Jetzt geht es um die Wurst, also die Berliner S-Bahn – oder das, was sich an Profit aus ihr und den Steuerzahlern rauspressen lässt. Seit Donnerstag kennt der Senat die Namen der Bewerber, die in sechs Jahren die Zerschlagung des Gesamtbetriebs besorgen wollen. Die Öffentlichkeit hat der Kandidatenkreis nicht zu interessieren, so wenig wie der weitere Prozess der Ausschreibung, der sich bis Herbst 2022 hinziehen soll. Auf halber Strecke wird in der Hauptstadt gewählt und die LINKE als „Privatisierungsgegner“ um Stimmen buhlen. Im Senat bereiten die Parteispitzen derweil eifrig den Ausverkauf vor. Muss ja keiner merken. Denkste, meint Ralf Wurzbacher.
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Viele Köche verderben den Brei, heißt es. Wo jeder seinen Senf dazugibt, kann nichts Genießbares herauskommen. Und je mehr Köche Hand anlegen, desto gewisser ist das Verderben. Im Fall der Berliner S-Bahn rührt in ein paar Jahren vielleicht eine ganze Kompanie an Küchenchefs im großen Topf, der heute noch ein weitgehend einheitliches, integriertes Verkehrssystem ist. Nach dem Willen der Berliner Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) können es gar nicht genug Akteure sein, die ab 2027 bei Betrieb und Unterhaltung von Deutschlands größtem S-Bahn-Netz mitmischen – von wegen „effektiver Wettbewerb“ bei „vernünftigen Preisen“ und „dauerhaft guter Qualität“.
Am gestrigen Donnerstag war Bewerbungsschluss. Bis zum 11. Februar, Punkt 12 Uhr, hatten Unternehmen aus ganz Europa Zeit, ihr Interesse an der Ausschreibung zur Vergabe des Fahrbetriebs für zwei Drittel des Netzes sowie zur Beschaffung und Instandhaltung eines modernen Fuhrparks zu bekunden. Die Antragsfrist war davor schon zweimal verlängert worden, zuletzt vor zwei Wochen. Ein „üblicher Vorgang“, wie die Senatspressestelle versicherte. Wer alles seinen Hut in den Ring geworfen hat, behält die Landesregierung freilich für sich. Geschäftsgeheimnisse müssen gewahrt bleiben, wo es um (mindestens) acht Milliarden Euro Steuergeld geht.
Gute Fahrt mit Hitachi
So viel soll das Projekt planmäßig kosten, wird es aber nicht. Wenn sich der Staat private Investoren ins Boot holt, sind Kostenexplosionen ausgemacht. Anschauungsunterricht liefert in unschöner Regelmäßigkeit das Bundesverkehrsministerium unter Führung von Andreas Scheuer (CSU). Lässt der eine Autobahn in öffentlich-privater Partnerschaft (ÖPP) bauen, was er mit Vorliebe macht, wird die Sache teurer und teurer. Auch bei der Berliner S-Bahn wird mit ÖPP operiert: Ein riesiger Fahrzeugpool von bis zu 2.160 Waggons soll auf diesem Wege beschafft werden. Käufer und auf dem Papier der Eigentümer wird das Land Berlin sein, die Besitzrechte werden aber bei den privaten „Partnern“ liegen.* Ihnen werden die Fahrzeuge für mindestens 30 Jahre zur Nutzung und „Instandhaltung“ überlassen. Wenn sie danach schrottreif sind, gehören sie Berlin dann auch ganz materiell.
Immerhin ahnen lässt sich, wer alles beim großen Reibach mitverdienen könnte. Da wären etwa Hitachi, Skoda oder eine Europatochter der China Railway Rolling Stock Corporation (CRRC). Sie alle hatten schon 2019 bei einer Markterkundung ihre Fühler ausgestreckt. Auf der Liste tauchten daneben Siemens, Stadler, Bombardier, Alstom, CAF aus Spanien oder die Mass Transit Railway (MTR) aus Hongkong auf. Auffällig ist die Häufung an Eisenbahnbauern, während bis auf die MTR kein klassischer Eisenbahnbetreiber darunter ist. Offenbar versprechen die Wagen die fette Rendite, weshalb sich um den Fahrbetrieb keiner reißt. Womöglich ist das auch der Grund für die Verzögerungen.
