In seinem neuen Buch „Rebellion oder Untergang!“ klärt Noam Chomsky eindrücklich über die existentiellen Bedrohungen durch Atomwaffen und den Klimawandel auf. Er stellt diese Bedrohungen in den Kontext einer nie dagewesenen globalen Macht der Konzerne, die mittlerweile die führende Rolle bei der Gestaltung unserer Zukunft übernommen haben und die Demokratie mehr und mehr aushebeln. Für die deutschsprachige Ausgabe des Buches, das heute erscheint, hat Michael Schiffmann ein Interview mit Noam Chomsky geführt über die Wahlen im November und die Zeit nach Trump – keine rosigen Aussichten. Ein Auszug.
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Michael Schiffmann: Warum haben die Demokraten aus den Geschehnissen unter Trump nicht mehr Kapital geschlagen? Wo sehen Sie die großen Defizite auf Seiten der Demokraten und wie könnten diese überwunden werden?
Noam Chomsky: Das Hauptproblem ist, dass es nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland, in England und in einem Großteil der Welt einen großen Teil der Bevölkerung gibt, der sehr stark unter den bösartigen Folgen des Neoliberalismus gelitten hat. Nehmen wir die Vereinigten Staaten als Beispiel, wo die Daten sorgfältig analysiert und aufbereitet worden sind.
Die RAND Corporation, ein großer Think Tank mit engen Verbindungen zum Staat, hat gerade eine Studie über den Vermögenstransfer von der Arbeiterklasse und der Mittelklasse – was nach den Definitionen der Studie 90 Prozent der Bevölkerung entspricht – an die Ultrareichen im Lauf der letzten vierzig Jahre publiziert. Nach ihrer Schätzung waren das 47 Billionen Dollar.
Aber das ist noch eine sehr gewichtige Untertreibung. Die Studie lässt eine Menge anderer Dinge außer Acht, die geschahen, nachdem Reagan für die Reichen den Geldhahn aufdrehte und sagte, nehmt euch, was ihr wollt, und bereichert euch. Da sind etwa die Zig-Billionen von Dollar, die in Steueroasen geschleust werden.
Das heißt, in Wirklichkeit sprechen wir, wenn man alles mit einberechnet, von einer Summe, die dem jährlichen Bruttoinlandsprodukt der ganzen Welt entspricht.
Ja, das ist der Transfer, ein anderes Wort dafür ist Raub, und die unteren 90 Prozent leiden darunter, aber die Demokraten bieten ihnen hier absolut nichts an. Die Demokraten haben der Arbeiterklasse in den 1970er-Jahren den Rücken gekehrt. Sie sind eine Partei von reichen Freiberuflern und der Wall Street. Das sind die Clinton-Demokraten, die in der Partei das Heft in der Hand haben.
Aber die Demokraten haben ebenfalls eine Basis, die Anhänger der Partei, und diese Basis ist viel fortschrittlicher. Aber wir sollten auch nicht übertreiben, wie progressiv sie ist. Nehmen wir Bernie Sanders. Ich erkenne durchaus an, dass er sehr gute Arbeit geleistet hat, aber nach europäischen Standards ist er ein gemäßigter Sozialdemokrat. Tatsächlich hat die Mitherausgeberin der Londoner Financial Times, Rana Foroohar, eine sehr gute Kolumnistin, in einer ihrer jüngsten Kolumnen nur halb zum Scherz geschrieben, dass Bernie Sanders, wenn er sich in Deutschland zur Wahl stellen würde, als Kandidat der Christdemokraten antreten könnte. Und das ist nicht weit von der Wahrheit entfernt.
Nein, bestimmt nicht. In diesem Zusammenhang sollten wir dennoch hinzufügen, dass dieselbe Wende nach rechts sich auch in Europa vollzogen hat, wenn auch nicht so schnell wie in den USA. So zum Beispiel, wenn Jeremy Corbyn so unglaubliche Dinge wie Internetzugang für alle verlangt hat, worüber man jetzt in Großbritannien sehr froh wäre, aber letztes Jahr wurde er für solche gemäßigt sozialdemokratische Positionen verdammt. Wir haben also ähnliche Entwicklungen hier in Europa, aber nicht so schlimm wie in den Vereinigten Staaten.
