Das Internet ist schuld. Schuld an der Spaltung der Gesellschaft. Schuld an der Radikalisierung von Bürgern. So nehmen zumindest Vertreter der Leitmedien die Realität wahr. Mit anderen Worten: Die Berufsgruppe, von der Bürger erwarten sollten, dass sie die Ursachen für die Probleme in einer Gesellschaft erkennt, tut genau das Gegenteil. Sie verkennt Ursachen und Wirkung und scheint überdies den Unterschied zwischen beiden nicht einmal zu kennen. Eine kritische Auseinandersetzung mit einem Spiegel-Beitrag. Von Marcus Klöckner.
„Wie soziale Netzwerke unsere Gesellschaft zersetzen“ – so lautet die Überschrift einer „Lage am Morgen“ des SPIEGEL zu den Vorkommnissen am Kapitol. Dass „soziale Netzwerke“ unsere Gesellschaft „zersetzen“, dass das Internet und seine „alternativen“ Medien und Meinungsplattformen die Gesellschaft spalten, daran glauben viele Vertreter großer Medien. Doch so einfach ist es allenfalls dann, wenn man Ursache und Wirkung verwechselt.
In der Gedankenwelt von so manchem Medienvertreter ist es nicht etwa so, dass politische Weichenstellungen, dass real existierende Machtungleichgewichte innerhalb des demokratischen Systems über Jahrzehnte die Gesellschaft zersetzt haben. In der Welt des SPIEGEL-Autors sind nicht etwa große Medien diejenigen, die als schlafende „Wächter der Demokratie“ zur Zersetzung der Gesellschaft beigetragen haben. Und gewiss sind es auch nicht, wenn schon von „sozialen Netzwerken“ die Rede ist, die „sozialen Netzwerke“ der Eliten und Machteliten, die mit eine gesellschaftszersetzende Ordnung haben entstehen lassen.
Fast könnte der Eindruck entstehen, die neoliberale Ordnung, die unsere Gesellschaft zersetzt, mit ihren Grundsätzen von Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung sei auf Telegram, Facebook und Co. entstanden. Dass sich die neoliberale Ordnung in Wirklichkeit in diskreten Elitezirkeln (man denke nur an das Wirken der Mont Pèlerin Society) mitentwickelt, in Denkfabriken weiter ausgefeilt und letztlich auch unter Beteiligung von Journalisten und Medien in Politik und Gesellschaft verankert wurde, sollte man dann wohl besser nicht erwähnen – zumindest, wenn man als Journalist an den Ursachen vorbeierklären will. Aktuell zeigt uns übrigens die Pandemie deutlich, wohin kaputtgesparte, im Sinne einer neoliberalen „Effizienztrimmung“ auf „Vordermann“ gebrachte Gesundheitssysteme und Krankenhäuser führen.
Bei Lichte betrachtet ist die Kritik im Netz an Politikern und anderen Eliten sicher nicht die Ursache für eine gesellschaftliche Spaltung. Die Kritik im Netz ist vielmehr eine jener Auswirkungen, die eine Politik der gesellschaftlichen Spaltung unter Feuerschutz der Medien hervorruft.
In vielen demokratischen Gesellschaften hat sich seit Jahrzehnten ein wachsender Unmut über real bestehende Machtungleichgewichte ausgebreitet. Auch in „demokratischen“ Staaten, unter dem Rahmen formaler Gleichheit, existieren enorme Machtgefälle. Ressourcenstarke Gruppen verfügen aufgrund ihrer Positionsvorteile in der Gesellschaft und innerhalb „des Systems“ über die Möglichkeiten, viel stärker Weichenstellungen zu beeinflussen als die vielgescholtenen „Deplorables“ (deutsch: Abgehängte, Nichtsnutze), von denen Hillary Clinton noch vor ihrer Wahlniederlage mit Verachtung sprach. Das gilt insbesondere auch dann, wenn Medien längst jeden Bezug zu diesen Gruppen verloren haben und auf sie voller Argwohn blicken. Der Betrachtungshorizont in Redaktionen, die sich gerne bei entsprechender Gelegenheit gemeinsam händeschüttelnd mit Politikern fotografieren lassen, scheint das nicht so wirklich erfassen zu wollen.
