Die Bilanz der bisherigen Amtszeit des rechtsgerichteten brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro ist eine einzige Katastrophe. Insbesondere im Zusammenhang mit der in Brasilien besonders hart wütenden Covid-19-Pandemie zeigt sich, dass Bolsonaro nicht nur auf ganzer Ebene versagt, sondern förmlich einen Krieg gegen sein eigenes Volk führt. Von Frederico Füllgraf.
Manaus, Landeshauptstadt des Bundesstaates Amazonas, Mitte Januar 2021. In der Universitätsklinik stirbt eine ganze Abteilung mit Covid-19-Patienten am Erstickungstod wegen Sauerstoffverknappung. Tränenübergossen, mit bebender Stimme hinter einer Atemschutzmaske, erstellt eine Krankenhelferin vom öffentlichen Gesundheitsdienst ein Handy-Video und fleht um Hilfe: „Überall ist der Beatmungs-Sauerstoff ausgegangen, es sterben zu viele, in Gottes Namen, wir brauchen Hilfe!“.
In der gleichen Notstation rennt eine Familie gegen die Zeit, um Sauerstoff für Joecy Coelho da Silva, 83 Jahre, zu beschaffen, die am 7. Januar wegen Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Ihr Enkel, der 32-jährige Werberedakteur Luis Queiros, suchte 43 Sauerstoff-Lieferanten auf, es gelang ihm jedoch kaum, den erforderlichen 10-Kubikmeter-Zylinder voll nachzuladen. Also mietete er einen 2-Kubikmeter-Zylinder für umgerechnet 80 Euro, der allerdings in weniger als einer Stunde ausgeht. Dennoch beschloss die Familie, sich am Gerät abzuwechseln, um der alten Frau per Hand Sauerstoff in die Lunge zu pumpen, was wiederum mit der Inkaufnahme eines Ansteckungs-Risikos der Beteiligten und der Virus-Übertragung auf die Verwandtschaft einhergeht.
Während der Behandlung einer anderen älteren Frau improvisiert der 23-jährige Krankenpfleger Klinger de Castro Falcão eine leere PET-Flasche als Zylinder. „Die Dame hat so hart um ihr Leben gekämpft, dass ich beim Versuch, ihr Leben zumindest zu verlängern, bis Sauerstoff kam, alles getan habe, was ich konnte, und auch, was nicht üblich ist. Es hat den Anblick des Absurden, dass eine Person im Bett sterben muss, nur weil nirgendwo Sauerstoff verfügbar ist. Doch wer für diese Zustände die Verantwortung trägt, wird eines Tages dafür zahlen müssen. Gehen Sie mit Gott, Frau Iolanda!“, beklagte Falcão auf Twitter.
Doch nicht nur Manaus geht buchstäblich die Luft aus, sondern auch dem tiefen Dschungel-Hinterland, wie dem 360 Kilometer westlich der Hauptstadt liegenden Amazonas-Uferstädtchen Coari. Dort erstickten seit dem 15. Januar mindestens sieben Covid-19-Patienten wegen Sauerstoffmangels. Der Bürgermeister macht den Landesgouverneur für die Tragödie verantwortlich. Nach den Indigenen im gesamten Amazonas-Gebiet fragt schon kaum ein Medium mehr, doch sind nicht weniger als 161 Stämme betroffen, deren Fallzahlen sich am 19. Januar 2021 auf 46.000 Ansteckungen und 925 Toten summierten.
Sauerstoff-Spenden aus Venezuela und China
Angesichts des Sauerstoff-Kollapses in Manaus ordnete die Landesregierung die Verlegung von mindestens 250 Patienten in Krankenhäuser von acht anderen Bundesstaaten an, die zum Teil einige tausend Kilometer von Amazonien entfernt sind. Die Staatsanwaltschaft von Amazonas leitete ihrerseits Untersuchungen über Ursachen und Verantwortliche für die Sauerstoff-Opfer ein und ermittelte bis zum 19. Januar nicht weniger als 51 Erstickungsopfer, die sehr wahrscheinlich höher liegende Dunkelziffer nicht mitgerechnet.
