Als wäre beim Bahnprojekt S21 nicht schon genug vermasselt worden, planen die Verantwortlichen eine unterirdische Zugabe auf 47 Kilometer Länge. Vier Tunnel sollen reparieren, was nicht zu reparieren ist. Gerechtfertigt wird das Vorhaben mit den Erfordernissen des Deutschlandtaktes, dessen sinnvolle Umsetzung eine notorisch verfehlte Verkehrspolitik verunmöglicht und deren wohl schlimmster Auswuchs der kommende Stuttgarter Tiefbahnhof ist. Ein Gutachter hat errechnet, was der Spaß kosten könnte: 5,5 Milliarden Euro – mindestens. Von Ralf Wurzbacher.
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Teuer, teurer, Prestigeprojekt. Sobald staatliche Mittel in Straßen, Brücken, Bahnhöfe, Flughäfen oder welche Bauten auch immer gesteckt werden, kommen Kostenexplosionen wie von selbst. Beim Roulette mit Steuergeld kennen Planer und Bauherren kein Halten – mehr geht immer! Sehr viel mehr als ursprünglich geplant verschlang zum Beispiel die Hamburger Elbphilharmonie. Statt 77 waren es am Ende 866 Millionen Euro, eine Steigerung um das 11,24-Fache. In der Summe sind das allerdings Peanuts, nimmt man Unternehmungen wie den Hauptstadtflughafen BER und Stuttgart 21 zum Maßstab. Im Wettstreit um das Ausmaß des Scheiterns und den Umfang des Kraters, den sie in die öffentlichen Kassen reißen, liefern sich beide Projekte seit Jahren ein hartes Kopf-an-Kopf-Rennen. S21 mit seinen offiziell bezifferten 8,2 Milliarden Euro an Ausgaben liegt aktuell rund eine Milliarde über denen für den Berlin-Airport. Das aber ist nur eine Momentaufnahme.
Denn auch nach „Vollendung“ und erfolgter Eröffnung hat der BER noch allerhand „Reserven“. Nicht nur drohen endlose Reparaturmaßnahmen, weil sich schon binnen vier Monaten seit dem Start diverse Wasserschäden, Stromunfälle an Gepäckkontrollen und Kälteeinbrüche in der Abfertigungshalle ereignet haben. Schwerer wiegt, dass der Laden schon pleite war, noch ehe nur ein Flieger abgehoben hatte. Wobei die Pandemie nicht die Ursache der Schieflage ist, die Sache aber noch schlimmer macht. Solange der Betrieb nahe Nullniveau dümpelt, werden die Zahlen röter und röter.
Komplettentschuldung?
Am Dienstag wurde ein Sanierungsplan publik, in dessen Rahmen der Flughafengesellschaft FBB ein staatliches Darlehen über 1,1 Milliarden Euro erlassen und obendrein eine Finanzspritze von 800 Millionen Euro bewilligt werden sollen. Das macht 1,9 Milliarden Euro, was immerhin weniger wäre als die knapp 3,6 Milliarden Euro, die der Aufsichtsrat vor zwei Wochen an Hilfen angemahnt hatte.
Andererseits sind allein an Coronahilfen bereits 990 Millionen Euro geflossen oder zugesagt und Experten wie etwa der Flughafenplaner Dieter Faulenbach da Costa gehen davon aus, dass der BER erst dann schwarze Zahlen schreiben kann, wenn er komplett entschuldet ist. „Anders kommt der Flughafen selbst bei Fluggastzahlen wie vor der Krise niemals aus den Miesen heraus“, sagte er den NachDenkSeiten. „Wie viel die Entschuldung kostet, kann ich nicht genau sagen. In den Medien ist zu lesen, die FBB stünde mit mehr als 4,5 Milliarden Euro in der Kreide. Es geht auf jeden Fall um einige Milliarden.“
Das lässt manches an Spielraum offen. Schon 2017, zwei Jahre vor Fertigstellung, hatte FBB-Geschäftsführer Engelbert Lütke Daldrup einen „Masterplan“ aus dem Hut gezaubert, um damit den angesichts der mittel- und langfristig erwarteten Passagierzahlen eigentlich unterdimensionierten Hauptstadtairport zukunftstauglich zu machen. Nach der Erweiterung in fünf Etappen sollen bis 2040 nicht weniger als 58 Millionen Gäste jährlich abgefertigt werden können. Die vom FBB-Chef für sein Vorhaben aufgerufenen 2,3 Milliarden Euro werden sich im Falle der Umsetzung mit Gewissheit als Luftbuchung erweisen. Wie auch immer, ob mit Voll- oder nur Teilentschuldung, ob mit oder ohne „Masterplan“: Die Bürgerinnen und Bürger werden noch reichlich mehr Geld für den BER lockermachen müssen, mithin noch einmal das Doppelte dessen, was er bisher gekostet hat.