Für ein Analyse der Ursachen, Differenzierungen, für Schattierungen bleibt bei diesen Vorstellungen von Realität kein Platz. Stattdessen: Feindbildproduktion. Feind ist aus Sicht nicht weniger Journalisten, wer – aus welchen Gründen auch immer – gegen „die da oben“ ist. Was, nebenbei bemerkt, nicht verwundert, wenn diese Journalisten zum Beispiel gemeinsam mit Politikern im Hamburger Luxus-Hotel The Fontenay im „Wir“ vereint sind. Medienvertreter, von denen manche ganz gerne mit den Eliten verbunden sind, fühlen sich dann eben selbst angegriffen, wenn Bürger „die da oben kritisieren“.
Überhaupt: „Die da oben“, „die Eliten“, „die Machteliten“, oder noch schlimmer, „Macht- und Herrschaftskritik“ – die Verwendung solcher Begriffe in einer öffentlichen Diskussion wirkt auf Journalisten heutzutage geradezu verdächtig. „Machteliten“? Die gibt es im Iran, gewiss in Russland, aber um Himmelswillen doch nicht bei uns oder in den USA, so in etwa der Tenor. Der geneigte Leser mag sich die Mühe machen, und in den Archiven großer Medien nach dem Begriff „Machtelite“ suchen. Das Ergebnis führt einem vor Augen, wie es aussieht, wenn Journalisten real existierende Machteliten in den westlichen Demokratien geradezu unsichtbar machen. Der Begriff „Machteliten“ kommt in der Berichterstattung großer Medien im Zusammenhang mit „unseren“ Funktionsträgern in etwa so häufig vor, wie in „Leschs Kosmos“ Ideologiekritik.
Auch diese Beobachtung verwundert nicht. Schließlich zeichnet sich der politische Journalismus unserer Zeit gerade dadurch aus, dass er die vorherrschende Ideologie völlig verinnerlicht hat. Da wir in einer Demokratie leben, liegt alle Macht beim Volk. Ende der Diskussion.
Diesem naiven Glauben kann man anhängen. Man sollte es aber besser nicht. Zumindest dann nicht, wenn man als Journalist den Anspruch erhebt, die Welt erklären zu wollen. Wer so denkt, versteht nicht den Unterschied zwischen formal demokratischen Verhältnissen und einer faktischen Realität, in der demokratische Prozesse auf vielfache Weise ausgehebelt werden. Wer so denkt, kann natürlich nur in Trump und seinen Anhängern eine „Ursache“ sehen. Dass Trump und die gesellschaftlichen Verwerfungen in den USA nicht die Ursachen, sondern die Auswirkungen einer Politik sind, die über viele Jahrzehnte die Interessen breiter Bevölkerungsschichten ignoriert hat, das wollen viele Medienvertreter nicht erkennen. Und das erstaunt ebenso wenig: Schließlich hat man auch diese Politik der „guten Präsidenten“ und US-Regierungen publizistisch weitestgehend mitgetragen und war sich nicht zu schade, selbst einen George Herbert Walker Bush bei seinem Tod als großen Staatsmann zu feiern – über die 88.500 Tonnen Bomben, die Mr. President über dem Irak hat abwerfen lassen, hat man gerne hinweggesehen.
Merke: Auf Twitter eigenwillig zu kommunizieren, ist schlimmer, als einen Krieg zu führen.
Schöne neue Welt? Nein, mit „schön“ und „neu“ hat das nichts zu tun. Nur mit Medien, die mit zweierlei Maß messen und Ursache und Wirkung verwechseln, dafür allerdings auf die Gewalt der Sprache setzen.
„Wie können sich demokratische Gesellschaften gegen ein Virus der Wahnvorstellungen verteidigen, das längst in ihre Mitte vorgedrungen ist?“, fragt der „Ressortleiter Ausland“ Mathieu von Rohr bei seiner „Auseinandersetzung“ mit den Ereignissen in den USA und der Rolle, die dabei das Internet spielt.
Diese Krankheitsmetapher transportiert einen Erreger in den Bereich des Psychiatrischen. Der so diagnostizierte „Befund“ findet sich so dann verknüpft mit der Sphäre der politischen Meinungsäußerung. Die Pathologisierung und Psychiatrisierung von Andersdenkenden ist so ziemlich das Schlimmste in der politischen Diskussion, was mit Sprache anzustellen ist. Dass Journalisten, die mit einer derart brutalen Sprache auftreten, am Ende vor lauter sprachlichem Furor beim Erfassen der Realität ins Schleudern kommen, verwundert nicht.