Anfang dieser Woche wurde im Londoner House of Commons ein neues, 300-seitiges Polizeigesetz für Großbritannien diskutiert und in einer Abstimmung angenommen. Nun muss es noch dem Oberhaus (House of Lords) vorgelegt werden. Das Gesetz enthält viele Vorgaben über Mindeststrafen für Gewaltkriminalität und Kindesmissbrauch, aber die Passagen, die am meisten diskutiert wurden, waren Verschärfungen des Demonstrationsrechts und, vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse, der Schutz von Frauen vor Kriminalität. Die Opposition gegen diese Teile des Gesetzes kam von linken Oppositionellen, aber auch von konservativen Hinterbänklern. Ein Bericht von Moritz Müller.
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Die konservative Tory-Partei hatte die Wahlen im Dezember 2019 auch mit dem Versprechen gewonnen, mit härterer Hand gegen Kriminalität vorzugehen. Große Teile des Police, Crime, Sentencing and Courts Bill 2021 sind tatsächlich „echter“ Kriminalität gewidmet, und über diese Absätze herrscht wohl zum großen Teil auch Einigkeit in der britischen Gesellschaft.
Interessanterweise widmet sich die Webseite des Innenministeriums, welche das Gesetz dem Laien schmackhaft machen soll, sofort den Passagen über das Demonstrationsrecht, und als Erstes wird die Londoner Polizeipräsidentin (Metropolitan Police Commissioner) Cressida Dick mit den Worten zitiert:
„Seit dem ersten großen Protest der Extinction Rebellion im April letzten Jahres (2019, Anm. MM) spreche ich öffentlich und mit der Regierung über das Potenzial für eine Änderung der Befugnisse und der Gesetzgebung, die es der Polizei ermöglichen würde, besser mit Protesten im Allgemeinen umzugehen, da das Gesetz, nach dem wir arbeiten – der Public Order Act – nun sehr alt ist, (von) 1986. […]
Aber speziell, um mit Protesten umzugehen, bei denen sich die Leute nicht in erster Linie gewalttätig oder ernsthaft ordnungswidrig verhalten, sondern, wie in diesem Fall, die erklärte Absicht hatten, die Polizei in die Knie zu zwingen und die Stadt zum Stillstand zu bringen, und bereit waren, die Methoden, von denen wir alle wissen, dass sie es taten, um das zu erreichen, anzuwenden.“
Abgesehen davon, dass diese Sätze nicht nur in der Übersetzung, sondern auch im englischen Original etwas verschwurbelt sind, ist es erstaunlich, wie freimütig hier beschrieben wird, dass ziviler Ungehorsam unterdrückt werden soll.
Man kann und muss über Extinction Rebellion (XR) und vor allem, gegen wen deren Blockaden angewendet werden, geteilter Meinung sein. Bei einem Seminar in London, in dem wir XR diskutierten, fragte ein Teilnehmer zu Recht, warum XR denn den ÖPNV blockiere und nicht Tankstellen.
Dass aber gewaltfreier ziviler Ungehorsam eines der letzten Mittel ist, die uns als Untertanen noch geblieben sind, wird hier von der Polizeichefin nicht registriert bzw. sie stellt ihren Auftrag als absolut dar. Interessant ist auch, dass sie sagt, XR versuche die Stadt London zum Stillstand zu bringen, während sie mit der ihr unterstellten Polizei die Corona-Politik der Regierung unterstützt, die weite Teile des öffentlichen Lebens des letzten Jahres zum Stillstand gebracht hat.
So geschehen zum Beispiel am letzten Samstag, als eine Mahnwache und Trauerveranstaltung für die Anfang März verschwundene und später ermordet aufgefundene Sarah Everard mit Verweis auf Hygieneregeln mit roher Polizeigewalt aufgelöst wurde. Die hauptsächlich männlichen Polizisten trampelten dabei durch die aufgestellten Kerzen und Blumen und schubsten und rissen die hauptsächlich weiblichen Teilnehmerinnen unsanft durch die Gegend. In Anbetracht der Tatsache, dass der mutmaßliche Mörder selber ein Londoner Polizist ist, war der Polizeieinsatz am letzten Samstag und die Art, wie er vonstattenging, nicht sehr diplomatisch. Weite Teile der britischen Bevölkerung hatten auch vorher schon Zweifel, ob die Polizei wirklich noch ihr Freund und Helfer ist.
Die Polizeichefin Cressida Dick sagte später, dass sie auch gern auf die Mahnwache gegangen wäre, bei der es auch um die Sicherheit von Frauen ging, aber leider habe diese Veranstaltung gegen geltende Gesetze verstoßen. Man kennt diese Berufung auf zu dem Zeitpunkt gültige Gesetze. In Anbetracht der Tatsache, dass die britische Regierung angekündigt hat, dass in zwei Wochen auch politische Demonstrationen wieder erlaubt sein sollen, hätte man bei der Auflösung einer Mahnwache, und wie man das macht, auch etwas Ermessensspielraum walten lassen können. Im gleichen Statement vermied Cressida Dick es auch, das Verhalten ihrer Beamten zu beanstanden oder zu bedauern.
