In diesem Text beschreibt Andreas Werner, warum das gesellschaftswissenschaftliche Fach demokratiezersetzend ist und gefährliche Kritik fördert. Achtung: Satire! Von Redaktion.
Seit Beginn der Corona-Pandemie schießen allenthalben die Verschwörungstheorien wie Pilze aus dem Boden, und als guter Staatsbürger muss man sich fragen: Woher kommt der Drang, irgendwelche verdeckten Mächte und Machenschaften hinter allen möglichen Vorgängen und Umständen zu unterstellen? Gewiss: In jeder Krise gab es Menschen, die sich nicht einfach gedanklich in ihr Schicksal fügen wollten und wilde Spekulationen in die Welt setzten, woher diese Krise „eigentlich“ käme. In Zeiten des Internets und der sozialen Medien jedoch lassen sich solche Mythen kaum mehr eindämmen. Einmal in das Netz gelassen, vermehren sie sich schlimmer als die Viren und erzeugen dabei jede Menge Mutanten, sodass die Gesundheitsbehörden des Geisteslebens ihrer kaum mehr Herr werden können.
Endlich aber ist ein Silberstreif am Horizont zu sehen, denn ein wesentlicher Treiber dieser „Verschwörungstheoriepandemie“ konnte jetzt endlich identifiziert werden: Es ist der Geschichtsunterricht an allgemeinbildenden Schulen. Für manche von uns vielleicht eine überraschende Erkenntnis, stellt sie doch den bisherigen Konsens über den demokratiefördernden Charakter gerade dieses Fachs fundamental infrage! Immer wieder wurde in Sonntagsreden betont, dass erst die Kenntnis der Vergangenheit ein reflektiertes Handeln in der Gegenwart ermögliche. Geschichtsbewusstsein wurde als wesentliche Quelle politischer Mündigkeit jahrzehntelang in einer ritualhaften Selbstillusionierung geradezu als systemrelevant beschworen. Jetzt stehen wir vor dem Scherbenhaufen und müssen einsehen, dass die Demokratie sich damit quasi ihr eigenes Grab geschaufelt hat, sofern die Gesellschaft nicht schnell den Hebel umlegt.
Das Dilemma lässt sich recht einfach auf den Punkt bringen: Seit der Athener Thukydides die Geschichtsforschung als Fachwissenschaft ins Leben rief, setzte sie regelmäßig die wüstesten Spekulationen in die Welt, die uns glauben machen wollen, das Weltgeschehen würde durch starke, häufig unerkannte Mächte im Hintergrund bestimmt. Je schwerer identifizierbar diese Mächte, desto besser der Historiker, der sie aufzudecken vermag, so zumindest das landläufige Credo derer, die sich mit dieser Pseudowissenschaft beschäftigten. Schon Thukydides unterschied standardmäßig zwischen „Anlass“ und „Ursache“ eines Ereignisses, was suggerieren sollte, dass mehrere kausale Ebenen eines Ereignisses zu berücksichtigen wären. Beschuldigungen der Athener gegen Sparta etwa würden nur dazu dienen, den beabsichtigten Krieg zu legitimieren (und genauso auch umgekehrt). Warum konnte Thukydides nicht einfach Ereignisse und Entwicklungen so interpretieren, wie sie sich an der Oberfläche darstellten? Vermutlich wollte er auf diese Weise sein eigenes Ego stärken, sich als klüger zu inszenieren als die anderen Griechen, oder einfach nur die Auflage seines Buches steigern, denn wer will schon lesen, was ohnehin auf der Hand liegt?