Kommt Zeit, kommt Geld
Ob das zum Sieg im Wettstreit um Deutschlands tiefstes Milliardengrab reicht, muss man abwarten. Der Hauptkontrahent Stuttgart 21 ist jedenfalls weit davon entfernt, sich kampflos geschlagen zu geben. Der Bundesrechnungshof (BRH) hält den aktuellen Ausgabenansatz ohnehin für unterschätzt. Bereits 2016 hatte die Behörde vor einem Kostenauftrieb auf über zehn Milliarden Euro gewarnt. Damals lag die amtliche Hausnummer noch bei 6,5 Milliarden Euro, heute kalkulieren die Verantwortlichen schon mit knapp über acht Milliarden Euro, die Projektgegner vom Aktionsbündnis gegen S21 mit über elf Milliarden Euro. Zur Erinnerung: Mitte der 1990er-Jahre waren die Kosten noch auf 2,5 Milliarden Euro taxiert worden, zum Baubeginn 2010 stand die Zahl 4,1 Milliarden im Raum.
Der Faktor Zeit ist ein verlässlicher Kostentreiber. Der Abschluss der Arbeiten ist, Stand jetzt, auf frühestens 2025 terminiert. Damit ist nicht nur der schöne Name S21 Makulatur. Revidiert werden müssen fast im Jahrestakt ebenso die Planzahlen – zumal so vieles nicht nach Plan läuft. Vor allem der Stuttgarter Untergrund und der des Umlandes mit seinem hohen Anteil an Anhydritgestein bereitet immer wieder neue Sorgen. Bei Wasserkontakt quillt es stark auf, wodurch beim Bau der elf weitgehend unterirdischen Strecken viel Energie und Geld für die Abdichtungen draufgeht. Es gibt Experten, die sogar daran zweifeln, dass die Tunnelröhren sich dauerhaft trockenhalten lassen.
Zusatzbahnhof unter Tage
Mit der Zeit kommen den Machern auch neue Ideen, deren Realisierung, wie sollte es anders sein, nicht gerade billig kommen würde. Ein aktuelles Gutachten des Münchner Verkehrsberaters Karlheinz Rößler im Auftrag des Aktionsbündnisses führt insgesamt vier weitere Tunnelbauten mit einer Gesamtlänge von 47 Kilometern auf, die als sogenannte Ergänzungsprojekte von Stuttgart 21 auf den Weg gebracht werden sollen. Als maßgebliche Antreiber taten sich im zurückliegenden Jahr das Bundesverkehrsministerium (BMVI), die Deutsche Bahn AG sowie Baden-Württembergs grüner Verkehrsminister Winfried Hermann hervor, der noch heute darauf beharrt, dass S21 „eine Fehlentscheidung war und eine Fehlinvestition ist“. Das indes hindert ihn nicht daran (beziehungsweise nötigt ihn dazu), noch mehr zu klotzen und zwar in Gestalt eines viergleisigen Satellitenbahnhofs nahe des im Bau befindlichen Tiefbahnhofs, um dessen Mangelkapazitäten zu kompensieren.
Die Projektgegner hatten stets moniert, dass der neue Hauptbahnhof zu einem Nadelöhr oder „programmierten Engpass“ gerät. Während der bisherige, zum Abriss freigegebene Kopfbahnhof 16 Gleise umfasst, wird sein Nachfolger nur noch über acht Gleise angefahren und über keinerlei Reserven verfügen. Wenn nun die Verantwortlichen über eine „Ergänzung“ nachdenken, ist das nicht weniger als ein Eingeständnis des Versagens. Dabei hält das Aktionsbündnis die Wortwahl für „beschönigend“, wie es in einer Medienmitteilung vom Montag heißt. Es gehe „nicht um einen Zusatznutzen, sondern um Reparaturversuche an einem planerisch gescheiterten Projekt“.