White Martins, der größte private Sauerstoff-Hersteller und Lieferant des brasilianischen Gesundheitssystems, erklärte, die explosionsartige Fallzunahme mit Krankenhaus-Internierung habe die tägliche Nachfrage mehr als verdreifacht, die ihre Produktionskapazität von 25.000 Kubikmeter/Tag bei weitem überstieg, und versprach, im Nachbarland Venezuela Ausschau nach Vorräten zu halten.
Dem kam am 14. Januar die Regierung Venezuelas zuvor, als ihr Außenminister Jorge Arreaza twitterte, „Auf Anweisung des Präsidenten @NicolasMaduro haben wir mit @WilsonlimaAM, dem Gouverneur des Bundesstaates Amazonas, Brasilien, gesprochen, um sofort den Sauerstoff zur Verfügung zu stellen, damit er die Gesundheitskontingenz von #Manaus bedienen kann. Lateinamerikanische Solidarität an erster Stelle!”. Unter brausendem Applaus brasilianischer und venezolanischer Ärzte erreichte drei Tage später ein venezolanischer Lkw-Konvoi mit 107.000 Kubikmetern Sauerstoff die brasilianische Grenze und fuhr nach 1.500 Kilometer langer Fahrt am nächsten Tag in Manaus ein.
Selbst konservative Medien wie TV Globo und die Tageszeitung O Estado de São Paulo widersprachen Fake News aus den Hassküchen der Bolsonaro-Medien und bestätigten die altruistische Geste der Regierung Nicolás Maduro: „Venezuela hat Sauerstoff für Manaus gespendet, im Gegensatz zu dem, was bestimmte Veröffentlichungen auf Facebook behaupten“. Am 22. Januar schloss sich China der Nothilfe für Manaus an. Ihr Botschafter in Brasilia twitterte, „Angesichts der Situation im Bundesstaat Amazonas haben chinesische Unternehmen und Verbände beschlossen, 1.700 Flaschen + 1900 kg Sauerstoff und eine große Menge an sanitären Hilfsgütern zur Bekämpfung der Pandemie zu spenden. Die Flagge Chinas weht neben der Flagge Brasiliens, um diesen Kampf zu gewinnen“.
Was deutschen Lesern kaum bekannt sein dürfte und die Gesten Venezuelas und Chinas bemerkenswert macht, ist, dass beide Länder seit der Machtübernahme des Bolsonaro-Clans, insbesondere von Bolsonaro-Sohn und Parlamentarier Eduardo, auf übelstem Niveau beschimpft und attackiert wurden. Stets auch mit der vollen Übernahme von Angriffen und Fake News Donald Trumps, sowohl im Hinblick auf die Ursprünge von Covid-19 als auch im US-chinesischen Disput um die 5G-Technologie. Die aggressive Haltung gegenüber Venezuela ging so weit, dass das Bolsonaro-Regime im Oktober 2020 US-Truppen für gemeinsame Militärübungen gegenüber dem nordwestlichen Nachbarland einlud und mit Ex-Außenminister Mike Pompeo Verbalattacken mit venezolanischen Flüchtlingen im Grenzgebiet organisierte.
Öffentliche und mediale Entrüstung löste Bolsonaros Reaktion auf die Sauerstoff-Spende aus Venezuela aus. Anstatt sich für die Geste zu bedanken – das Mindeste, das von jedem Staatschef fern aller ideologischen Differenzen erwartet wird – nutzte der psychopathologisch angeschlagene Präsident die Gelegenheit für die Infamie: „Venezuela sollte seinen eigenen Leuten Nothilfe leisten. Es gibt dort keinen Hund mehr – warum? Sie haben alle Hunde gefressen“.
Doch zurück zu den Ursachen der politisierten brasilianischen Gesundheits-Katastrophe.
Streichung der Covid-Nothilfe und Massenabsturz in die Armut
Für die Beschreibung der Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie in Brasilien mangelt es an Worten. Inkompetenz? Kleinreden? Unterlassungen? Ja, als „Administration“ sicherlich ein Gemisch davon, doch die dahinterstehende institutionelle Politik – soweit sind sich mehrere Analysten und Medien einig – ist seit Ausbruch der Pandemie in Brasilien von einer destruktiven, nahezu perversen Grundhaltung des Bolsonaro-Regimes geprägt, das die vormals respektable republikanische Bezeichnung „Regierung“ aufgegeben und sich sehr wohl in eines der finstersten und politisch isoliertesten „Regime“ im Weltmaßstab verwandelt hat.
