Nimmt die Politik des Westens eine Destabilisierung Russlands in Kauf? Ja, sagt die ehemalige Russland-Korrespondentin der ARD Gabriele Krone-Schmalz. In einem zweiteiligen Interview mit den NachDenkSeiten fordert die Journalistin und Buchautorin eine „entschlossene Entspannungspolitik“. Die Entwicklung zwischen den NATO-Ländern und Russland sei auf Misstrauen gebaut, dem müsse entgegengetreten werden, bevor die Situation aus dem Ruder laufe. Krone-Schmalz betont, dass man die geostrategischen Interessen, die bei den Konflikten zwischen „dem Westen“ und Russland eine Rolle spielen, nicht ausblenden dürfe. Sonst, so Krone-Schmalz, „versteht man nur die Hälfte.“ Von Marcus Klöckner.
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Frau Krone-Schmalz, der Konflikt in der Ukraine ist in den Hintergrund gerückt, aber die Spannungen mit Russland sind nach wie vor sehr gegenwärtig. Gerade stehen Sanktionen der EU gegen Russland im Raum. Wie betrachten Sie die aktuellen Entwicklungen?
Mit großer Sorge. Ich vermisse nicht nur politische Analysen, die das Knäuel aus Interessen und Moral entwirren, sondern vor allem auch eine politische Strategie, wohin diese Spirale aus Drohungen und Sanktionen denn führen soll. Es ist eine Situation entstanden, in der zwar immer noch viele das Wort „Dialog“ und „Gesprächsbereitschaft“ im Munde führen, aber die Praxis sieht anders aus. Und diejenigen, die diese Begriffe mit Leben füllen wollen, laufen ständig Gefahr, diskreditiert zu werden. Hinzu kommt Druck aus den USA. Allerdings verhindert die Verlängerung des New-Start-Abkommens zumindest im Nuklearbereich eine weitere Rüstungsspirale – ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, immerhin.
Oberflächlich betrachtet könnte man als Mediennutzer davon ausgehen, dass die Reibereien mit den Konflikten zu tun haben, über die in dem Zusammenhang berichtet wird. Ukraine, Krim, Nawalny, Menschenrechte: Das ist der Vordergrund. Aber wenn man sich nur auf diese Konflikte im Einzelnen konzentriert, wird man dann nicht sozusagen zum Opfer eines Taschenspielertricks, bei dem die Aufmerksamkeit weg vom eigentlichen Geschehen gelenkt wird?
Anders gefragt: Verdecken die vordergründigen Streitereien zwischen dem Westen und Russland die eigentlichen Gründe für die Spannungen?
Ja und nein. Diese Konflikte sind ja nicht nur vorgeschoben, es sind tatsächliche Konflikte. Etwas anderes ist aber die Frage nach ihren tieferen Ursachen. Wenn man die geostrategischen Interessen ausblendet, versteht man die Konflikte nur zur Hälfte.
Würden Sie das bitte näher erläutern?
Jedes Land auf der Welt hat für sich sein eigenes Sicherheitsbedürfnis und es geht umso friedlicher zu, desto sicherer man sich fühlt. Es braucht eine Sicherheitsarchitektur, in der sich möglichst viele gut aufgehoben fühlen. Das ist nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion versäumt worden. Wir haben entgegen den damaligen Erwartungen und trotz der historisch nahezu einmaligen Chancen kein neues Miteinander, sondern ein neues, noch schärferes und vor allem unberechenbareres Gegeneinander geschaffen. Es ist nicht erst durch die Krim zu den schlechten Beziehungen zwischen Russland und „dem Westen“ gekommen. Das gegenseitige Misstrauen hat die Tragödie in der Ukraine ja überhaupt erst möglich gemacht – und an diesem Misstrauen hat die Politik der USA einen großen Anteil, der gerne ausgeblendet wird.
Die Länder der EU und Russland sind eigentlich natürliche Partner, die sich in mehrfacher Hinsicht hervorragend ergänzen. Eine gute Zusammenarbeit – man muss sich ja nicht lieben – liegt demzufolge im Interesse beider Seiten. Das Interesse der USA ist ein ganz anderes, und aus US-amerikanischer Sicht selbstverständlich legitim. Die USA haben keinerlei Interesse an einem wie auch immer geeinten oder zusammenarbeitenden Eurasien. Das kann man auch schwarz auf weiß in entsprechenden Strategiepapieren nachlesen. Das heißt nicht, dass wir uns Illusionen über die russische Politik machen sollten, die ebenfalls ihre eigenen Interessen verfolgt. Ebenso wenig aber sollten wir uns Illusionen über die Politik Washingtons hingeben. Unsere Interessen in Bezug auf Russland überschneiden sich auf einigen Gebieten allenfalls, sind aber nicht identisch.