Kapitale Fehlinvestition
Freilich kommunizieren die Verantwortlichen beim Bund, der Deutschen Bahn und im Ländle das ganz anders. Zur Begründung der Maßnahmen verweist das BMVI von Ressortleiter Andreas Scheuer (CSU) auf Erforderlichkeiten zur Umsetzung des sogenannten Deutschlandtakts. Mit diesem „Fahrplan für alle“ peilt die Bundesregierung „abgestimmte, schnelle und verlässliche Verbindungen im Nah-, Fern- und Güterverkehr“ an, also eine für deutsche Verhältnisse undenkbare Selbstverständlichkeit. Entwickelt wurde die Vision schon 2008 mit der Gründung einer gleichnamigen Initiative, woraufhin in den Folgejahren allerlei Machbarkeitsstudien und Modellentwürfe das Licht der Welt erblickten, der dritte und vorläufig letzte im Juni 2020. Nach all diesen Vorarbeiten jetzt so zu tun, als wäre Stuttgart 21 vom Deutschlandtakt überrumpelt beziehungsweise überholt worden, geht an der Wirklichkeit vorbei. Das Projekt war und ist für sich und im größeren verkehrspolitischen Gesamtrahmen eine kapitale Fehlinvestition, was mit ein paar Extratunneln nicht besser wird.
Zumal man einmal mehr nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel fragen muss. Nach dem Deutschlandtakt soll etwa die Fahrzeit zwischen Stuttgart und Mannheim mit dem ICE künftig höchstens 30 Minuten betragen. Weil das auf Basis der S21-Planungen aber nicht hinhaut und sieben Minuten länger dauern würde, will Scheuer unter anderem mit einem zehn Kilometer langen Tunnel im Norden Stuttgarts nachhelfen. Da er auch sieben Minuten auf dem Weg nach Zürich herausschlagen will, soll auch der Süden der Stadt kräftig unterhöhlt werden, diesmal sogar auf zwölf Kilometern Länge. Der Vorschlag dazu stammt von Scheuers Staatssekretär Steffen Bilger (CDU), weshalb die S21-Gegner vom Bilger-Tunnel sprechen.
Flickwerk und Schweizer Käse
Dazu kommen noch besagter Zusatzkopfbahnhof samt Zufahrt – beides natürlich unter Tage – sowie die sogenannte P-Option, ein Verbindungsstück für die nördlichen Zulaufstrecken. Gemäß Rößlers Gutachten wäre Letzteres eine Art Interimslösung. Die beiden dafür vorgesehenen Röhren von insgesamt 1,6 Kilometern Länge würden „als zwingende Voraussetzung gesehen, um den Nordzulauftunnel überhaupt bauen zu können“, schreibt er in seiner Expertise. In einer Sitzungsvorlage des Verbands Region Stuttgart heißt es dazu: „Durch diese Anbindung (…) an die Nah- und Ferngleise aus Richtung Feuerbach werden die Rahmenbedingungen für eine bauzeitliche Außerbetriebnahme des Tunnels Feuerbach geschaffen. Nur so können dann die Anschlussbauwerke im Tunnel Feuerbach für den neuen Nordzulauf hergestellt werden.“ Übersetzt heißt das so viel wie: Flickwerk.
Im Falle der Umsetzung würde sich das „Stuttgart-21-Tunnellabyrinth auf weltrekordverdächtige 105 Kilometer“ erweitern, monierte das Aktionsbündnis. Weil die Abschnitte jeweils zweigleisig ausgebaut werden sollen und die EU in solchen Fällen zwei getrennte Tunnelröhren vorschreibt, könnte die Stuttgarter Unterwelt alsbald zum Schweizer Käse werden. Noch steht jedoch nicht fest, ob und wann die fraglichen Bauvorhaben in die Tat umgesetzt werden. Bisher sind sie nicht über das Stadium einer Idee oder einer „Fiktion“, wie es Hermann im Falle des Bilger-Tunnels nannte, hinausgekommen. Wie am Mittwoch die Wochenzeitung „Kontext“ schrieb, wollte Bilger schon im Vorjahr eine Wirtschaftlichkeitsberechnung vorlegen, blieb diese aber bislang schuldig.
Nun ist ihm Rößler zuvorgekommen. Nach seiner „Grobabschätzung“ auf Grundlage der zu erwartenden Baupreise im Jahr 2037 rechnet er mit mindestens 5,5 Milliarden Euro, die die „Ergänzungsprojekte“ bis zur prognostizierten Fertigstellung im Jahr 2043 kosten würden. Bei ungünstiger Entwicklung könnte man am Ende auch bei „über zehn Milliarden Euro“ landen. Damit sei „eine Verdopplung der Baukosten gegenüber dem ursprünglichen Vorhaben durch die Ergänzungsprojekte nicht auszuschließen“. Das ginge dann wohl in Richtung 20 Milliarden Euro.
Treffend überschrieb das Aktionsbündnis seine Presseerklärung mit: „Das zweite Stuttgart 21.“ Ob das reicht? Dem Steuerzahler allemal.
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