Den abnormen und schockierenden Umgang mit der Pandemie machen die sozialpolitischen und gesundheitspolitischen Maßnahmen, beziehungsweise deren Unterlassung, deutlich. Seit 1. Januar 2021 erleben mehr als 65 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer, die ab 2020 eine ohnehin klägliche Covid-19-Nothilfe erhielten, den Rückfall in Indifferenz und Armut. Das Nothilfeprogramm startete Mitte 2020 mit monatlichen Zahlungen von 600 Reais (100 Euro), strandete jedoch im Dezember mit der Leistungshalbierung auf 300 Reais (50 Euro) und wurde seitdem eingestellt. Während der sechs Monatszahlungen sank der Armutsindex immerhin von 23 Prozent auf 20,9 Prozent.
Doch die rasant zugenommene Arbeitslosigkeit nimmt bedrohliche Ausmaße an. Nach Angaben des staatlichen Instituts für Geografie und Statistik (IBGE) verlor Brasilien zwischen 2019 und 2020 – nämlich im ersten Regierungsjahr Jair Bolsonaros – bereits 11,3 Millionen Arbeitsplätze. Seit Mai 2020 ist unter anderem infolge der Corona-Pandemie weniger als die Hälfte der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter im Land beschäftigt, womit die Arbeitslosenquote im dritten Quartal 2020 auf 14,6 Prozent anstieg und mit der Einstellung der Corona-Soforthilfe weiter ansteigen wird. Selbst Kristalina Georgieva, Generaldirektorin des weltweit wegen seiner Begünstigung sozialfeindlicher Wirtschaftspolitik bekannten Internationalen Währungsfonds (IWF), reagierte kritisch. Die Covid-19-Nothilfe müsse in Ländern wie Brasilien fortgesetzt werden, sie habe die Funktion des „Lebensretters“ und ihre Streichung erhöhe „die Gefahr der Armut und der sozialen Ungleichheit“, erklärte die Funktionärin.
Doch die Warnung stieß auf die tauben Ohren von Bolsonaros ultraliberalem Wirtschaftsminister Paulo Guedes, der einst in den Diensten von Chiles Diktator Augusto Pinochet stand. Ende 2020 hatte Guedes 650 Milliarden Reais (umgerechnet ca. 110 Milliarden Euro) an die größten Banken im Lande regelrecht verschenkt, während die Vergabe der Pandemie-Nothilfe an 65 Millionen Arme kaum die Summe von 294 Milliarden Reais – mit umgerechnet 50 Milliarden Euro weniger als die Hälfte der „Bankenrettung“ – gekostet hatte.
Sodann weitete das Regime nun die Behinderung der Covid-19-Bekämpfung auf den brasilianischen Gesundheitssektor aus.
Zwei Gesundheitsminister – dem Kreuzzug für das lebensgefährliche Chloroquin geopfert
Nach einer durchgeführten Umfrage zum Soft-Power-Index der britischen Beratungsfirma Brand Finance, die von 750 Spezialisten – darunter Journalisten, Geschäftsleute, Politiker, Akademiker sowie Mitglieder von Think Tanks und NGOs – in 30 Ländern die Wahrnehmung und Reaktion auf die Pandemie messen ließ, rangierte das Bolsonaro-Regime bereits Mitte 2020 mit dem schlechtesten Covid-19-Management auf dem letzten Platz weltweit.
Monate nachdem der ehemalige Fallschirmjäger im Präsidentenamt mit Bezeichnungen wie „mickrige Grippe“ die aufflammende Pandemie kleingeredet und jede Form von wissenschaftlich beratener, regierungsamtlicher Schutzpolitik in den Wind geschlagen hatte, gab er zu, nach einem Besuch bei Donald Trump zusammen mit 20 Delegationsmitgliedern positiv getestet worden zu sein. Die erste Reaktion der Öffentlichkeit, inklusive der Medien, war Schadenfreude. Viele Brasilianerinnen und Brasilianer waren der Meinung, dass die Infektion des Präsidenten verdient war, nachdem er mit abfälligen Worten wie „Na und?“ kein Mitgefühl, sondern obszöne Gleichgültigkeit für die rasant gestiegene Anzahl der Pandemie-Opfer gezeigt hatte, wie die NachDenkSeiten Ende Mai 2020 berichteten.