In diese selbstgestellte Falle liefen schließlich quasi alle Historiker späterer Jahrhunderte. Ein typisches Beispiel mag dies verdeutlichen: Unsere Kinder lernen heute in der Schule die Spätphase der Römischen Republik kennen. Damals hätten reiche Patrizier versucht, die Spielregeln des Staates zu ihren Gunsten zu dehnen, zu umgehen oder ganz außer Kraft zu setzen. So etwa der Feldherr Sulla, der zweimal in seiner Heimatstadt militärisch einmarschiert wäre (in Wirklichkeit war er nur auf Heimaturlaub mit seinen Legionen). Er hätte die Namen aller Gegner öffentlich auf Säulen schreiben lassen, auf dass sie von ihren Nachbarn, Feinden oder schlechten Freunden erschlagen würden (in Wirklichkeit waren diese Proskriptionslisten vermutlich nur Vermisstenlisten aus seinen Feldzügen).
Wenige Jahrzehnte später hätten sich Crassus und Pompejus ausgerechnet mit Caesar zum Triumvirat gegen den Senat und die Verfassung verschworen, obwohl sie doch zu unterschiedlichen Parteien gehörten. Wer soll so einen offenkundigen Unsinn glauben? Ersterer hätte gar im Verdacht gestanden, nicht nur als Günstling Sullas durch das Erschlagen der Proskribierten zu Geld gekommen zu sein, sondern auch durch seine obskuren Feuerwehr-Aktivitäten: Es hieß, seine eigenen Leute hätten gezielt Häuser angezündet, sie nachher mit der eigenen Feuerwehr (gegen Gebühren) gelöscht, um schlussendlich den ruinierten Bewohnern Kaufverträge für ihre Immobilien aufzunötigen. An die Stelle der ausgebrannten Ruinen kamen moderne Wohnblocks, die als Mietobjekte in der boomenden Metropole satte Gewinne erwirtschafteten. So hätte der Superreiche gleich mehrfach verdient und Rom sei auf diese Weise nach und nach immer mehr in seinen Privatbesitz gekommen, was seinen politischen und militärischen Einfluss weiter gesteigert hätte.
Dabei lassen sich derlei Lügengeschichten leicht entlarven, schließlich schickte der Philanthrop Crassus doch seine Privatarmee erfolgreich gegen den Spartakus-Sklavenaufstand, ließ die Gefangenen entlang der Via Appia kreuzigen und erbrachte damit den eindeutigen Nachweis, dass er immer nur konsequent im Sinne der römischen Res Publica und der Bevölkerung handelte und dafür auch großzügig sein Privatvermögen einsetzte. Was aber macht es mit den zarten Kinderseelen, wenn sie im Klassenzimmer immer noch derlei gruselige Verschwörungsmythen über die großen Staatsmänner der Vergangenheit anhören müssen? Wecken solche Schauergeschichten nicht unnötig Zweifel und Misstrauen an Politik, Macht und Geld und an deren „geheimen Verbindungen“? Das Motto müsste lauten: Wehret den Anfängen! Wer in der Geschichte skrupellose Macht- und Geldgier am Werke sieht, neigt auch dazu, in der Gegenwart kritische Fragen zu stellen.
Viele weitere Beispiele für solche gefährlichen Indoktrinierungen unserer Kinder im Unterricht lassen sich feststellen. Hier eine kleine Auswahl:
Wallenstein hätte den 30-jährigen Krieg als modernes Finanzinvestment betrieben mit geliehenen Söldnertruppen als Risikokapital. Nachdem die Rechnung aufging, wäre er vom einfachen Baron zum einflussreichsten Reichsfürsten aufgestiegen, der schließlich sogar seinem Herrn, dem Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, über den Kopf gewachsen wäre. Die letztlich erfolglosen Absetzungsversuche der übrigen Fürsten hätten allen gezeigt, dass Wallenstein „too big to fail“ geworden wäre. So blieb als Notbremse nur noch der Mord im kaiserlichen Auftrag. Warum erzählt man solche Fabeln, statt den Kindern klarzumachen, dass Wallenstein in Wirklichkeit nur eine Fantasiefigur aus dem gleichnamigen Drama Schillers ist?