Aber das Einräumen von Fehlern scheint nicht ihre Stärke zu sein, wie man auch aus ihrer Reaktion auf den Einsatz, bei dem der unschuldige Brasilianer Jean Charles de Menezes durch Kopfschuss exekutionsartig getötet wurde, schließen kann. Bei dieser Aktion im Juli 2005 war sie die verantwortliche Einsatzleiterin. Und obwohl sie den Tod von Menezes bedauerte, weist sie bis heute jegliche Schuld von sich. Das hat wohl auch damit zu tun, dass ein Schuldeingeständnis persönliche Konsequenzen und finanzielle Entschädigungen nach sich ziehen würde.
Es gibt auch Stimmen, die behaupten, der Tod von Sarah Everard sei von interessierter Seite ausgenutzt worden, um von anderen Themen abzulenken, aber auch diese Theorie kann eine Ablenkung in sich sein. Dass die britische Grünen-Politikerin Jenny Jones eine Ausgangssperre nach 18:30 Uhr für Männer fordert, sehe ich eher als überspitzte Reaktion auf den Ratschlag einiger hoher britischer Polizeioffiziere, Frauen sollten abends halt zuhause bleiben, wenn sie um ihre Sicherheit fürchten. Wahrscheinlich sind die Straßen Londons durch den Lockdown auch nicht unbedingt sicherer geworden oder es fühlt sich zumindest so an, wenn abends fast niemand auf der Straße ist.
Auf jeden Fall hat der Polizeieinsatz vom Samstag dazu geführt, dass es am Sonntag in London eine Demonstration gegen das neue Polizeigesetz gab und dass das neue Gesetz jetzt wenigstens von manchen Teilen der Gesellschaft kritisch beäugt wird. Auch in Deutschland sehen manche das neue Gesetz sehr kritisch.
In dem Gesetz gibt es einige Paragraphen, die man sehr weit oder sehr eng auslegen kann. Es soll vorgeschriebene Zeiten geben, wann eine Demonstration zu beginnen und aufzuhören hat. Außerdem soll es Grenzwerte für die Lautstärke eines politischen Protests geben. Man fragt sich, wie so etwas zu messen oder vor Gericht zu entscheiden sein wird.
Außerdem wird der Straftatbestand des Public Nuisance (Öffentliches Ärgernis) eingeführt, der in Großbritannien kein geschriebenes Gesetz ist. Auch wenn man den „Komfort der Öffentlichkeit“ beeinträchtigt, soll dies nun ein Straftatbestand sein, der mit Gefängnis bis zu zehn Jahren geahndet werden kann.
Der Telegraph schreibt hierzu: „Steve Baker, ein libertärer Tory, sagte dem Telegraph, dass eine umfassende Rebellion (der Tory-Hinterbänkler, Anm. MM) unwahrscheinlich sei, aber dass die Klauseln über „ernsthafte Belästigung“ zu einigem Murren von Abgeordneten geführt hätten, die denken, dass sie einen Präzedenzfall für eine härtere polizeiliche Verfolgung von gewaltlosen Protesten darstellen“.
Viele der Kritiker bemängeln, dass „ernsthafte Belästigung“ zu ungenau definiert sei, um in ein Gesetz mit so hohen Strafen aufgenommen zu werden. Der Labour-Schattenminister für Justiz, David Lammy, nannte das neue Gesetz „drakonisch“ und merkte an, dass viele erfolgreiche progressive Bürgerbewegungen des 20. Jahrhunderts so nicht mehr stattfinden könnten.
Eigentlich wollte sich die Labour-Partei bei der Abstimmung enthalten, aber angesichts des Polizeieinsatzes bei der Trauerveranstaltung für Sarah Everard gab es doch ein Umdenken, ob man die Polizei mit weiteren weitreichenden, weitgefassten Vollmachten ausstatten will, und dann stimmten die Labour-Abgeordneten doch gegen den Entwurf, der jetzt an einen Ausschuss und dann ans House of Lords weitergereicht wird.
Der Tory-Hinterbänkler Sir Charles Walker sagte, dass es, trotz des harten Vorgehens der Polizei am vergangenen Samstag, die Parlamentsabgeordneten und nicht die Polizei war, welche die Proteste im Lockdown kriminalisiert hätten. „Wir stecken bis zu den Augäpfeln mit in dieser Sache“.
Wenn man bedenkt, dass Großbritannien oft Vorreiter bei politischen Entwicklungen war und ist und dass Demonstrationsrechte auch in anderen Ländern der EU nicht nur momentan recht ausgehöhlt sind, dann heißt es hier, die Augen offenzuhalten, damit wir nicht in einer Gesellschaft enden, in der kein oder nur noch ein Feigenblatt-Protest erlaubt ist.
Titelbild: © Moritz Müller