13 Akteure für ein Netz
Denn natürlich braucht es wen, der die Züge künftig fährt. Bisher erledigt das für das gesamte Netz die S-Bahn Berlin GmbH, eine Tochter der Deutschen Bahn AG. In sechs Jahren soll die aber nur noch die Ringbahn bedienen dürfen. Die Teilnetze Nord-Süd und Stadtbahn könnten dann ein oder zwei Konkurrenten übernehmen. Dazu kämen mithin noch zwei weitere, die für die beiden Teilnetze die Fahrzeuginstandhaltung besorgen, jene also, die davor für den Bau beziehungsweise die Beschaffung der Wagen zuständig waren. Der Internetblog „Zukunft Mobilität“ hat in einer Analyse nicht weniger als zwölf Akteure aufgezählt, die künftig im Gesamtsystem S-Bahn Berlin zugange sein könnten. Neben den Genannten sind das die Länder Berlin und Brandenburg, der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg, eine ländereigene Gesellschaft als Fahrzeugeigentümer, die DB Netz als Netzbetreiber, die DB Station & Service als Stationsbetreiber sowie die DB Energie als Energieanbieter. Überdies könnte ein Beteiligter mehr auf den Plan treten, sofern auch noch ein gesonderter Vertriebsdienstleister installiert wird, wie man das aus anderen Bundesländern kennt.
In dem Fall schlüge es dann wohl 13 und Zustände wie die im Jahr 2009, als bei der Berliner S-Bahn gar nichts mehr ging, könnten zur Gewohnheit werden. Wobei die aktuelle Ausgangslage mit der von damals nicht vergleichbar ist. Bis zum S-Bahn-Chaos vor elf Jahren war der Betrieb technisch und personell auf Verschleiß gefahren worden, um die DB-Konzernmutter, sprich deren Bilanzen, für den geplanten Börsengang aufzuhübschen. Dagegen wäre das absehbare Chaos in der Zukunft einem Wirrwarr an Zuständigkeiten geschuldet, weil die Vielzahl an Anbietern eine Vielzahl an Schnittstellen im Betriebsablauf, Doppelstrukturen, Ineffizienzen und obendrein immense Transaktionskosten zur Folge hätte.
Londoner Pleite-U-Bahn
Als Menetekel mag das Schicksal der Londoner U-Bahn dienen. Die „Tube“ war Anfang der 2000er Jahre in zwei Teile zerschlagen und teilprivatisiert worden. Die folgende Chaotisierung im Betrieb, der rasche Konkurs des Firmenkonsortiums Metronet sowie horrende Kostensteigerungen zwangen die Stadt schließlich zur vorfristigen Abwicklung des ÖPP-Projekts und zum Rückkauf der Anteile der zweiten Investorengruppe. Anschließend musste das niedergewirtschaftete System auf Staatskosten viele Jahre lang teuer saniert werden. Dabei war dieses Desaster nur der kleine Bruder des noch viel verheerenden Ausverkaufs der britischen Eisenbahn, British Rail. Die war in der 1990er-Jahren in nicht weniger als 100 Unternehmen aufgespalten worden, was den Beginn des Einzugs von Investmentfonds in den Bahnverkehr markierte.
