Am gestrigen Donnerstag gab es eine erneute Wendung in der Tragödie um den Wikileaks-Gründer Julian Assange. Am Montag hatte Bezirksrichterin Baraitser seine Auslieferung an die USA mit Hinweis auf seinen Gesundheitszustand und die Zustände im US-Strafvollzug blockiert, aber gestern wies sie einen Antrag auf Freilassung gegen Kaution ab. Somit bleibt Assange weiterhin isoliert von seiner Familie im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh. Die Zustände dort haben wohl auch zu seinem derzeitigen Zustand beigetragen. Ein Überblick über die Entwicklungen der letzten Tage und einige Pressestimmen dazu. Von Moritz Müller.
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Während ich diese Zeilen schreibe, spielen sich in den USA einmal wieder Dinge ab, die mich daran erinnern, dass ein irischer Freund einmal zu mir sagte, dass man jeden noch so unglaublichen Satz mit dem Nachsatz „in Amerika“ glaubhaft machen kann. Da sind die Szenen, wie ein merkwürdiger Mob, seltsam ungehindert, das Kapitol stürmt und es bis jetzt vier Todesopfer gibt. Die Kongressabgeordnete Rep. Cathy McMorris Rodgers hat nun auch schon angekündigt, die Präsidentschaftswahlen nicht mehr anfechten zu wollen.
Im Senat gibt es seit den Wahlen in Georgia eine Patt-Situation mit der zukünftigen Vizepräsidentin Kamala Harris als Zünglein an der Waage. Die gleiche Kamala Harris, die bei den Vorwahlen der Demokratischen Partei so gut wie keine Wählerstimmen bekam, hat jetzt so viel Macht. Außerdem wurde gestern der dritte ehemalige Mitarbeiter des Finanzkonzerns BlackRock in das Team von Joe Biden befördert, als Finanzberater von Kamala Harris.
Mehr als 60 der 100 US-Senatsmitglieder sind Millionäre.
Ich hoffe, dass es mittelfristig nicht nur in den USA zum Dialog und zur Mäßigung kommt, sonst sieht es für uns alle nicht so gut aus …
Die Regierung Venezuelas hat übrigens nicht zu unrecht angemerkt, dass die USA nun eine Ahnung davon bekommen, wie die Umstürze, welche sie weltweit anzetteln, sich anfühlen.
Da fragt man sich, wie man es überhaupt ernsthaft in Betracht ziehen kann, momentan jemanden in dieses Land – und in dem Zustand, in dem es sich gerade befindet – auszuliefern.
Aber Richterin Vanessa Baraitser hatte dies ja mit Blick auf Assanges Gesundheitszustand, und wie dieser im US-Strafvollzug behandelt würde, auch in erster Instanz abgelehnt. Leider hat sie den Aussagen der US-Anklage ansonsten in allen wesentlichen Punkten zugestimmt.
Die Neue Zürcher Zeitung begrüßt den Richterspruch als möglichen Ausweg aus der menschlichen Tragödie. Dort steht z.B.: „Der in englischer Auslieferungshaft sitzende Julian Assange hat viele Anhänger in Europa. Er gilt ihnen als Freiheitsheld und Symbolfigur ihrer persönlichen kritischen Einstellung gegenüber den USA, weil er in den letzten zehn Jahren wiederholt geheime Daten auf der Plattform Wikileaks veröffentlicht hat, welche die USA in ein schlechtes Licht rückten.“ Harmloser kann man Berichte über Kriegsverbrechen und Korruption wohl nicht bezeichnen.
Assanges Botschaftsasyl als „selbstgewählt“ zu bezeichnen, zeugt auch eher von Unkenntnis der Gesamtsituation. Weiter heißt es: „Die Bedingungen der Rechtsstaatlichkeit sind in diesem Verfahren eingehalten worden.“ Auch wieder ein allgemeines Statement, welches allein schon durch die Tatsache, dass am Montag und gestern wie auch im September fast alle Beobachter ausgesperrt waren, ad absurdum geführt wird. Ich persönlich habe bei meinen zahlreichen Versuchen, mit meinem Presseausweis und E-Mails, welche nie beantwortet wurden, Zugang zum Gericht zu erlangen, ob physisch oder virtuell, nicht den Eindruck der Rechtsstaatlichkeit erhalten.