Doch nicht wenige seiner Landsleute vermuteten, Bolsonaro habe ebenso wie beim angeblichen und umstrittenen Messer-Attentat von Ende 2018 nochmal seine Wähler mit einer Inszenierung getäuscht; diesmal mit dem Ziel der Chloroquin-Missionierung. Die Werbeszene wurde drei Monate später wiederholt, als der neue Gesundheitsminister, General Pazuello, positiv auf Covid-19 getestet und von Bolsonaro besucht wurde. Wieder vor laufender Kamera feuerte Bolsonaro den kranken Minister dazu an, ein Loblied auf Chloroquin zu singen und als erfolgreiches Mittel gegen das Virus zu verkaufen. Trotz des zynisch anmutenden Gelächters verfolgte die Szene todernste Ziele, die Bolsonaro mit Pazuellos Vorgängern – den Ärzten Luiz Henrique Mandetta und Nelson Teich – nicht erreicht hatte.
Teich hatte Anfang Mai 2020 in den sozialen Netzwerken verkünden lassen, dass Chloroquin keine nachgewiesene Wirksamkeit besitzt und schwerwiegende Kollateralschäden verursacht. Woraufhin der Staatschef Mitte Mai dem Minister ein Ultimatum setzte: Entweder er nähme Chloroquin in die Behandlungs-Empfehlungen des Gesundheitsministeriums auf oder es gäbe Schwierigkeiten. Teich beugte sich nicht und nahm seinen Hut. Dass die Chloroquin-Verabreichung inzwischen einem regelrechten Psychoterror der militärischen Führung gehorchen muss, verdeutlicht zum Beispiel die durchgesickerte Stellungnahme eines Luftwaffenoffiziers. Nach seinen Angaben würden Luftwaffenärzte dazu genötigt, Covid-19-Patienten das wirkungslose, jedoch lebensgefährliche Mittel zu verschreiben.
Die genozidale Demontage der gewissenhaften Gesundheitsversorgung des Staates
Doch sollten die Zustände in Brasilien nicht als bloßes Missmanagement von Amateuren missdeutet, sondern eher als bewusst gesteuerte Sabotage interpretiert werden, auf die mehrfache Anzeichen hindeuten. Zum Beispiel im Fall Manaus.
Einige Tage vor der Erstickungs-Tragödie stattete Bolsonaros Gesundheitsminister, General Eduardo Pazuello, der Landeshauptstadt des Bundesstaates Amazonas einen Besuch ab. Der angebliche Logistik-Experte des Heeres – der in Fragen von Medizin und Gesundheitsverwaltung nicht die mindeste Vorbildung besitzt und aus rein ideologischen Gründen als dritter Gesundheitsminister in weniger als zwei Jahren das Amt bekleidet – wurde von örtlichen Medizinern und Politikern eindringlich vor dem bevorstehenden sanitären Chaos, insbesondere vor dem bevorstehenden Sauerstoffkollaps in öffentlichen und privaten Krankenhäusern gewarnt. Genauer: Der Bundesanwaltschaft (AGU) in Brasilia war bereits kurz nach Neujahr die Sauerstoff-Versorgungskrise bekannt, also musste auch der General darüber im Bilde sein.
Doch der hatte ein anderes Programm für Manaus geplant, nämlich eine Werbekampagne für eine App des Gesundheitsministeriums, genannt „TrateCOV: Anwendung hilft Ärzten bei der Diagnose von Covid-19“. Mit Billigung der rechtsextrem längst unterwanderten brasilianischen Ärztekammer empfiehlt die App „vorbeugende Behandlung“ von Covid-19-Infizierten mit Chloroquin. Obwohl weltweit, auch in Deutschland, von Medizinern und Wissenschaftlern vor der Verabreichung des Malaria-Behandlungsmittels gewarnt wird – das nicht nur wirkungslos ist, sondern gefährliche Nebenwirkungen wie Herzversagen, Schlaganfall und Leberschäden haben kann – werden Chloroquin und Hydroxychloroquin seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie als Allerweltsmittel vom Bolsonaro-Regime nicht nur propagiert, sondern angesteckten Kranken nahezu aufgezwungen.
