Wenn die Erstürmung des Kapitols und die Reaktionen darauf eines gezeigt haben, dann das: Biden hat eine Chance verpasst, das Land zu einen und zu einem neuen Dialog zwischen den verfeindeten Lagern aufzurufen. Vielmehr hat er in aggressiver Weise die Ereignisse zu seinen Gunsten genutzt und so die Gräben in der amerikanischen Gesellschaft weiter aufgerissen, meint Diana Johnstone . Aus dem Englischen von Susanne Hofmann.
Biden instrumentalisiert seinen Vorteil im Kapitol
von Diana Johnstone
Was am 6. Januar im Kapitol geschah, war nicht überraschend. Es hätte vermieden werden können. Es hätte verhindert werden können, wenn das demokratische Establishment, das während Trumps gesamter Präsidentschaft Schlüssel der Macht in den Händen gehalten hatte, wirklich einen reibungslosen Übergang der Präsidentschaft gewollt hätte. Monatelang vor der Wahl hatte das elitäre Transition Integrity Project mit Unterstützung der liberalen Medien Alarm geschlagen, dass Trump verlieren und sich weigern würde, seine Niederlage anzuerkennen.
Dabei hätte es einen einfachen, naheliegenden Weg gegeben, ein solches Drama zu vermeiden, wie ich in meinem Artikel US-Präsidentschaftswahlen 2020: Bürgerliche Demokratie trifft Global Governance, schrieb, den die NachDenkSeiten am 6. Oktober 2020 veröffentlicht hatten:
„Sollte dem demokratischen Establishment eine friedliche Wahl und ein friedlicher Übergang wichtiger sein als die Möglichkeit, dass Trump das Wahlergebnis ablehnen könnte, schiene mir Folgendes klug und vernünftig: Man müsste Trump in den beiden Punkten beruhigen, die ihn in ihren Augen dazu bringen könnten aufzubegehren: Vorwürfe wegen Betrugs bei der Briefwahl und die Androhung strafrechtlicher Verfolgung.(…)
Was die Briefwahl angeht, so könnte es durchaus sein, dass Trumps Vorbehalte berechtigt sind. (…) In einem Zeitalter, in dem jeder jedes Dokument fotokopieren kann, in dem die Post lange braucht und es viele Möglichkeiten gibt, Stimmzettel verschwinden zu lassen, die Sorge vor möglichen Manipulationen naheliegt. (…)Warum versucht man nicht, um des Friedens im Lande willen, einen Kompromiss zu finden? Die Vizepräsidentschaftskandidatin der Demokraten und Senatorin aus Kalifornien, Kamala Harris, hat einen Gesetzesentwurf zur Einführung allgemeiner Briefwahlen vorgelegt. Warum dehnt man stattdessen nicht den Zeitraum für die Stimmabgabe aus und öffnet die Wahllokale nicht nur am zweiten Dienstag im November, sondern auch am vorhergehenden Samstag und Sonntag? Dies gäbe Wählern, die Angst haben, sich mit Covid-19 zu infizieren, die Möglichkeit, wie beim Gang in den Supermarkt Abstand zueinander zu halten. Es würde die Anzahl der Briefwähler sowie die Zeit zum Auszählen, vor allem aber die Verdächtigungen rund um die Briefwahl reduzieren. Doch je argwöhnischer Trump gegenüber der Briefwahl ist, desto mehr pochen die Demokraten darauf, eine allgemeine Briefwahl durchzuführen. (…)
Es wird immer deutlicher, dass der blinde Hass auf Trump ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es dem Establishment der Demokraten und seinen Anhängern nicht reicht, ihn bei der Wahl zu besiegen. Sie animieren ihn geradezu, die Wahl anzuzweifeln. Dann könnten sie etwas Aufregenderes und Entscheidenderes erreichen: einen echten Regime Change.“
Tatsächlich haben wir etwas noch Aufregenderes bekommen. Nicht gerade einen Regimewechsel, denn es ist vielmehr eine eindrucksvolle Bestätigung des Regimes, das es auch während Trumps vierjähriger weitgehend missglückten Amtszeit noch gab. Die Eile, mit der seine Berater und Verbündeten ihn in der letzten Stunde verließen, macht dies deutlich. Er war die ganze Zeit ein Präsident ohne Team, der sich auf die Einschätzungen, Rhetorik und Ratschläge seines Schwiegersohns und einiger weniger Insider, die in Wirklichkeit Außenseiter waren, stützte.
Was wir aber bekommen haben, ist in der Tat aufregend: einen angeblichen „Aufstand“, den Trump angezettelt haben soll, um „die Wahl zu stehlen“ (was völlig unmöglich gewesen wäre). Die tumultartigen Szenen wurden sofort ausgenutzt, um ihn und seine Anhänger in den Abgrund der Schande zu stoßen, wenn nicht sogar einer Strafverfolgung und Haftstrafe auszusetzen.