Genauso wenig verstehe ich, wie man es als rechtsstaatlich bezeichnen kann, dass der absolut nicht gewalttätige Assange alle 5 Prozesswochen und auch an den letzten 2 Prozesstagen allein in einem Panzerglaskasten sitzen musste. Das kann man doch nicht so einfach floskelhaft übergehen. Auch Reporter ohne Grenzen haben immer wieder auf diese Missstände hingewiesen.
Auch dieser Satz hat es in sich: „Die von Assanges Anhängern immer wieder vorgebrachte Behauptung, bei dem Verfahren gegen den Whistleblower handle es sich um einen politischen Prozess und der Angeklagte könne in den USA kein faires Verfahren erwarten, wurde durch das Urteil der Richterin zurückgewiesen.“ Eine blauäugige Logik, in der man die Richterin sich selbst bescheinigen lässt, der Prozess sei nicht politisch motiviert, und man nimmt das als NZZ-Journalist dann für bare Münze.
Der UN-Sonderbeauftragte für Folter, Nils Melzer, fasst dies sehr schön in diesem Tweet zusammen:
„Bedauernswert naive Staatssicherheitsapologetik: Als einzige seriöse Zeitung ist @NZZ noch kurzsichtig genug, dem Schauprozess gegen #Assange Rechtstaatlichkeit zu bescheinigen & einem Urteil zu applaudieren, das #Journalismus als #Spionage kriminalisiert.“
Dies ist Nils Melzers offizielles Statement.
Als Abschluss bei der NZZ dann noch dieser Satz: „Der Regierung war es immer in erster Linie wichtig gewesen, dass ihr Rechtssystem trotz den Provokationen Assanges und seiner Anhänger respektiert und korrekt eingehalten wurde. Dieses Ziel hat sie erreicht.“ Dass manche von Julian Assanges Aktionen als Provokation gedeutet werden, mag ja sein, aber wo seine Anhänger provoziert haben sollen, erschließt sich mir nicht. Wenn man die Verschleppung eines Botschaftsasylanten, den Diebstahl und die Übergabe seines Besitzes inklusive Krankenakten und Korrespondenz mit seinen Rechtsanwälten an die Gegenseite als Respektierung des Rechtssystems bezeichnet, dann wird mir angst und bange um den Rechtsstaat und die Medien als vierte Instanz. Auch wie Herr Assange als Untersuchungshäftling in Belmarsh behandelt wird, ist nicht korrekt, und dass er nach Ablehnung der Auslieferung nicht freigelassen wurde, auch nicht.
Man fragt sich, was so ein Artikel bezwecken soll, denn wirklich hilfreich ist er in meinen Augen für Reporter in aller Welt nicht, die versuchen, die Wahrheit ans Licht zu bringen unter oft widrigen Bedingungen. In der letzten Zeit hatten einige der etablierteren Medien erkannt, dass sie in diesem Fall nicht beiseite stehen können, weil sie sonst als nächstes auf der Anklagebank sitzen. Bezeichnenderweise ist ja bisher keines der Medien, die vor rund zehn Jahren mit Wikileaks kooperiert und teils die gleichen Dokumente veröffentlicht haben, belangt worden.
Manchmal frage ich mich, warum ich zu so ganz anderen Schlüssen komme als die NZZ und warum es so viele Sichtweisen gibt.
In diesem Artikel fasst der US-amerikanische Journalist Chris Hedges (auf Englisch) wiederum seine Sicht der Assange-Affäre zusammen und das wäre vielleicht auch gute Lektüre für die Macher der NZZ, nicht um das 1:1 zu übernehmen, aber doch einfach so als Faktencheck.
Auch Christine Heuer vom DLF, die am Montag diesen Text über Assange und Wikileaks geschrieben hat, sollte vielleicht auch einmal in Chris Hedges‘ Text schauen. Denn auch sie bestreitet, dass es hier um Pressefreiheit geht, und versucht eine scharfe Trennlinie zu ziehen, indem sie Assange als Aktivisten und nicht als Journalisten bezeichnet. Der australische Journalistenverband hat diese Zweifel nicht und hat Julian Assange als Mitglied einen Presseausweis ausgestellt. Eigentlich ist diese Frage auch nicht so zentral, sondern es geht darum, ob jemand, der etwas publiziert, was der Wahrheit entspricht, die Regierenden aber als Verbrecher bzw. als diese Duldende entlarvt, geschützt werden muss.
