In der DDR mussten sich die Käufer eines Trabbis auf Wartezeiten von über zehn Jahren einstellen. So etwas gibt in unserer Marktwirtschaft nicht. Wirklich? Dass dem nicht so ist, zeigt der Markt für Luxusuhren. Wer sich ein bestimmtes Modell der Schweizer Luxusmarke Rolex kaufen will, muss sogar mit Wartezeiten von bis zu zwanzig Jahren rechnen; zumindest dann, wenn er die Uhr auf offiziellem Weg erwerben will. Auf dem Graumarkt werden diese Uhren fast zum Doppelten des Listenpreises gehandelt. Das Angebot kommt schon lange nicht mehr mit der Nachfrage mit. Dies ist eine direkte Folge der neoliberalen Politik und der Spreizung der Vermögens- und Einkommensschere. Während es vielen Menschen von Tag zu Tag schlechter geht, scheinen einige wenige Menschen gar nicht mehr zu wissen, wohin mit dem Geld. Wir hätten da eine Idee. Von Jens Berger.
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Schweizer Luxusuhren von Marken wie Rolex, Audemars Piguet oder Patek Philippe gehörten schon immer zu den Insignien einer kleinen, dafür aber finanziell umso potenteren Oberschicht. Über viele Jahrzehnte lang hielt das Angebot dieser Uhren der Nachfrage im weitesten Sinne stand. Wie in einer Marktwirtschaft üblich, regelten die Anbieter die Nachfrage über den Verkaufspreis und federten eine steigende Nachfrage über eine Erweiterung der Produktionskapazitäten ab. Auch für Luxusuhren galt lange die goldene Regel, die auch jeder Käufer eines Neuwagens kennt: Kaum ist die Ware geliefert, gibt es erst einmal einen kräftigen Wertverlust. Wer eine neuwertige Uhr wieder verkaufen wollte, musste teils kräftige Verluste hinnehmen. Im Luxusuhrensegment änderte sich dies Mitte der 2010er-Jahre jedoch grundsätzlich und seit wenigen Jahren gibt es sogar die paradoxe Situation, dass neuwertige Luxusuhren bestimmter Hersteller gebraucht teurer als neue Uhren beim offiziellen Händler sind.
So ist die Stahlsportuhr Rolex GMT-Master II in der Farbvariante blau-schwarz (Spitzname: „Batman“) vom Schweizer Hersteller mit einem Listenpreis von 9.000 Euro notiert. Das „Problem“ – wer diese Uhr über einen Konzessionär, also einen offiziell von Rolex zertifizierten Händler, kaufen will, wird bestenfalls ein müdes Lächeln bekommen. Die wenigen Konzessionäre, die überhaupt noch Neukunden auf eine Warteliste setzen, datieren die Wartezeit auf bis zu 20 Jahre. Bessere Chancen haben gute Stammkunden, die jedes Jahr einen mindestens sechsstelligen Umsatz im Laden lassen oder weniger gute Stammkunden, die sich auf Koppelgeschäfte der besonderen Art einlassen: Wer die beliebte Rolex zum Listenpreis bekommen will, muss sich dazu bereiterklären, gleich auch noch verbindlich einige Ladenhüter zu einem überteuerten Verkaufspreis abzunehmen. Dann kommt man auf die Warteliste und darf sich in ein paar Jahren vielleicht seine Wunschuhr samt Dreingabe abholen.
Wer die Uhr sofort kaufen will, muss dies über inoffizielle Händler, den sogenannten Graumarkt, tun. Hier fallen dann allerdings Graumarktpreise an. Beim genannten Rolex-Modell überstieg der Graumarktpreis für Gebrauchtuhren Anfang 2018 den Listenpreis für neue Uhren. Das gleiche Phänomen ist für die noch teureren Uhren des Typs Royal Oak von Audemars Piguet und Nautilus von Patek Philippe zu beobachten, die ebenfalls nur für ausgesuchte Kunden über sehr lange Wartelisten oder eben zum fast doppelten Preis auf dem Graumarkt zu erwerben sind.