Die Chloroquin-Anbetung und -Verbreitung haben dabei zweierlei Hintergründe. Zum einen gehört das brasilianische Heer, unter anderem wegen der Vorbeugung vor Malaria in seinen Dschungel-Kasernen entlang des Amazonas, zu den landesweit größten Chloroquin-Verbrauchern und besitzt Vorräte der Droge für die kommenden 18 Jahre. Doch zur Mode-Droge wurde das Mittel erst, nachdem Ex-US-Präsident Donald Trump am 21. März 2020 twitterte, „Hydroxychloroquin und Azithromyzin haben zusammen eine echte Chance, die Geschichte der Medizin zu verändern. Ich hoffe, dass beide SOFORT eingesetzt werden. Menschen sterben, bewegt Euch rasch und Gottes Segen für alle!”.
Laut einer damals von der New York Times veröffentlichten Umfrage reichte dieser Tweet Trumps aus, um die Hydroxychloroquin-Verschreibungen um das 46-Fache in US-amerikanischen Haushalten explodieren zu lassen. Drei Monate später widerrief jedoch die Food and Drug Administration (FDA) die im März 2020 für US-Krankenhäuser erteilte Genehmigung zur Notfall-Verabreichung von Hydroxychloroquin an Covid-19-Patienten. „Nach neu gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnissen in einer laufenden Untersuchung hat die FDA festgestellt, dass Chloroquin und Hydroxychloroquin bei der Behandlung von Covid-19 wahrscheinlich nicht wirksam sind. Die bekannten und potenziellen Vorteile beider Medikamente dürfen nicht die bekannten und potenziellen Risiken ihrer Verwendung verkennen“, hieß es in einer FDA-Erklärung vom 15. Juni 2020.
Das hielt Jair Bolsonaro nicht davon ab, Anfang Juli 2020 in einem Video als Werbe-Apostel aufzutreten, die Droge vor laufender Kamera zu schlucken, zuzugeben, dass die Wirksamkeit des Mittels wissenschaftlich nicht erwiesen sei, er der Behandlung „trotzdem vertraue“. „Und Du?“, provozierte der Cover-Boy im Präsidentensessel seine Zuschauer, die er wiederholt zu Aufmärschen gegen sanitäre Grundmaßnahmen, wie Atemschutzmaske und sozialen Abstand, anfeuerte.
Im Laufe der Monate attackierte Bolsonaro die von zahlreichen Landesgouverneuren aufgegriffenen und angewendeten Empfehlungen Teichs, darunter die Pflicht zur Atemschutzmaske und sozialen Abstandshaltung, und ging in die Offensive zum „Schutz der Wirtschaft”, die nach seiner falschen, verlogenen Darstellung von den sanitären Grundmaßnahmen „erdrosselt“ worden sei.
Sauerstoff-Kollaps, Virus-Mutation in Amazonien und die Ausweitung der Katastrophe
Die Katastrophe in der amazonischen Landeshauptstadt ist, bildlich gesprochen, nur die Spitze eines schmutzigen Eisbergs bereits genannter Zustände, die mit dem zusätzlich inszenierten Impf-Chaos einen himmelschreienden Anschlag auf Gesundheit, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit erkennen lässt.
Sie begann mit Bolsonaros seit Monaten angefeuerter Rebellion gegen jede restriktive Lockdown-Maßnahme, die am vergangenen 26. Dezember 2020 in Manaus in einem Massenprotest von Groß- und Kleinhandel gegen die von der Landesregierung Wilson Lima neu angeordnete, mehrwöchige Quarantäne gipfelte. Der Teil-Lockdown war mit der rasanten Fallzunahme, der Masseneinlieferung in Ortskrankenhäuser und deren bedrohlicher Kapazitätsauslastung nach weihnachtlichem Massenandrang auf den Straßen, bei Familienzusammenkünften und Feiern begründet worden. Bolsonaro bezeichnete die Maßnahme als „absurd“ und befeuerte die Proteste. Woraufhin Lima, der dem Präsidenten nahesteht, einen Rückzieher machte und alles beim Alten, also bei der Masseninfizierung blieb.