Vom französischen König Ludwig XVI. wird in der Schule gar behauptet, er hätte sich während der Revolution gegen sein eigenes Volk verschworen, indem er Truppen gegen die neu gegründete Nationalversammlung zusammenziehen ließ, einen missglückten Fluchtversuch unternahm und seinem Habsburger Schwager den Krieg nur erklärte, damit der vorgebliche Feind gewinne und ihn hernach aus seinem konstitutionellen Käfig wieder befreien möge. Dies sei durch belastendes Briefmaterial eindeutig belegt. In Wahrheit jedoch ließ Ludwig offenbar selbst die Bastille stürmen, um politisch Verfolgte zu befreien, die man allerdings nicht fand, weil es ja gar keine politisch Verfolgten gab. Mehrmals zeigte sich Ludwig öffentlich mit Symbolen der Revolution und bekannte sich damit klar zur Demokratie, die ihm sehr am Herzen lag. Auch das Bonmot seiner Gattin, das Volk solle doch „Kuchen essen, wenn es kein Brot hat“, wurde immer wieder von Verschwörungstheoretikern aus dem Zusammenhang gerissen und verdreht, stand die Königin doch tagelang selbst in der Küche von Versailles, um für das Volk eigenhändig die aufwändigsten Schokotörtchen zu backen, was ihr von den ungezogenen Untertanen allerdings nie ausreichend gedankt wurde.
Dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. unterstellt man, dass er in der 48er-Revolution dem Beispiel Ludwigs gefolgt wäre, sich dabei aber geschickter angestellt hätte. Zunächst hätte er dem Volk demokratische Versprechungen gemacht, schließlich jedoch in Preußen eine eigene Verfassung oktroyiert und die Paulskirchenabgeordneten mit ihrer gesamtdeutschen Verfassung im Regen stehen lassen. Die Reste der Demokratiebewegung hätte er mit seinen Truppen zerschlagen und dies auch noch im fremden Territorium. Soweit die Lüge. In Wahrheit war er es doch, der das ehrgeizige Projekt eines geeinten und demokratischen Deutschlands erst auf die Agenda brachte und zeitlebens nachdrücklich verfolgte. Sein Nachfolger, Wilhelm I., konnte daran anknüpfen und mit Hilfe Bismarcks das Ziel komplett erreichen.
Über jenen wird erzählt, er hätte ein informelles preußisch-französisches Gespräch mithilfe der Medien geschickt skandalisiert, um so die französische Kriegserklärung provozieren zu können, die er für seine Reichseinigungspläne gut gebrauchen konnte. Glücklicherweise konnten aber aufmerksame Geister aus der Reichsbürgerszene nachweisen, dass die Franzosen damals wirklich so frech waren, wie es in der Emser Depesche rüberkam. Der Krieg gegen Frankreich war also komplett legitim, die Deutschen machten nur von ihrem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch. Die Historiker liegen wieder mal falsch mit ihren verdrehten „Hintergrundstories“.
Selbst noch über das aufgeklärte 20. Jahrhundert schwirren die unglaubwürdigsten Märchen im Diskurs- wie im Klassenraum herum: So hätte der führende Sozialdemokrat Ebert unmittelbar nach Ende des 1. Weltkriegs mit der sieglosen Reichswehr ein geheimes Bündnis gegen die radikale Linke geschlossen, um die drohende Räterepublik zu verhindern. Die Reichswehr sollte den Parlamentarismus unterstützen, bliebe als Dank dafür aber im Inneren unangetastet. Ein „Staat im Staate“ wäre so entstanden, der Politik entzogen, mit eigenen Interessen und vielfältigen Verflechtungen. Eine lachhafte Geschichte, war die SPD doch eine gemäßigte und demokratische Partei, die sich immer schon für Transparenz, Frieden und Gewaltverzicht starkmachte.
