, dass eine Abstraktion wie die Wahrheit und eine Zierde wie die Fairness zu opfern sind, wann immer jemand meint, dass die Erfordernisse der Zivilisation dieses Opfer einfordern. Auf Erzbischof Whatelys Diktum, dass es eine große Rolle spielt, ob man die Wahrheit an die erste Stelle setzt oder an die zweite, würde ein überzeugter Verfechter des modernen Journalismus antworten, dass er die Wahrheit hinter das stellt, was er als das nationale Interesse ansieht. Gemessen an ihren Äußerungen glauben Männer wie Mister Ochs oder Viscount Northcliffe, dass ihre jeweiligen Nationen zugrunde gehen werden und die Zivilisation dem Untergang geweiht ist – außer man befriedigt natürlich die Neugierde der Leserschaft mit der Vorstellung von Patriotismus, die diesen Herren vorschwebt. […]
So besteht die gefährlichste Form der Unwahrheit in den Spitzfindigkeiten und der Propaganda derjenigen, die von Berufs wegen eigentlich für gute Berichterstattung sorgen sollten. Die Zeitungsspalten sind öffentliche Informationsträger. Wenn diejenigen, die sie kontrollieren, sich das Recht herausnehmen, zu bestimmen, was zu welchem Zweck berichtet werden soll, dann kommt der demokratische Prozess zum Erliegen. Die öffentliche Meinungsbildung wird blockiert. Denn wenn die Bevölkerung nicht länger vertrauensvoll auf die »besten Informationsquellen« zurückgreifen kann, dann geraten jedermanns Vermutungen und Gerüchte, Hoffnungen und Marotten zur Grundlage des Regierungshandelns. Die schärfste Kritik an der Demokratie bewahrheitet sich, wenn es keine stetige Versorgung mit vertrauenswürdigen und relevanten Nachrichten gibt. […]
Staatsmänner mögen politische Strategien entwerfen; aber sie werden in einem Fiasko enden – was vielen kürzlich erst widerfahren ist –, wenn die Propagandisten und Zensoren einen bemalten Wandschirm dort aufstellen können, wo es ein offenes Fenster zur Welt geben sollte. Nur wenige Vorfälle in der jüngeren Geschichte sind schmerzlicher als derjenige des britischen Premierministers, der am Frühstückstisch über der Morgenzeitung sitzt und protestiert, dass er mit Blick auf Russland nicht das Gebotene tun kann, weil ein mächtiger Zeitungsbesitzer die Öffentlichkeit unter Drogen gesetzt hat. Dieser Vorgang ist ein Sinnbild für die enorme Gefahr, mit der sich die Volksregierung konfrontiert sieht und mit der alle weiteren Gefahren zusammenhängen. Denn die Nachrichten sind die Hauptquelle für die Meinung, von der sich die Regierung nun einmal leiten lässt. Solange zwischen dem Durchschnittsbürger und den Tatsachen eine Nachrichtenorganisation steht – die nach gänzlich privaten, ungeprüften und wie auch immer erhabenen Maßstäben festlegt, was wir wissen und somit glauben sollen –, wird niemand behaupten können, dass das Wesen der demokratischen Regierung gesichert ist. Dem Wesen unserer Verfassung nach, so Richter Holmes, ist die Wahrheit die einzige Grundlage, auf der die Wünsche der Menschen auf sichere Weise erfüllt werden können.[4] Insofern nun diejenigen, welche die Nachrichten überbringen, ihre eigenen Überzeugungen zu einem Gesetz machen, das höher steht als die Wahrheit, greifen sie die Grundlagen unseres Verfassungssystems an. Im Journalismus kann es kein höheres Gesetz geben, als auf Teufel komm raus die Wahrheit zu sagen.
Lesetipp: Walter Lippmann, „Die Illusion von Wahrheit oder die Erfindung der Fake News“ , 80 Seiten, edition buchkomplizen, 1.3.2021
[«1] History of American Journalism«, James Melvin Lee, Houghton Mifflin Co., 1917, S. 10.
[«2] Englisch: »The manufacture of consent«. Diese Phrase wird dann in Die Öffentliche Meinung wiederholt. Edmund Bernays hat in Crystallizing Public Opinion (1923) das Argument umgedreht und die (technokratisch gemeinte) »Herstellung von Zustimmung« als eine positive Notwendigkeit von PR-Experten (wie Bernays selbst) umgedeutet. Noam Chomskys bekanntes Buch aus dem Jahr 1988 verwendet den Ausdruck wieder in einer kritischen Bedeutung.
[«3] Petrograd war von 1914 bis 1924 der Name des heutigen Sankt Petersburg.
[«4] Supreme Court of the United States, Nr. 316, Oktober 1919, Jacob Abrams et al., Kläger, die gegen die Entscheidung einer Vorinstanz Berufung einlegen, vs. die Vereinigten Staaten.