Frau Heuer schreibt: „Wer in seinem Fanclub hätte gedacht, dass die angeblich so inhumane britische Justiz so human urteilen würde?“ Diese „Humanität“ ist ja seit gestern wohl wieder etwas relativiert, nachdem die Richterin Assange auf unbestimmte Zeit wieder zurück in seine Einzelhaft geschickt hat, indem sie den Kautionsantrag ablehnte. Auch in diesem Artikel lässt der DLF die Richterin den USA und sich selbst Rechtsstaatlichkeit attestieren. Das Erschießen von Zivilisten wird in dem Artikel so verharmlost: „Dank ihm wissen wir, dass US-Soldaten alle möglichen Gräueltaten billigend in Kauf nahmen.“ Diese Verbrechen wurden von US-Personal begangen und vor wenigen Wochen hat der US-Präsident rechtmäßig verurteilte Mörder und Totschläger begnadigt. Da hört sich „billigend in Kauf nehmen“ ziemlich billig an.
Dann werden die US-Wahlen 2016 ins Spiel gebracht und das unbewiesene Gerücht, dass Wikileaks die Clinton-E-Mails von Russland erhalten habe. In diesen E-Mails ging es nicht um Dumme-Jungen-Streiche, sondern um handfeste Korruptionsvorwürfe und die Übervorteilung von Bernie Sanders im Vorwahlkampf. Diese E-Mails sind auch überhaupt nicht Gegenstand des jetzigen Verfahrens und ein US-Richter hatte im Sommer 2019 auch ein derartiges Ansinnen der Demokratischen Partei abgewiesen.
Frau Heuer schreibt: „Nicht alles, was veröffentlicht wird, ist Journalismus – und Julian Assange zu Recht eine umstrittene Figur.“ Das kann man so stehenlassen, aber der erste Teil muss dann auch für alle anderen gelten, die sich Journalisten nennen. Im Artikel wird Assange vorgeworfen, er habe sich in die US-Wahlen eingemischt. Aber auch das haben Journalisten doch tagtäglich im letzten US-Wahlkampf getan und im Moment wird ein neuer Präsident zur Heilsgestalt verklärt.
Auch Leute aus dem „Team Assange als selbsternannte Gralshüter der Pressefreiheit“ zu bezeichnen, führt nicht weiter. Eigentlich sollten viele Publizisten an einem Strang ziehen, um die Angriffe auf Presse- und Meinungsfreiheit und die Freiheit an sich abzuwehren. Es wäre wirklich schön und nötig, wenn ein Dialog möglich würde oder bliebe. Ich hoffe, dass ich den letzten Absatz von Frau Heuer in diese Richtung richtig deute. Auch ich lasse mich, wenn auch nicht immer gerne, eines Besseren belehren.
Dieser Artikel der World Socialist Website erscheint besser informiert, aber dort befasst man sich ja auch schon seit Jahren mit dem Fall Assange, auch wenn ich die inneren Grabenkämpfe dieser Partei nicht immer nachvollziehen kann.
Leider wurde die Entscheidung vom Montag gestern auch aus rein humanitärer Sicht wieder stark relativiert, denn Assange wurde von Baraitser wieder in das Gefängnis zurückgeschickt, in dem sich sein Gesundheitszustand in den letzten fast 21 Monaten so stark verschlechtert hat.
Denn es sind nicht 15 Monate Haftstrafe für Verletzung von Kautionsauflagen, wie die SZ und DPA hier schreiben. Die Höchststrafe für dieses Vergehen ist im Vereinigten Königreich 52 Wochen, von denen Assange 50 aufgebrummt bekam. Normalerweise wird man bei guter Führung nach der Hälfte der Zeit entlassen und das wäre im September 2019 gewesen. Die 15 Monate, die gestern Assanges Anwalt Edward Fitzgerald nannte, beziehen sich auf die Zeit, die Assange einzig und allein als Untersuchungshäftling auf Betreiben der US-Anklage und ihrer Helfer im Gefängnis verbracht hat.
Eigentlich stand im Richterspruch vom Montag, dass Assange entlassen werden sollte, aber die Anklagevertreter haben angekündigt, Berufung einlegen zu wollen, und deshalb wurde Assange nicht sofort entlassen.