Etwa zehn Jahre später hätte der Medienmogul Hugenberg mit der „Harzburger Front“ eine Allianz zwischen Militär, Industrie und Medien geschmiedet mit dem Ziel, Hitler an die Macht zu bringen. Der „böhmische Gefreite“ wäre nicht so gefährlich und man könne ihn leicht „einrahmen“, wenn er erst einmal an der Regierung sei. Außerdem wäre er allen Beteiligten höchst nützlich. Seinen Medien brächte Hitler ausreichend Schlagzeilen, dem Militär alte Stärke und Ansehen, der Rüstungsindustrie Aufträge und der übrigen Wirtschaft Ruhe und Sicherheit auf den Straßen. Soweit die Verschwörungstheorie der Historiker. Dass ausgerechnet ein Vertreter der Medien, der „vierten Gewalt“ im Staat, ein Interesse daran hätte, die Demokratie zu untergraben, ist offenkundig die unsinnigste Behauptung, die man sich denken kann. Schließlich leben sie doch von der Pressefreiheit und halten allein schon aus Eigennutz größte Distanz zu Politik, Wirtschaft und Großkapital. Wer anderes behauptet, liest vermutlich die falschen Medien.
Nicht einmal vor den heiligsten Institutionen der heutigen demokratischen Staatenwelt machen die notorischen Fake-News-Schleudern alias „Historiker“ Halt: Die Montanunion, Keimzelle der heutigen EU, sei nicht primär als Vehikel der Völkerverständigung nach zwei verheerenden Weltkriegen ins Leben gesetzt worden, wie es der französische Außenminister Schuman doch in seiner Presseerklärung allzu deutlich formulierte. Nein, in Wahrheit hätte der gerissene Ökonom und Chef des informellen französischen Planungsstabs, Jean Monnet, die Fäden gezogen. Nachdem sein ursprünglicher Plan gescheitert war, die Kohleressourcen des Ruhrgebiets auf dem direkten Weg unter französischen Einfluss zu stellen, hätte sich die ehemalige Großmacht vollends in der Klemme befunden: Politischer und ökonomischer Druck vonseiten der USA, Rohstoffmangel, dazu noch starke Gewerkschaften, die nach mehr Protektionismus und Sozialleistungen schrien, obwohl gar nichts zum Verteilen da war.
Nur eine marktradikale Rosskur könnte der Industrie wieder auf die Sprünge helfen, so die angebliche Auffassung Monnets. Die Gründung der EGKS wäre der geniale Schachzug gewesen, das Trojanische Pferd, um eine in der Bevölkerung ungeliebte Liberalisierung der Montanindustrie durch die Hintertür durchzusetzen und gleichzeitig die immer noch als Gefahr betrachteten deutschen Nachbarn im Bereich der militärisch zentralen Eisenindustrie unter Dauerbewachung stellen zu können. Diese blasphemischen Unterstellungen freilich liest man zum Glück nicht einmal in den ansonsten weitgehend verseuchten Geschichtslehrwerken, weil wenigstens hier der gesunde Menschenverstand der Redaktionen, Lehrplankommissionen und Ministerien einen Riegel vorschieben konnte.
Man merkt an allen Beispielen: Der Fisch stinkt vom Kopf her. Das Problem sind eigentlich weniger die gutwilligen Lehrkräfte an den Schulen, sondern allen voran eine in sich geschlossene Elfenbeinturm-Community, von Steuergeldern üppig mit C4 oder W3 versorgt, aber ohne Anstand und Haltung. Statt sich für Solidarität und Zusammenhalt einzusetzen, indem sie Vertrauen in Institutionen und politische Entscheidungsträger aufbauen, streuen sie Zweifel und spalten somit die Gesellschaft. Von oben nach unten frisst sich dieses Gift in die Schulen hinein.