Die Krise erreichte das Ausmaß der Katastrophe, als Mediziner in Japan zu Jahresbeginn eine Covid-19-Mutation bei aus Manaus eintreffenden japanischen Touristen diagnostizierten. Diese Amazonas-Variante sei „sehr wahrscheinlich“ ansteckender als die britische oder südafrikanische Mutation, erklärte der Virologe Felipe Naveca von der Regionalniederlassung Manaus der staatlichen Stiftung FioCruz für medizinische Forschung und Virologie. Doch warum wäre die Mutation ausgerechnet im brasilianischen Amazonien aufgetreten? Eine der Hypothesen sei, so Naveca, dass sie auf eine sehr große Fall-Anzahl zurückzuführen ist. Die katastrophale Lage in Manaus sei nicht allein auf eine Virus-Mutation zurückzuführen, vor der rasanten Fallzunahme als Folge der Jahresendfeierlichkeiten sei schließlich rechtzeitig gewarnt worden, bekräftigt der Wissenschaftler mit einem dramatischen Appell: „Wir brauchen dringend Unterstützung der Bevölkerung, um die Übertragung zu verringern und die Entwicklung des Virus zu stoppen”.
Doch das Chaos im Bundesstaat Amazonas droht bereits auf andere Landesteile überzugreifen, darunter auf den bevölkerungsdichtesten und -reichsten südbrasilianischen Bundesstaat São Paulo, in dem die Reproduktionszahl (R) gegenwärtig 1,45 erreicht. Das Multiplizieren der Rate mit 100 Patienten bedeutet, dass sie 145 Menschen infizieren können, die wiederum 210 infizieren werden, erklärte der Koordinator des Covid-19-Infotrackers an der Landesuniversität Sao Paulo (Unesp), Prof. Wallace Casaca, gegenüber dem Nachrichtenportal UOL. Auf dem Höhepunkt der Masseninfizierung, des Krankenhaus-Kollapses und der Erstickungstode erklärte Bolsonaro am vergangenen 16. Januar, „soziale Isolierungsmaßnahmen töten mehr als Covid-19“.
In ihrem Jahresbericht World Report 2021: Brasil ging die einflussreiche und eher dem konservativen Lager zuzurechnende NGO „Human Rights Watch“ (HRW) scharf mit Bolsonaro ins Gericht. „Gegen die Versuche des Obersten Gerichtshofs (STF), des Kongresses und der Landesgouverneure, den Schutz der Brasilianer vor der Krankheit zu sichern, versuchte Präsident Jair Bolsonaro die gleichen Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit zu sabotieren“, warnte die in New York ansässige Menschenrechts-Organisation. Abgesehen vom Sturz zweier Gesundheitsminister zählt HRW zu den erwiesenen Boykotthandlungen Bolsonaros u.a. Auftritte ohne Atemschutzmaske, Weigerungen, Maßnahmen zum Schutz der ihn umgebenden Personen zu ergreifen, ferner Fake-News-Verbreitung und die Behinderung der Veröffentlichung von wissenschaftlich korrekten Covid-19-Daten. „Präsident Bolsonaro hat das Leben und die Gesundheit der Brasilianer stark gefährdet, indem er versucht hat, die Bemühungen zum Schutz vor der Ausbreitung von Covid-19 zu sabotieren“, erklärte Anna Livia Arida, Brasilien-Geschäftsführerin von HRW.
Bolsonaros Feldzug gegen Covid-19-Impfung
Ende Januar begann schließlich auf vehementen Druck der Öffentlichkeit, der Medien und der politischen Opposition die Covid-19-Impfung in mindestens zehn brasilianischen Bundesstaaten – doch „ohne Impfstoff, ohne Spritze, ohne Nadel und ziellos“, wie der renommierte brasilianische Neurologe und Covid-19-Netzwerk-Gründer, Prof. Miguel Nicolelis in der spanischen El País zu bedenken gab.