Aber solche Schrecken schrecken die politischen Macher in Berlin nicht. Wie bei der Berliner Schulbauoffensive (BSO), die finanziell bereits völlig aus dem Ruder gelaufen ist, tun sie auch beim Thema S-Bahn so, als behielte der Staat beim Privatisieren die volle Kontrolle. Mehr noch, behaupten sie eisern, dass von Privatisierung gar nicht die Rede sein könne. Zum „Beweis“ will der von SPD, LINKE und Grünen gestellte Senat per Gesetz eine „Landesanstalt für Schienenfahrzeuge“ gründen, die für bis zu drei Milliarden Euro neue Waggons bestellen soll. Der Vizefraktionschef der Partei Die LINKE im Abgeordnetenhaus, Tobias Schulze, nannte das zuletzt „Einstieg in die Kommunalisierung“. Und Harald Moritz von der Grünen-Fraktion bemerkte: „Wenn die S-Bahn-Züge der Stadt Berlin gehören, ist es Kommunalisierung. Was sonst?“
Senat gründet Briefkastenfirma
Tatsächlich wäre die geplante Anstalt öffentlichen Rechts (AöR) kaum mehr als eine Briefkastenfirma, ähnlich den 1999 teilprivatisierten Berliner Wasserbetrieben (BWB). Die waren auch eine AöR, deren Geschäftsführung allerdings einem Konsortium aus RWE und Veolia übergeben wurde. Das Debakel war erst 2013 nach einem gewonnenen Volksentscheid zu Ende. Davor hat man die Berlinerinnen und Berliner über ein Jahrzehnt lang mit überteuertem Wasser abgespeist und den entstandenen Milliardenschaden musste die Allgemeinheit ausbaden. Die Umwandlung von einem ehemaligen landeseigenen Unternehmen in eine AöR war rückblickend sogar eine zentrale Vorarbeit der Privatisierung, woran sich der Senat nun bei der S-Bahn ein schlechtes Beispiel nimmt.
Nach dem Wortlaut der Gesetzesvorlage beschränkt sich die fragliche „Landesanstalt“ auf die „Verwaltung und Nutzungsüberlassung des erworbenen Vermögens an Dritte als Betreiber“ und weiter: „Eine eigene aktive Betätigung im Schienenpersonennahverkehr oder in der Durchführung von Service- oder Werkstattleistungen für die Fahrzeuge findet nicht statt“. Dieser Passus mache aus der AöR eine Verwaltungsstelle für die Privatisierung der S-Bahn und verbietet ihr sogar eine eigene Tätigkeit“, findet Carl Waßmuth vom Verein Gemeingut in BürgerInnenhand (GiB), der als eine von etlichen Organisationen am Bündnis „Eine S-Bahn für alle“ beteiligt ist. Zu den Unterstützern gehört auch Die LINKE Neukölln. Nach Meinung von Bezirksvorstandsmitglied Jorinde Schulz wäre die Landesanstalt eine „bloße ÖPP-Hülle“. Je nach Ausgang der Ausschreibung teilten am Ende „schlimmstenfalls mehrere Betreiber den Betrieb des S-Bahn-Netzes unter sich auf (…), Chaos ist da programmiert“. Investoren wären nicht an der langfristigen Entwicklung des Netzes interessiert, „sondern möchten innerhalb der Auftragslaufzeit so viele Gewinne wie möglich rausschlagen“.
Hoffen, Bangen und Mitmischen
Immerhin hat sich das mittlerweile auch in der Landespartei herumgesprochen. Per Leitantrag hat die Berliner LINKE auf ihrem Parteitag Mitte Januar beschlossen, für eine „Kommunalisierung der Berliner S-Bahn GmbH“ einzutreten, wofür Verhandlungen mit der DB und der Bundesregierung „schnellstmöglich“ starten müssten. Weiter heißt es:
„Eine Zerschlagung der S-Bahn und den Einzug weiterer privater Kapitalinteressen wollen wir im Sinne der Millionen Fahrgäste der Berliner S-Bahn und der Beschäftigten verhindern.“
Wie die NachDenkSeiten hier und hier berichteten, geben die Hauptstadtsozialisten bis dato ein ziemlich klägliches Bild bei dem Thema ab. Öffentlich warnen die Spitzen vor einer Zerschlagung der S-Bahn, unternehmen in der Regierungspraxis aber nichts, um den Gang der Ereignisse zu stoppen. Statt dessen bemüht man das Prinzip Hoffnung und baut darauf, dass die S-Bahn Berlin GmbH bei der Ausschreibung als alleiniger Sieger hervorgeht und der Betrieb in einer Hand bleibt.