Ja, und die Quelle dafür ist weitgehend dieselbe. Die Zahlen der RAND Corporation geben einen Eindruck davon. Es hat einen massiven Angriff auf die große Mehrheit der Bevölkerung gegeben, und es gibt sehr wenig Schutz oder Verteidigungsmechanismen dagegen. Was die neoliberalen Programme betrifft, verstanden Reagan und Thatcher oder, besser gesagt, die Kräfte, die hinter ihnen standen, sehr gut, dass sie, wenn sie diesen Angriff auf die Bevölkerung durchführen wollten, dieser die Mittel, sich zu verteidigen, aus der Hand schlagen mussten.
An der Regierung war dann ihr erster Schritt ein Angriff auf die Gewerkschaften und deren Unterminierung – ein Schritt, der sehr erfolgreich war. Sie öffneten die Tür zu einem umfassenden Krieg gegen die Gewerkschaften, der dann von ihren Nachfolgern fortgesetzt wurde, so etwa mit Clinton und der von ihm vertretenen besonderen Form von neoliberaler Globalisierung: wirksame Schutzmaßnahmen für das Kapital und die Superreichen und ein Ausspielen der arbeitenden Menschen gegen die ärmsten und unterdrücktesten Arbeiter auf der ganzen Welt, eine perfekte Situation für die Unterminierung der Position der Arbeiterklasse und für die Bereicherung des Privatsektors.
Sehen Sie irgendwelche Risse in der hegemonialen Position des Democratic National Committee (DNC)? Beobachten Sie irgendwelche Tendenzen in der Demokratischen Partei, die das verändern könnten?
Die Demokratische Partei ist gespalten. Da ist das an der Clinton-Linie orientierte neoliberale Democratic National Committee an der Spitze der Partei, aber dann ist da auch noch die Wählerbasis. Bei der sieht es ganz anders aus. Sie ist gemäßigt progressiv. Und darüber hinaus sorgt sie sich auch um die entscheidenden Fragen, die von der Führung fast vollkommen marginalisiert oder sogar unterdrückt werden. So wurde während der Präsidentschaftskampagne sehr wenig, eigentlich so gut wie gar nichts über die wachsende Gefahr eines Atomkriegs gesagt, die sehr groß ist. Trump ist jetzt aus dem Rüstungskontrollregime ausgetreten und plant riesige neue Ausgaben für fortgeschrittenere, noch gefährlichere Waffen, eine radikale Erhöhung des Verteidigungshaushalts, ganz zu schweigen davon, dass auch die Demokraten diese Politik unterstützen.
Tatsächlich gibt es da einige recht interessante Daten zu dieser Frage. Kurz nach den Wahlen gab es eine Umfrage auf dem rechtspolitischen Sender Fox News. Und bei dieser Umfrage nach den Wahlen kam heraus, dass 72 Prozent der Befragten für eine staatliche Gesundheitsversorgung waren, 71 Prozent waren für die Beibehaltung der Freiheit zur Abtreibung, 55 Prozent waren für schärfere Waffengesetze und so weiter und so fort. Aber es gab eine große Ausnahme: Die Ausnahme betraf die Gefahr eines Atomkriegs. 96 Prozent waren sich darin einig, dass man genauso militant kriegsbereit sein sollte wie jetzt oder sogar noch militanter.
Nun, die Bevölkerung insgesamt befürwortet mild sozialdemokratische Programme, aber die politische Klasse ist dagegen. Nehmen wir etwa Bernie Sanders’ wichtigste Vorhaben, die tatsächlich starke Unterstützung in der Bevölkerung genießen. Das eine ist die staatliche Gesundheitsversorgung für alle, das andere ein kostenloses Hochschulstudium. Und das wird schon als zu radikal betrachtet! Die politische Klasse ist dagegen, man kann darüber nicht einmal sprechen. Aber so gut wie alle anderen Länder haben das!
Nehmen wir an, in Deutschland würde jemand sagen, ich bin für Gesundheitsversorgung für alle und für ein gebührenfreies Studium. Gäbe es da einen Chor des Protests und würde es heißen, dass das völlig undenkbar sei? Die USA sind eine von Großunternehmen beherrschte Gesellschaft, die sich von anderen Gesellschaften sehr stark unterscheidet. Sie ist in vielerlei Hinsicht sehr frei und vielen anderen Gesellschaften im Hinblick auf den Schutz der Bürgerrechte weit überlegen, wird aber von den Unternehmen beherrscht und selbst die elementarsten Bedingungen für soziale Gerechtigkeit, die anderswo als selbstverständlich betrachtet werden, sind höchstens rudimentär vorhanden.