Indes ging der Impfung eine systematische Kampagne Bolsonaros gegen jedweden Impfstoff voraus. Am jüngsten Heiligabend brachte er die Provokation in Umlauf, „das Virus selbst ist der beste Impfstoff gegen Covid-19”. Sodann kritisierten der Präsident und Gesundheitsminister Pazuello das deutsch-US-amerikanische Impf-Joint-Venture Pfizer/BioNTech, weil die Firmen angeblich keine oder nur eine Teilbelieferung von 9 Millionen Dosen garantiert hätten. Anfang Januar widersprachen beide Firmen allerdings der falschen Darstellung mit der nachweisbaren Zusicherung, sie hätten Brasilien 70 Millionen Dosen des Impfstoffs bereits im August 2020 angeboten und deren Lieferung für Dezember 2020 versprochen. Bolsonaro schob jedoch die Verhandlungen ganze vier Monate vor sich her und erklärte im Dezember, „ich lasse mich von niemandem unter Druck setzen“. Doch auch die Versorgung mit Rohstoff-Elementen für die Herstellung des chinesischen CoronaCav-Impfstoffs in Brasilien stockte nach wütenden Angriffen des Bolsonaro-Sohns und Parlamentariers Eduardo auf die Regierung Chinas mit dem folgenden diplomatischen Eklat.
Während nun Brasilien das Thema Impfstoff debattierte, gestand die Regierung der sprachlosen Öffentlichkeit, nicht einmal die erforderliche Anzahl von Einwegspritzen auf Lager zu haben; nämlich nur 7,9 Millionen von für die zweistufige Impfung notwendigen 331 Millionen Spritzen. Und wieder verhielt sich der Staatschef als Saboteur, als er sich weigerte, die auf dem Markt angebotenen Ausrüstungen wegen angeblich zu hohem Preis zu kaufen. So drohte die Virus-Katastrophe sich zur programmierten Tragödie auszuweiten, weil das Land bisher lediglich über 4 Prozent des erforderlichen öffentlichen Impfstoffs verfügt, während Privatkliniken versuchten, ihrer finanziell gut ausgestatteten Klientel auf Umwegen 5 Millionen AstraZeneca-Impfdosen aus Indien zu besorgen und somit die Oberschicht privilegierende Impfstoff-Versorgung zu privatisieren.
Juristen fordern Anklagen, Medien verlangen einen „Nürnberger Prozess“ und Bolsonaro droht mit Militärputsch
Unter dem Titel „Freibrief für den Tod“ riskierte der renommierte Journalist Janio de Freitas Mitte Januar in der Tageszeitung Folha de S. Paulo einen Vergleich zwischen dem massiven Erstickungstod in Manaus und den Gaskammern der Nazis: „Erstickung ist als eine der schmerzhaftesten Formen des Todes bekannt und sie steigert nur unser Entsetzen über die Todesfälle in Konzentrationslagern der Nazis, in Gaskammern wegen früheren Todesurteilen in den USA, sowie in Fällen krimineller Perversionen“. Der Jurist Mauricio Dieter meinte jedoch, der Vorwurf des Genozids sei nur schwer nachzuweisen, doch „womit wir es hier zu tun haben, ist eine Politik der Banalisierung des Todes“.
„Es gibt keine kristallklareren Beweise für die Begehung von Unterlassungs-Verbrechen (Anm. F. F.: bzw. grober Amtsverletzungen) des Präsidenten der Republik als sein Versuch, gegen die Unverletzlichkeit des Rechts auf Leben vorzugehen. Es ist dringend erforderlich, die Garantie der Grundrechte im Land wiederherzustellen“, verlangte der Vorsitzende der Brasilianischen Anwaltskammer (OAB), Felipe Santa Cruz.