Noch fataler sieht es aus, wenn man einen Blick in einen weiteren, für unsere Frage zentralen Bereich des Geschichtsunterrichts wirft: Wie gehen die Historiker mit Verschwörungserzählungen um, oder anders gefragt: Was passiert, wenn Verschwörungstheoretiker sich zu Verschwörungstheorien äußern? Überspringen wir besser die „Enthüllungen“ Ciceros, die im Lateinunterricht zu Unrecht immer noch gefeiert werden, wodurch ein bezeichnendes Licht auch auf dieses überflüssige Fach geworfen ist. Aber das nur am Rande!
Erstes Beispiel sei die Dauerdiskussion um den Brand Roms zu Zeiten Neros. Folgt man den „Fachleuten“, hätte der Kaiser selbst die Geschichte in die Welt gesetzt, dass die als gefährlich betrachtete Minderheit der Christen dafür verantwortlich wäre. So hätte er eine gute Grundlage für Christenverfolgungen gefunden und gleichzeitig von eigenen Fehlern und Versäumnissen abgelenkt. Mit zunehmender Christianisierung des Reichs, die in der Anerkennung als Staatsreligion im 4. Jahrhundert ihren Abschluss fand, änderte sich das Narrativ: Die christlichen Geschichtsschreiber machten plötzlich Nero selbst, den „Antichristen“, zum Brandstifter. Der Kaiser hätte die als altmodisch betrachtete Stadt niedergebrannt, um sie danach schöner und moderner wieder aufbauen zu können. Die verfolgten Christen wären durch diese Umdeutung zu Märtyrern und damit zu moralischen Ankerpunkten der neuen herrschenden Ideologie in nachkonstantinischer Zeit geworden und somit ein stabilisierendes Element des Staates. So hätte eine Verschwörungstheorie die andere nahtlos abgelöst, und zwar immer im Sinne der gerade herrschenden Kreise.
In der großen Pestzeit Mitte des 14. Jahrhunderts kam schnell der Verdacht auf, dass die Seuche nur dadurch käme, dass Juden gezielt Brunnen vergiftet hätten, eine Theorie, die schon damals jedem halbwegs klar denkenden Geist absurd hätte erscheinen müssen. Die großen Judenpogrome, so die Historiker, wären aber erst ins Rollen geraten, nachdem sich Fürsten und Stadtbürgermeister der Ideologie bemächtigt hätten und die Bevölkerung gezielt aufgehetzt hätten. Die angestachelte Massenhysterie nutzten sie aus, um ihre Schulden bei jüdischen Geldleihern loszuwerden, die damals noch eine Art Monopol im regulären Zinsgeschäft innehatten. Im elsässischen Benfeld wäre eine solche Verschwörung der Eliten aus Grafen, Baronen, Bischöfen und Bürgermeistern quellenmäßig belegt und auch in Details nachweisbar, in anderen Regionen ebenfalls wahrscheinlich. Der damalige Kaiser, Karl IV., von Amts wegen Schutzherr der Juden in seinem Reich, hätte anfangs noch versucht, die fatale Bewegung zu stoppen. Bald aber hätte er einsehen müssen, dass er gegen die Übermacht der Eliten seines Reichs chancenlos war. Er hätte sich folglich mit auf die Welle gesetzt, um wenigstens noch ein Stück vom Kuchen abzubekommen.