Die demokratische Wählerbasis ist für die sozialdemokratischen Programme, das Democratic National Committee ist es nicht. Nehmen wir die wichtigste Frage, der wir derzeit gegenüberstehen und mit der wir uns rasch auseinandersetzen müssen: die Aufwärmung der Erdatmosphäre. Wenn wir das nicht sehr bald tun, ist alles andere sowieso unwichtig.
Die Basis der Demokratischen Partei hat es geschafft, Biden und Harris dazu zu bringen, zumindest einige Punkte zum Klimawandel in ihr Programm aufzunehmen. Das ist nicht genug, aber immerhin etwas und tatsächlich mehr als je zuvor in der Vergangenheit. Das Democratic National Committee wollte davon nichts wissen. Sie wollten es blockieren. Und wenn man zurück zu den Wahlen geht und sie sich näher ansieht, ist das einer der Gründe, warum die Demokraten nicht mit großer Mehrheit gewonnen haben.
Eines der großen Probleme genau wie bei der vorigen Wahl war, dass ein Kandidat sieben Millionen Stimmen mehr als der andere hatte, und bei der Wahl von 2016 waren es fast drei Millionen. Dennoch bestand die Gefahr, dass Trump wiedergewählt würde, was natürlich mit diesem antiquierten System des Wahlmännerkollegs zu tun hat. Aber das ist ja nur ein Teil des Problems. Der andere besteht in dieser Form des Mehrheitswahlrechts, bei der der Gewinner alle Stimmen bekommt, und es gibt noch eine Menge anderer Probleme mit dem demokratischen politischen System in den Vereinigten Staaten. Sehen Sie irgendwelche Wege oder Versuche, diese Probleme zu lösen?
Das wird nicht leicht sein. Es ist ein sehr undemokratisches System. Eine wichtige Studie, die gerade erschien und die nicht genügend Aufmerksamkeit bekam, aber eine sehr sorgfältige, detaillierte, auf Daten basierende, gründliche Analyse ist und frühere solche Studien in noch größeren Einzelheiten bestätigte, zeigte, dass 90 Prozent der Bevölkerung, die unteren 90 Prozent, letztlich im politischen System gar nicht repräsentiert sind.
Das heißt, dass es keine Beziehung zwischen ihren Wünschen und Haltungen und dem Stimmverhalten ihrer eigenen politischen Vertreter gibt. Die hören nämlich auf ganz andere Stimmen, und das sind die Stimmen der Reichen und Mächtigen, die Stimmen der »Spenderklasse«. Das bedeutet, dass der Standpunkt von 90 Prozent der Bevölkerung gar nicht repräsentiert ist.
Das ist ein gravierender Faktor, der zu den strukturellen Problemen, die Sie gerade erwähnt haben, noch hinzukommt. Und da ist das Wahlmännerkolleg ja schon schlimm genug, aber der Senat ist noch viel, viel schlimmer. Der Senat ist vollkommen undemokratisch. Ein Staat wie Wyoming, der vielleicht eine halbe Million Einwohner hat, hat zwei Senatoren und Kalifornien hat 40 Millionen Einwohner und zwei Senatoren. Die einzige Art, wie das verändert werden kann, ist durch einen Verfassungszusatz, aber es gibt genügend Senatsstimmen von den kleinen Staaten mit rechter Mehrheit, um einen solchen Verfassungszusatz zu verhindern. Das ist also eine regelrechte Verfassungskrise, die im Übrigen ganz unabhängig ist von Trump und schon seit langer Zeit vor sich hin gärt.
Titelbild: orhan akkurt/shutterstock.com
Auszug aus dem Buch: Noam Chomsky, „Rebellion oder Untergang! Ein Aufruf zu globalem Ungehorsam zur Rettung unserer Zivilisation“, 128 Seiten, aus dem Englischen übersetzt von Michael Schiffmann, Westend Verlag, 25.1.2021