In der Berichterstattung spielen diese tiefergehenden Zusammenhänge allenfalls selten eine Rolle. Die Berichterstattung konzentriert sich weitestgehend auf die „Vorderbühne“. Die russische Polizei, beispielsweise, greift gegen Demonstranten durch, also wird das zur großen Nachricht und Medien stimmen Empörung an. Wie sehen Sie das?
Ich sehe durchaus die Zwänge, mit denen es Medien zu tun haben. Um überhaupt wahrgenommen zu werden, müssen sie Aufmerksamkeit erregen. Das war zwar schon immer so, ist aber angesichts der Fülle (was leider nichts mit Vielfalt zu tun hat) viel schwerer geworden. Klar, es ziehen Bilder brutaler Polizeieinsätze mehr Aufmerksamkeit auf sich als eine sogenannte Hintergrundberichterstattung. Das ist ein grundsätzliches Problem: wie bebildere ich politische Analysen? Bei zu viel optischer Ablenkung kommt die Information nicht mehr an und bei zu wenig guckt kaum noch einer zu. Ich stelle übrigens bei „meinen“ Studenten fest, dass sie mit dieser Fragestellung sehr kreativ umgehen und vielleicht wäre es eine gute Idee, junge Menschen mit ihren Bedürfnissen und ihren Vorstellungen mehr einzubinden.
Kaum war Joe Biden im Amt, gab es scharfe Töne von ihm gegen Russland. B1-Bomber sollen nach Norwegen verlegt werden. Was lesen Sie aus dieser Entscheidung?
Ich habe von Anfang an zu denjenigen gehört, die vor allzu großer Euphorie wegen des Präsidentenwechsels gewarnt haben. Biden mag berechenbarer und verbindlicher im Ton sein, aber an der grundsätzlichen Ausrichtung hat sich nichts geändert: Russland ist in erster Linie der Feind und mit Blick auf Energielieferungen auch der Konkurrent, den es in Schach zu halten gilt. Allenfalls wenn es den eigenen Interessen entgegenkommt, ist eine Zusammenarbeit mit Russland denkbar. Wie etwa bei internationalen Krisen- und Kriegsherden wie Syrien. Es bleibt abzuwarten, wie sich die neuerlichen Luftschläge der USA auf Ziele in Syrien auswirken werden. Hoffnung macht einzig und allein, dass, wie erwähnt, das Thema Abrüstungsverträge wieder auf der Tagesordnung steht.
Was ist der Unterschied zwischen Trump und Biden, wenn es um die US-amerikanischen Beziehungen zu Russland geht?
Ich bin kein USA-Experte. Nach meinem Eindruck hatte Trump – ganz gleich, wie man ihn insgesamt beurteilen mag – zu Beginn seiner Amtszeit den festen Plan, mit Russland gute Beziehungen aufzubauen. Diesen Plan auf eine zweifelhafte Männerfreundschaft zwischen den „Machotypen“ Trump und Putin zu reduzieren, halte ich für verfehlt. Dass aus der Verbesserung der Beziehungen nichts geworden ist, hat möglicherweise auch etwas mit der Sprunghaftigkeit Trumps zu tun, aber ganz sicher mit der innenpolitischen Situation in den USA, in der jeglicher Kontakt zu Russland plötzlich unter Generalverdacht stand.
Biden ist ein sehr erfahrener Politiker, mit dem sich wahrscheinlich zivilisierter und „vernünftiger“ im Sinne von „berechenbarer” umgehen lässt, aber es gibt aus meiner Sicht keinen Anlass und auch keine Anzeichen, einen nennenswerten Kurswechsel gegenüber Russland zu vermuten. Im Gegenteil, wie die neuerlichen Sanktionen der USA zeigen.
Biden forderte auch die sofortige Freilassung von Nawalny – während sein Land Assange und Snowden verfolgt.
Vergleiche sind immer so eine Sache. Irgendein Haken versteckt sich meist, der einen direkten Vergleich behindert. Aber es ist keine Frage, dass auch in dieser Hinsicht grundsätzlich mit zweierlei Maß gemessen wird. Wir regen uns – zu Recht – über russische Straflager auf, aber an Guantanamo haben wir uns gewöhnt.
Biden hat auch eine gemeinsame Strategie mit der EU gefordert, um Russlands „Versuche, die öffentliche Meinung zu beeinflussen“, entgegenzutreten. Wie sind solche Aussagen zu bewerten?