Auch der Hexenwahn wäre in der Frühen Neuzeit erst dadurch zu einem bestimmenden Phänomen geworden, dass einflussreiche Gruppen gezielt Vorurteile und Ängste in der Bevölkerung instrumentalisiert hätten. In vielerlei Hinsicht seien die Protagonisten sogar sehr modern gewesen. Dies gälte zum Beispiel in strafrechtlicher Hinsicht, wo der alte Grundsatz „Wo kein Kläger, da kein Richter“ zugunsten des Inquisitionsverfahrens aufgegeben wurde. Als modern wäre auch der „wissenschaftliche“ Eifer zu sehen, mit dem die Verfolgungsbehörden möglichst objektive Maßstäbe definierten, wer nun als Hexe oder Zauberer anzusehen sei und wer nicht. Jede Willkür im Verfahren musste ausgeschlossen werden, ging es doch um Leben oder Tod, um Erlösung oder Verdammnis. Gleichwohl wurde rückblickend immer wieder unterstellt, die eigentlichen Triebfedern der Inquisitionswellen seien vorwiegend machtpolitischer Natur. Zentrale Gewalten hätten mit diesem Instrument tief in Angelegenheiten und Rechte der Partikulargewalten eingreifen können. Territorialherren, die diese Gefahr sahen und die Inquisitoren in ihre Gebiete nicht hereinlassen wollten, wären moralisch extrem unter Druck gesetzt worden, handelten sie doch gegen die Sicherheit und das Wohlergehen der eigenen Bevölkerung, wenn sie nicht ausreichend gegen Hexen einschritten und die Zusammenarbeit mit den externen Fachleuten blockierten.
Im perfiden Denken der Historikerzunft sind die großen Verschwörungsmythen der Geschichte also vorwiegend von oben induziert, sei es als Instrument der Herrschaftssicherung gegenüber der Bevölkerung, sei es im Machtkampf der Eliten untereinander. Nach diesem Muster funktioniert beispielsweise auch die Betrachtung von Bismarcks Kampagne gegen die Sozialdemokratie. Gewiss hätte es Anschläge und Mordversuche aus diesem Lager tatsächlich gegeben, aber der Versuch, die ganze sozialdemokratische Bewegung (und damit ganze Bevölkerungsteile) zu „Reichsfeinden“ zu erklären, wäre primär ein Schachzug gewesen, die Position des Obrigkeitsstaates auszubauen und die ohnehin unterentwickelten Grundrechte weiter einzuschränken. Die Sozialdemokratie als größte Gefahr des Obrigkeitsstaates zu diskreditieren und zu diffamieren, sollte v.a. beim noch halbwegs liberal eingestellten Bürgertum Bereitschaft für Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit erzeugen.
Besonders schlecht weg kommen im Urteil der Historiker die Eliten des ausgehenden Kaiserreichs in der Endphase des 1. Weltkriegs. Die OHL (Oberste Heeresleitung) hätte lange schon die Niederlage vorausgesehen und versucht, einen passenden Absprung aus der Verantwortung zu finden. Die beste Gelegenheit hätte sich im Herbst 1918 geboten, als revolutionäre Unruhen losbrachen. Die Generalität hätte daraufhin den Zusammenbruch der Westfront als Folge dieses sogenannten „Dolchstoßes“ aus der eigenen Bevölkerung zu erklären versucht. Wider besseres Wissen hätten sie an der Geschichte der „unbesiegten Armee“ festgehalten. Heimtückisch und „von hinten“ seien die deutschen Truppen von den eigenen Revolutionären, den „Novemberverbrechern“, und nicht vom Feind besiegt worden. Der plötzliche Rückzug von Kaiser, OHL und Regierung aus der Verantwortung hätte die neue, demokratisch legitimierte Regierung mit einem Schlag ins Amt gesetzt. Als erstes hätte diese dann den Waffenstillstand und einige Monate darauf den als Schmach empfundenen Versailler Vertrag ratifizieren müssen. So blieb die Schande mit dem neuen System verknüpft. Die alte Reichsführung jedoch hätte sich mithilfe der Dolchstoßlegende aus allem herausziehen können. Diese Erzählweise hätte die Grundlage dafür gelegt, dass sich weite Teile der Gesellschaft gegenüber der neuen Verfassung und der neuen Politik skeptisch bis ablehnend verhielten. Sie bildeten einen Bodensatz, auf dem die Weimarer Republik schließlich demontiert worden sei.