Dabei ist es der ausdrückliche Wille der Verkehrssenatorin und das ganze Verfahren ist so angelegt, dass bei der Verlosung am Ende mehrere obsiegen. Kritiker bemängeln denn auch ein intransparentes und hochgradig komplexes Prozedere. Ein Auszug aus dem dreiseitigen Dokument „Vorgehensweise bei der Auswahl des wirtschaftlichsten Angebots“ mag dies veranschaulichen:
„Ist weder bei dem/n Sieger/n aus Schritt 3a, noch bei dem/n Sieger/n nach Schritt 3b die Beauftragung des Fachloses A in beiden Teillosen sichergestellt, so kommen allein Angebote für einen Zuschlag in Betracht, bei denen im jeweiligen Teillos die Beauftragung des Fachloses A erfolgen kann. Soweit sich nach Schritt 3a oder 3b ein Einzellosangebot auf das Fachlos B im Teillos durchgesetzt hat, in dem die Beauftragung des Fachloses A nicht möglich ist, oder sich in Schritt 3b ein Kombinationsangebot auf beide Fachlose B durchgesetzt hat, können diese Angebote nicht berücksichtigt werden.“
Selbstverbiegende Ökopazifisten
Noch Fragen? Offenbar schon: Bei besagtem Parteitag der LINKEN hatten gleich sechs Bezirksverbände und weitere Gliederungen einen Antrag eingebracht, der eine Beratung über den Abbruch der Ausschreibung fordert. Die Landtagsfraktion solle alternativ „ein Konzept für den Aufbau eines landeseigenen Unternehmens“ sowie „für einen Einstieg der Länder Berlin und Brandenburg in die S-Bahn Berlin GmbH“ entwickeln. Die Vorlage wurde in den Landesausschuss, zum „kleinen Parteitag“, verwiesen, der die Eingabe an diesem Wochenende behandelt. Auch innerhalb der SPD wächst der Widerstand. Bei ihrem Landesparteitag vom 31. Oktober 2020 plädierten zwei Anträge für ein „Nein zur Ausschreibung und Zerschlagung der S-Bahn“. Zitat:
„Wir wollen keine Privatisierung auf Kosten von Beschäftigten und Fahrgästen. Der S-Bahn-Betrieb muss aus einer Hand erfolgen.“
Selbst bei den Grünen im Bundestag vertritt man diese Position. In einem Fraktionsbeschluss vom 15. Dezember heißt es dazu:
„Insbesondere die klassischen S-Bahn-Systeme in Berlin oder Hamburg sind extrem komplex und haben eigene, teilweise sehr spezielle Anforderungen. Nur für solche Systeme sehen wir die Möglichkeit, den Ländern über eine Mehrheitsbeteiligung an den ausführenden Unternehmen die Direktvergaben zu ermöglichen, um bei diesen speziellen Eisenbahnsystemen die Komplexität zu reduzieren.“
Zu ihrer Statthalterin im Roten Rathaus ist dieser Rat nicht durchgedrungen, was einmal mehr zeigt, welche Abgründe bisweilen (und immer öfter) zwischen Parteiprogrammatik und Realpolitik klaffen – gerade bei den sich selbstverbiegenden Ökopazifisten.
Und so lädt ausgerechnet Deutschlands „einzige echte Klimapartei“ zum Festbankett für Banken, Finanzinvestoren und Hedgefonds nach Berlin. ÖPP-Vertragsnehmer kann nämlich jeder werden, zum Beispiel JP Morgan, Goldman Sachs oder BlackRock. Oder unter dem Dach nur eines Konsortiums bereichern sich gleich zwei, drei oder vier Heuschrecken zusammen und haben einen Wagenbauer wie Bombardier oder Stadler als Subunternehmer im Gepäck. Womit wir wieder beim Brei und den vielen Köchen wären. 13 könnten längst nicht reichen. Bauchweh garantiert.
* Korrektur 12.02.2021, 12:45 Uhr: Im Zuge der Ersetzung des Begriffes “Besitzer” durch den juristisch korrekten Begriff “Eigentümer” wurde der Satz leicht umformuliert.
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