Eher wie Otpor
Das, was am 6. Januar geschah, war kein Aufstand. Wenn jemand wissen will, was ein Aufstand ist, dann sollte er sich über den von den USA unterstützten bewaffneten Aufstand informieren, der den gewählten chilenischen Präsidenten Salvador Allende am 11. September 1973 stürzte. Der Tumult im Kapitol ist eher mit dem Ereignis in Belgrad im Jahr 2000 vergleichbar, als mitten in den serbischen Präsidentschaftswahlen die von den USA trainierten “Otpor”-Aktivisten in das Parlamentsgebäude eindrangen und Wahlurnen in Brand steckten.
Oder jenen besonders einschlägigen Aufstand, als im Jahr 2014 nachweislich gewalttätige Demonstranten das ukrainische Parlament erstürmten und die Regierung stürzten – ein Ereignis, das der damalige US-Vizepräsident Joe Biden als großen Sieg für die Demokratie bejubelte. Oder den von Hillary Clinton geförderten Coup in Honduras, den beinah erfolgreichen Versuch, die Demokratie in Bolivien zu zerschlagen, oder die von den USA unterstützte Guaido-Farce in Venezuela, etc. etc. etc.
Nein, es ist kein Aufstand, wenn eine große Schar von Menschen, die meinen, ihr Kandidat sei betrogen worden, ihrer Wut Luft machen, indem sie in „ihr“ Parlament eindringen, ohne einen bestimmten Zweck zu verfolgen. Die meisten Eindringlinge irrten umher, machten Selfies und hatten keine klare Vorstellung davon, was sie als nächstes tun sollten. Im internationalen Vergleich war die „Gewalt“ am 6. Januar in der Tat sehr schwach ausgeprägt. Die einzige Waffengewalt war die Erschießung der unbewaffneten Trump-Anhängerin Ashli Babbitt, die bei ihrem abenteuerlichen Versuch, eine Sperrwand zu überwinden, ohne weiteres hätte zurückgestoßen werden können.
Das Eindringen ins Kapitol war weit davon entfernt, die Umsetzung eines Plans für Trump zu sein, es hatte gar den gegenteiligen Effekt. Die unmittelbare politische Folge des Aufbegehrens der undisziplinierten Menschenansammlung war, dass Republikanische Senatoren daran gehindert wurden, ihre Argumente gegen die Legitimität der Novemberabstimmung zu präsentieren. Wenn die Aktion überhaupt etwas bewirkte, dann war das zugunsten des designierten Präsidenten Biden.
Man könnte erwarten, dass ein wahrer Staatsmann im Augenblick seines Sieges die Qualitäten unter Beweis stellen würde, die es braucht, um eine Nation zu führen, indem er allen anbietet, sie als amerikanische Mitbürger zusammenzubringen. Er aber tat genau das Gegenteil.
Gleich am Tag nach den Geschehnissen im Kapitol wütete Biden in seinem kleinen Heimatstaat, dem Steuerparadies Delaware, gegen seine Gegner und bezeichnete sie als terroristischen Mob. „Das waren keine Demonstranten“, verkündete er. „Wagt nicht, sie Demonstranten zu nennen. Es war ein randalierender Mob. Aufständische. Inländische Terroristen. So einfach ist das.“
„Trump“, sagte Biden, „hat von Beginn an einen Generalangriff auf unsere demokratischen Institutionen geführt, und gestern war nur der Höhepunkt dieses unablässigen Angriffs.“ Trump hat das politische Klima vergiftet, mit der „Sprache, die Autokraten und Diktatoren überall auf der Welt benutzen, um sich an der Macht zu halten.“
Allerdings klang Bidens eigene Sprache weniger wie die eines großmütigen Siegers, der sein Volk einen will, als jene, mit der sich Autokraten und Diktatoren an der Macht halten möchten. Trump versuche, „den Willen des amerikanischen Volkes zu missachten“, sagte Biden, so wie es auch Trump von ihm sagte. Das Problem war, dass der „Wille des amerikanischen Volkes“ keineswegs einhellig war.
Die autoritäre Mitte
Schon vor seiner Amtseinführung hat uns der designierte Präsident Biden also einen bitteren Vorgeschmack auf die vor uns liegende Zeit gegeben. Es wird keine heilige Einheit geben, sondern einen noch tieferen Graben zwischen den „guten“ („woke“, abgeleitet von „awake“ (wach), beinhaltet einen auf Befindlichkeiten beruhenden, exklusiven moralischen Anspruch, der bestimmt, was akzeptabel oder „politisch korrekt“ ist und jede abweichende Meinung denunziert, „cancelt“ und ausgrenzt; Anmerkung der Übersetzerin) (1) Liberalen, den „bösen“ (Russen und andere Feinde „unserer Demokratie”) und den „hässlichen“ Amerikanern, die man als „inländische Terroristen“, „weiße Suprematisten“ und „Faschisten“ zu bezeichnen hat.