Das Gefährliche an dieser Version der Dolchstoßlegende ist in erster Linie, dass es so erscheint, als wäre die Verschwörungstheorie gleichzeitig eine Verschwörung, und zwar nicht von überkritischen Bürgern, sondern von Eliten in Militär, Politik und Verwaltung. Es wird so dargestellt, als wäre die Verschwörungstheorie gezielt gepuscht worden, hätte sich zur Mehrheitsmeinung, zum Mainstream gemausert und wäre schließlich von 1933-45 zur offiziellen und einzig wahren Version erklärt worden. Sie hätte letztlich die Grundlage für die Reichstagsbrandverordnung gebildet, die aufgrund einer vorgeblichen Gefahr für Volk und Vaterland Grundrechte außer Kraft setzte. Selbst nach dem 2. Weltkrieg sollte es noch mehr als zwei Jahrzehnte dauern, bis die Dolchstoßlegende auch in breiten Kreisen der Bevölkerung als gezielte Lügengeschichte anerkannt wurde.
Unbemerkt bauen die Historiker mit solcherlei Theorien argumentative Zwickmühlen auf, in denen sie das Publikum fangen. Wer nicht an die Verschwörung von linken Kräften gegen die eigene Nation glauben will, also an die Dolchstoßlegende, muss an die Theorie der Verschwörung von OHL und Reichsführung glauben. So oder so: Man bleibt letztlich immer ein Verschwörungstheoretiker. So könnte man es gar bis in die heutige Zeit weiterspinnen: Wer nicht an eine krude Verschwörung des Westens zur Durchsetzung geostrategischer Interessen in Syrien glauben will, glaubt notgedrungen an die Verschwörung Assads gegen sein eigenes Volk, der durch die internationale Wertegemeinschaft gestoppt werden muss. Manch einer wird gar zum Anhänger beider Verschwörungstheorien gleichzeitig.
Unsere Kinder in den Schulen haben heute im Grunde keine argumentativen Möglichkeiten, die schlecht getarnten Mythen, die als wissenschaftliche Historikerthesen daherkommen, zu kontern, hängen sie doch auf der Informationsebene ab von dem, was in Klassenzimmern hinter verschlossenen Türen, in Schulbüchern oder auf Wikipedia verbreitet wird. Noch fataler sind die Denkmuster an sich, die durch stetige Repetition verinnerlicht werden. Ausgerechnet die staatlichen Autoritäten erscheinen nach immer demselben billigen Muster im Geschichtsunterricht in der Rolle der Verschwörer. Als wären ausgerechnet sie es, die gezielt Verschwörungstheorien in Umlauf bringen, die einen Sündenbock für eigenes Versagen suchen, die die öffentliche Meinung in die Irre führen, die sich nicht kritisieren lassen wollen!
Wann können wir endlich zu einem Geschichtsunterricht kommen, der sich in den Dienst der Gesellschaft stellt, der Vertrauen schafft, der die Regierungen auch der Vergangenheit in ein rechtes Licht rückt? Da dies angesichts des derzeit vorherrschenden Personals in Schulen, Universitäten und Forschungsinstituten schwerlich vorstellbar ist, wäre die einzige zielführende Lösung, den Geschichtsunterricht so lange komplett auszusetzen, bis sich das Fach im Rahmen eines inneren Reinigungsprozesses selbst neu ausrichtet. Dafür bräuchte man einen klaren moralischen Kompass an den Hochschulen mit einem leistungsfähigen Frühwarnsystem gegen Abweichler. Gelingt dies nicht, müsste das Fach notfalls komplett abgeschafft werden. Langfristig erfolgreich ist nur ein neues, bejahendes und zukunftsfrohes Bildungsverständnis, das das veraltete Ideal vom „kritischen Denken“ ablösen kann, hinter dem meist nur Nörgeln, Sich-wichtig-Tun und skeptisches Hinterfragen stehen. Hoffen wir für die Zukunft das Beste!
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