Die SZ schreibt hier nicht ganz richtig, dass Berufung eingelegt wurde. Es wurde aber wie gesagt nur angekündigt und jetzt haben die USA noch ca. 14 Tage Zeit, dies zu tun. Das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied, denn wenn die USA nicht in Berufung gehen würden, wäre Assange ein freier Mann, ohne GPS-Armband und Kautionsauflagen.
Der Kautionsantrag wurde am Mittwoch abgelehnt. Die Anklägerin Claire Dobbin verwies auf die hohe Fluchtgefahr, dass Assange schon einmal in eine Botschaft geflüchtet sei und dass der mexikanische Präsident Assange Asyl angeboten habe. Außerdem wurde ins Feld geführt, dass Assange Edward Snowden zur Flucht nach Moskau verholfen habe.
Die Verteidigung konterte, dass das Angebot Mexikos für die Zeit nach Assanges Freilassung gemeint war und dass die sieben Jahre in der ecuadorianischen Botschaft eine „eher unangenehme Erfahrung“ gewesen seien, die Assange nicht wiederholen wolle. Außerdem gebe es für Assange keinen Grund, die einzige Jurisdiktion zu verlassen, in der das Auslieferungsgesuch der USA gerade abgelehnt wurde. In anderen Ländern könne das Verfahren einfach wieder von vorn beginnen.
Assange wolle im Moment zu seiner Familie, um bis zur Berufungsverhandlung ein zurückgezogenes Leben zu führen. Daraufhin verstieg sich Claire Dobbin zu der Bemerkung, Assanges Kinder seien ja in seiner Zeit in der Botschaft geboren und somit habe die Familie sowieso noch nie zusammengelebt. „The defence relies upon Mr Assange having children in this jurisdiction… the point was made on the last occasion and was made again. Those children were born whilst he was in the embassy…. And it follows from that that they have never lived together.“
Daraus zu folgern, dass die kleinen Söhne und seine Verlobte ihn nicht benötigen, finde ich wirklich eiskalt. Mit der gleichen Argumentation hätte man auch viele deutsche Soldaten in der Kriegsgefangenschaft in Russland lassen können, denn da gab es sogar Kinder, die ihren Vater noch nie gesehen hatten.
Leider folgte Richterin Baraitser am Ende den Ausführungen der Anklage und entließ Assange nicht aus dem Gefängnis.
Ich bin mir nicht ganz sicher, was dahintersteckt. Will sie verhindern, dass sich sein Gesundheitszustand merklich verbessert und dieser Hinderungsgrund für eine Auslieferung entfällt? Das kann auch nach hinten losgehen und der Zustand von Assange verschlechtert sich soweit, dass sich der Fall für die beteiligten Staaten auf „natürliche“ Weise erledigt.
Hier äußert sich Yanis Varoufakis zur Entscheidung vom Montag.
Vor dem Gericht gab es gestern einige Verhaftungen von Unterstützern, weil politischer Protest in Corona-Zeiten von der britischen Regierung als nicht essenziell eingestuft wird. Hier eine Videozusammenfassung von LetmelookTV.
Nun muss die Weltöffentlichkeit ihr Augenmerk verstärkt auf diesen Fall richten, damit die beteiligten Staatsakteure merken, dass sie beobachtet werden. Und es wäre gut, wenn die oben zitierten Medien dies auch täten und aus ihrer bequemen Symbiose mit den Machthabern etwas herausfänden. Glenn Greenwald hat diesen Zustand in diesem Artikel sehr treffend beschrieben.
Ein mit der derzeitigen US-Administration aus dem Amt scheidender Ankläger hat in einem Interview verlauten lassen, dass es nicht klar ist, ob die kommende Biden-Administration weitere Ressourcen in diesen Fall stecken will. Dies hängt wohl davon ab, wieviel Chancen man sich am High Court ausrechnet. Ein Ressourcenproblem sehe ich bei den US-Justizbehörden im Moment allerdings leider nicht, was die Verfolgung von Assange angeht.
Vielleicht geht es auch darum, wie nachtragend die Demokratische Partei ist.
Es bleibt weiterhin sehr spannend, aber für Julian Assange und seine Familie hoffe ich, dass dieser Zustand bald ein Ende hat. Für ihn selbst ist das Herumsitzen im Gefängnis wahrscheinlich unerträglich langweilig, gepaart mit einer dauernden Anspannung wegen der Ungewissheit, was als Nächstes kommt.
Titelbild: Rob Chester/shutterstock.com