20 Jahre Wartezeit für Uhren, die so teuer wie Klein- oder Mittelklassewagen sind? Gebrauchtpreise, die doppelt so hoch wie der Listenpreis sind? Wie kommt es zu diesen skurrilen Entwicklungen? Die Antwort ist denkbar einfach. Die Nachfrage für neue Luxusuhren übersteigt seit Jahren das Angebot bei weitem und seit rund zwei Jahren hat sich die „Rolex-Knappheit“ noch einmal verschärft. Rolex stellt pro Jahr rund 800.000 Uhren her. Der geschätzte durchschnittliche Verkaufspreis ab Werk (also ohne die Händlermargen und ohne Steuern) beträgt dabei rund 6.000 Euro. Nun gibt es aber offenbar sehr viel mehr Nachfrage nach diesen Uhren. Wenn das Angebot nicht mehr gesteigert werden kann und die Nachfrage das Angebot übersteigt, steigt der Preis oder es kommt in einer „Planwirtschaft“ – und da unterscheidet sich der elitäre Luxusuhrensektor in unserer Gesellschaft kaum vom egalitären Automobilsektor in der DDR – zu langen Wartelisten.
Corona hat diesen Trend sogar noch verstärkt. Eine Sonderauswertung von chrono24, dem größten Graumarktportal für Luxusuhren, zeigt, dass der Markt für Luxusuhren im März letzten Jahres für wenige Tage förmlich eingebrochen ist. An den Börsen fielen die Aktienkurse. Doch die Sorge um die Zukunft der Weltwirtschaft währte – zumindest aus Sicht der Oberschicht – nicht lang. So nahm der Absatz von Luxusuhren zwischen der Delle im März und Mitte April in Deutschland bereits wieder um 50% zu und ist heute größer denn je.
Leider liegen keine jüngeren Zahlen vor. Es ist jedoch davon auszugehen und die Graumarktpreise legen dies auch nah, dass es seit Beginn der Lockdowns im Herbst einen weiteren Nachfrageschub gab. Offenbar weiß die Oberschicht, die durch die Lockdowns in gewisser Weise ja auch „getroffen“ ist und weniger Geld in Nobelrestaurants oder für ausgedehnte Shoppingtouren und Urlaube in den Luxusressorts der Welt lassen kann, nicht wohin mit ihrem Geld. Und wenn der Skiurlaub in St. Moritz ins Wasser fällt, kauft man sich halt zum Trost eine Rolex oder eine Patek Philippe.
Die Kosten der Krise tragen ja ohnehin diejenigen, die nicht zur Zielgruppe dieser Marken gehören. Wer in Deutschland zum Mindestlohn beschäftigt ist, müsste bei einer 40-Stunden-Woche ohne Urlaub schließlich mehr als drei Jahre am Stück arbeiten, um sich eine Stahlsportuhr vom Typ Patek Philippe Nautilus leisten zu können. Und gerade während der Coronakrise haben die allermeisten Menschen ohnehin andere Sorgen.
Während viele Kinder durch die Schulschließungen um ihr warmes Mittagessen gebracht werden, hat die Oberschicht Sorgen, wie sie ihr ganzes Geld stilgerecht ausgeben kann. Nicht die „Rolex-Knappheit“ ist ein gesellschaftliches Problem. Ein gesellschaftliches Problem ist es aber, dass es so viele Menschen gibt, die es sich leisten können, sich auf eine irrwitzige Warteliste für eine Luxusuhr eintragen zu lassen.
Aber soll man sich wirklich darüber wundern? Das Auseinanderklaffen der Einkommens- und Vermögensschere hat in Deutschland bereits in den 1990ern begonnen und setzt sich seitdem in immer rasanterem Tempo fort. 2014 habe ich diese Entwicklung in meinem Buch „Wem gehört Deutschland?“ skizziert und analysiert. Ohne eine Vermögenssteuer und eine stärkere Besteuerung hoher Einkommen wird sich an dieser Situation auch nichts ändern. Und dieses Problem ist nicht nur auf Deutschland beschränkt, sondern – wie ja auch der Markt für Luxusuhren – international.
Zumindest in Deutschland könnte man das Phänomen der „Rolex-Knappheit“ aber relativ einfach in den Griff bekommen. Wer so viel Geld hat, dass er sich Luxusuhren leisten kann, deren Preis teils dem mehrfachen Jahresgehalt eines Arbeitnehmers am unteren Ende der Einkommensskala entspricht, kann auch über das Steuersystem stärker zur Kasse gebeten werden. In einer immer ungleicher und ungerechter werdenden Gesellschaft sollte dies sogar alternativlos sein. Denn wer soll die Kosten für die Coronakrise übernehmen? Diejenigen, die ihren Kindern kein warmes Mittagessen bezahlen können? Oder diejenigen, die sich auf Wartelisten für Luxusuhren eintragen?
Titelbild: pio3/shutterstock.com