Es ist immer gut, sich zusammenzutun, um ein Ziel zu erreichen. Aber zwei Dinge sind mir wichtig. Zum einen kann ich mir ein gewisses Schmunzeln nicht verkneifen, wenn ich mir vorstelle, dass wir bzw. die EU ausgerechnet mit den USA zusammenarbeiten sollen, wenn es um Versuche anderer geht, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Und der zweite Punkt: Ich warne vor Standard-Denken in Entweder-Oder-Positionen. Ein gutes Verhältnis zu den USA muss nicht zwangsläufig ein schlechtes Verhältnis zu Russland zur Folge haben und umgekehrt. Sowohl als auch, also ein gutes Verhältnis zu beiden Staaten, das wäre für mich der erstrebenswerte Zustand und ich hielte es für einen groben Fehler, sich an der Seite der USA in eine Frontstellung zu Russland drängen zu lassen.
Was ist denn aus Ihrer Sicht die Strategie der USA, aber auch der EU, wenn es um den Umgang mit Russland geht? Vordergründig sieht es danach aus, dass durch Druck aufbauen Russland zur Änderung seiner Politik gebracht werden soll. Aber wir sehen doch, dass das nicht passiert. Also nochmal die Frage: Was ist das für eine Strategie?
Ich kann keine vernünftige Strategie erkennen. Als Begründung für eine harte Politik wird ja meist genannt: Russland – vor allem Putin – verstehe keine andere Sprache als Druck. Ich kann mich an keine Situation erinnern, wo sich in Russland auf ausländischen Druck hin etwas geändert hätte. Ganz im Gegenteil, je größer der Druck von außen wird, umso mehr wächst das Zusammengehörigkeitsgefühl in Russland, selbst unter denen, die eine Menge an der Politik ihres Landes auszusetzen haben. Und aus Sorge vor Destabilisierung wird die russische Politik parallel dazu auch noch restriktiver.
Leonid Wolkow, ein Vertrauter Nawalnys, hat auf die neulich verhängten Sanktionen der EU gegen vier Staatsbeamte folgendermaßen reagiert – übrigens ganz im Sinne Nawalnys, der das früher auch selbst schon angesprochen hat. Sinngemäß hat Wolkow gesagt, es wäre besser gewesen, Sanktionen gegen Oligarchen zu verhängen statt gegen Staatsbeamte, die für die Verurteilung Nawalnys zuständig sind, denn die Oligarchen würden dann unzufrieden und das könnte die russische Führung nervös machen. Super Idee. Und dann? Was würde passieren, wenn Nawalny sein Ziel erreicht und Putin stürzt? Wird Russland dann über Nacht zu einer funktionierenden Demokratie? Übernimmt die „Zivilgesellschaft“ die Macht? Versinkt das Land im Chaos? Kommen die Oligarchen an die Macht wie in der Ukraine? Oder gar Rechtsradikale? Auf diese Fragen vermisse ich Antworten in der westlichen „Strategie“. Unabhängig von diversen westlichen Interessen im Einzelnen – eine Destabilisierung Russlands ist ein Spiel mit dem Feuer, aber die Politik des Westens nimmt sie in Kauf.
So wie es jetzt aussieht, spitzt sich der Konflikt immer weiter zu.
Welche Gefahren sehen Sie? Wo soll das Ganze enden?
Das möchte ich mir lieber nicht vorstellen, wo das Ganze enden soll. In diesen Tagen ist Michail Gorbatschow 90 Jahre alt geworden. Er hat nicht nur den Friedensnobelpreis bekommen, er hat ihn auch (im Gegensatz zu manch anderem) verdient. An seiner Stelle würde ich verzweifeln angesichts des Scherbenhaufens, der nach seinem Ausscheiden aus der Politik angerichtet worden ist, obwohl die Voraussetzungen für eine friedlichere Welt nicht besser hätten sein können. Das besonders Tragische daran ist, dass Gorbatschow diese Friedenspolitik der Öffnung, Transparenz und Demokratisierung immer ohne Rücksicht auf seine eigene Person und seine Familie durchgezogen hat.
Es liegt mir fern, Katastrophenszenarien zu entwickeln, aber ich bin fest davon überzeugt, dass es einer entschlossenen Entspannungspolitik bedarf, die ohne Vorbedingungen mit Blick nach vorn agiert. Ohne vertrauensbildende Maßnahmen – die als hohle Floskel gebraucht nichts nützen, sondern mit Inhalt gefüllt werden müssen – besteht die Gefahr, dass Situationen, die aus Missverständnissen resultieren, aus dem Ruder laufen und nicht mehr einzufangen sind. Das sollte allen bewusst sein, vor allem mit Blick auf nachfolgende Generationen.
Lesetipp: Krone-Schmalz, Gabriele: Respekt geht anders. Betrachtungen über unser zerstrittenes Land. C.H. Beck Paperback, 16. Oktober 2020. S. 174. 14,90 Euro.