Die Juristin Deisy Ventura argumentiert, dass die Staatsanwaltschaft dazu verpflichtet werden sollte, „die Lüge von der sogenannten ´frühzeitigen Covid-19-Behandlung´ mit Chloroquin zu verbieten“. Die Justizialisierung der Pandemie wächst zwar in Brasilien, doch die Rechenschaftspflicht stößt auf den privilegierten Status und die Immunität des Präsidenten und die Haltung der Generalstaatsanwaltschaft (PGR), die diesen Forderungen nicht nachkommt, beklagt Ventura. Sie glaubt dennoch, dass unabhängig von der genauen Fassung des Völkermord-Vorwurfs der Internationale Strafgerichtshof (IstGH) und das Interamerikanische System zum Schutz der Menschenrechte Ermittlungen gegen Bolsonaro einleiten könnten. „Es ist sehr schwierig zu wissen, ob etwas passieren wird, aber diejenigen, die jahrelange Erfahrungen in solchen Situationen im internationalen Kontext besitzen, haben plötzlich Prozesse erlebt – insbesondere dann, wenn die internationale Meinung und das wirtschaftliche Szenario umschwenken – die zunächst unmöglich zu sein schienen“, hofft Ventura.
Jetzt auch von Teilen seiner eigenen rechtskonservativen Wähler mit ohrenbetäubendem Töpfe-Trommeln und Protestkonvois in die Enge getrieben, die seine sofortige Amtsenthebung fordern, täuscht Bolsonaro einerseits vor, auf die landesweite Forderung nach Sofortimpfung einzulenken, setzt jedoch andererseits auf Konfrontation mit der Androhung eines Militärputsches mitten in der Pandemie.
Die Kolumne von Janio de Freitas hatte offenbar das Ziel, die zwei Tage zuvor erhobene Forderung seiner Kollegin Cristina Serra in der gleichen Zeitung zu stärken. Unter dem Titel „Bolsonaro verdient einen Nürnberger Prozess“ verglich die Journalistin die kriminellen Handlungen des Staatschefs mit Kriegsverbrechen. Sie schrieb: „Augenzeugenberichte von Ärzten und Krankenschwestern in sozialen Netzwerken, Bilder der Verzweiflung in Krankenhäusern, Dokumente, Anweisungen zur Anwendung von Chloroquin oder „Frühbehandlung“ gegen das Virus, Zeugnisse von Angehörigen der Opfer. Alles, was als Beweis für ein Verbrechen gegen die öffentliche Gesundheit verwendet werden kann, muss von den Bürgern aufbewahrt werden. Bolsonaro und seine Bande müssen vor ein Nürnberger Gericht gestellt werden. Nur eine Untersuchung in der gleichen Größenordnung kann die groß angelegte Grausamkeit erklären, die gegen die brasilianische Bevölkerung als Übel ausgeübt wird. Dies muss mit pädagogischer Absicht aufgedeckt werden, um von den nächsten Generationen erkannt zu werden und um zu verhindern, dass sich so etwas wiederholt. Wie Nürnberg bei den NS-Kriegsverbrechen“.
Ähnliches fordert der renommierte US-amerikanische Linguist und Menschenrechts-Aktivist Prof. Noam Chomsky. Es sei an der Zeit, erklärte er, ein internationales Tribunal einzurichten, das das totale Versagen der Regierungen von Boris Johnson, Donald Trump, Jair Bolsonaro, Narendra Modi und anderer neoliberaler Staatschefs akribisch untersucht und sie zur Rechenschaft zieht, um die Covid-19-Infektionskette zu durchbrechen. Ein solches Tribunal, so Chomsky, würde Fakten und Hintergrundinformationen sammeln, die sicherstellen, dass wir diesen Staaten nicht erlauben, die Szene am Tatort zu manipulieren. Das Tribunal würde sodann dem Den Haager IStGH eine solide Grundlage für eine forensische Untersuchung dieser Verbrechen gegen die Menschlichkeit bieten, wenn seine eigene politische Erstickung gelindert wird. Wir sollten alle empört sein. Aber die Empörung ist noch nicht stark genug.
Angesichts dieser ungeheuerlichen Menschenverachtung durch eine politisch gelenkte Katastrophe stellt sich die Frage, worauf warten die deutsche Bundesregierung, die Europäische Union und ihre Kommission eigentlich noch, um diese Verbrechen aufs Schärfste zu verurteilen und internationale Sanktionen mit der gleichen Sorge zu verhängen, wie sie üblicherweise wegen angeblichen oder unvergleichbar bedeutungsloseren Vergehen eiligst gegen Russland oder Venezuela erlassen werden.
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