Die autoritäre Mitte, von den opportunistischen Republikanern bis zum „Squad“ (Als „Squad“ bezeichnet sich eine informelle Gruppe von gegenwärtig sechs jüngeren Kongressabgeordneten, die ihre gemeinsame Politik und ethnische Vielfalt betonen und als linker Flügel der Demokratischen Partei gelten. Sie befürworten mit großer Vehemenz die Zensur von Donald Trump und sogar den Ausschluss aus dem Kongress von gewählten Republikanern, die Trump unterstützen; Anmerkung der Übersetzerin), kann sich um die notwendige Säuberung von „inländischen Terroristen“ scharen, um deren Kommunikation auszuschalten und ihre Entlassung aus der Arbeit zu erwirken.
Das Establishment ist seit langem entschlossen, Trump zu vernichten. Nun ist auch die Rede von der „Säuberung“ all seiner Anhänger. Biden spricht bereits wie ein Kriegspräsident und fordert wie in einem großen Krieg Maßnahmen, um den Feind im Inneren zu bekämpfen.
Der oligarchische Charakter der amerikanischen Kriegspartei (Als „War Party“ bezeichnet man all die Politiker beider Parteien, die die Mittel für den militärisch-industriellen Komplex bewilligen, für Waffensysteme und das riesige Pentagon-Budget stimmen, die Kriege, Regimechange und Sanktionen unterstützen. Mit wenigen Ausnahmen bildet somit die Mehrheit der Abgeordneten und Senatoren, egal ob Republikaner oder Demokraten, die War Party; Anmerkung der Übersetzerin) zeigt sich an der Eile, mit der soziale Medien, die in privater Hand sind, Andersdenkende – selbst den noch amtierenden Präsidenten der Vereinigten Staaten – zum Schweigen bringen. Wer regiert eigentlich die Vereinigten Staaten? Ist der Präsident nur ein Beauftragter mächtiger Konzerne, dessen Rolle darin besteht, deren Interessen zu bedienen? Das Problem mit Trump ist, dass er nicht für diesen Job ausersehen worden war.
Trump schaffte es, Millionen unzufriedener Amerikaner für sich zu gewinnen, ohne ihnen ein kohärentes praktisches Programm anzubieten, um die Kriegspartei durch eine Politik zu ersetzen, die die Nation in einen Hort des Friedens und Wohlstands verwandeln könnte. Seine Verwirrung reflektierte die ideologische Verwirrung einer in Geschichte und politischen Ideen in skandalöser Weise unbeleckten Bevölkerung. Die Illusion, Trump sei der Führer, den oppositionelle Amerikaner brauchen, hatte Ashli Babbit das Leben gekostet und führte Tausende von Trump-Wählern in eine Falle. Trump selbst wurde in die Falle gelockt.
Eine völlig andere Herangehensweise ist nötig, um die Demokratie in den USA wiederherzustellen. Alle Rekurse auf Identitäten und Ideologien können die Verwirrung und die Gräben nur vertiefen, denn sie verhindern ein gegenseitiges Verstehen.
Durch ihren Rückgriff auf Identitäten und Ideologien scheint die Biden-Regierung entschlossen, die Verwirrung und die Gräben zu vertiefen. Ich bin fest davon überzeugt, dass nur eine zutiefst rationale, unvoreingenommene, sachliche und pragmatische Herangehensweise an klar definierte praktische Probleme den Vereinigten Staaten Frieden bringen kann, einen Frieden, der auch Frieden in der Welt begünstigen könnte.
Von außerhalb des Wirrwarrs ist es leicht, die wesentlichen Probleme zu benennen, welche die politische Diskussion in den Vereinigten Staaten prägen sollten. Stattdessen hören wir einen wütenden Schlagabtausch mit Beleidigungen. Die Establishment-Elite weigert sich, ihre Sichtweisen mit Populisten zu diskutieren, die als erbärmlich, rassistisch, frauenfeindlich, als weiße Suprematisten, Faschisten und nun sogar als „Terroristen“ diffamiert werden.
In ihrer unreflektierten Diffamierung der Elite beschreiben die Populisten wiederum die Wallstreet-Demokraten als „Sozialisten“ und schweifen ab mit Behauptungen von genozidalen Impfkampagnen, okkulten pädophilen Riten und Satanismus. Statt durch etwas, was einer eindeutigen politischen Entzweiung ähnelt, werden die USA zunehmend durch blinden, glühenden, gegenseitigen Hass gespalten.
Was das amerikanische politische Leben braucht, ist nicht noch mehr Zensur, sondern Selbstzensur der Vernunft. Davon sind wir weit entfernt.
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