Was gestern in Washington passierte, ist schon bemerkenswert. Für uns noch interessanter ist die Reaktion deutscher Medienschaffender. Besonders bemerkenswert zum Beispiel im Heute Journal und im Handelsblatt Morning Briefing. Die Moderatorin des Heute Journals, Marietta Slomka, war tief erschüttert, als sie Bilder davon zeigte, wie der „Plebs“ die heiligen Hallen der US-amerikanischen Demokratie besetzte – das „Herz der Demokratie“, wie Elmar Theveßen ergänzte. Was da geschah, widersprach offensichtlich allen ihren idealisierten Vorstellungen von der US-amerikanischen Demokratie. Keine der bisherigen undemokratischen Fakten hat ihr Weltbild erschüttert – nicht die Tatsache, dass man Millionen und Milliarden braucht, um in den USA Präsident zu werden, nicht die Tatsache, dass die Finanzwirtschaft großen Einfluss auf die politische Gestaltung des Landes hat, … Albrecht Müller.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
… nicht die Tatsache, dass die Rüstungswirtschaft die Außen- und Verteidigungspolitik der USA weitgehend bestimmt, dass im Namen dieser „Demokratie“ mit Fälschungen wie beim Irakkrieg Kriege begründet und Hunderttausende von Menschen getötet werden, dass um der Absicherung US-amerikanischer Ressourceninteressen willen Kriege geführt und junge US-Amerikaner verheizt werden. Auch nicht die Tatsache, dass der kommende Präsident Biden eng mit diesem Einfluss von Finanzwirtschaft und Rüstungswirtschaft verbunden ist, hat das Bild von der unbefleckten US-amerikanischen Demokratie gestört – nein, dass es Anhängern von Trump gelungen ist, das Kapitol zu besetzen und dass einer dieser Typen des gemeinen Volkes gar Platz auf dem Stuhl des Sitzungspräsidenten nahm – das stört das Bild vom idealen demokratischen Amerika. Die vier Toten, die die Wiederherstellung der Ordnung bisher gekostet haben, werden das schöne Bild vermutlich weniger stören, genauso wenig, wie die Missachtung der schlechten Lebenswelt und der miserablen sozialen Lage von Millionen Amerikanern das Bild stört.
Eine beeindruckend große Zahl von deutschen Medienschaffenden ist offenbar einer publizistischen Schule entsprungen, die die USA und die dortigen Zustände verklärt. Dass dort, in Washington und anderswo in den USA, das Herz der „Guten“ in der Welt schlägt, haben sie mit der journalistischen Muttermilch eingesogen. Deshalb hat sie die Wahl eines Donald Trump zum Präsidenten auf dem falschen Fuß erwischt und deshalb können sie nicht begreifen, dass möglich ist, was gestern geschah. Auch die wenigstens teilweise erkennbare Verbrüderung von Polizisten und Trump-Anhängern, die den Sturm auf das Kapitol vermutlich erleichtert hat, passt nicht in ihr angelerntes Weltbild.
Ausdrücklich will ich anmerken, dass die Kritik an der beschönigenden Vorstellung unserer Hauptmedien von der US-amerikanischen Realität und Demokratie keinerlei Rechtfertigung des noch amtierenden US-Präsidenten Trump ist. Die Idealisierung seiner Person und seines Verhaltens, die es auch in deutschen kritischen Medien gibt, konnte und kann ich nicht nachvollziehen.
Hier zum Beleg nun der Link auf das Heute Journal. Von 0 bis Minute 9:15 geht es um die Erstürmung des Capitols.
Und hier noch der Text aus dem Handelsblatt Morning Briefing:
zwei Revolutionen gab es in den letzten Stunden in den USA. Die erste ist eine legale: Bei der Stichwahl um zwei Senatssitze Georgias siegten tatsächlich die Demokraten, obwohl der US-Bundesstaat bislang fest in der Hand der Republikaner gewesen war. Nun aber wird mit Raphael Warnock erstmals ein Afroamerikaner in Georgia Senator – der sich als geistiger Erbe von Martin Luther King versteht.
Mit dieser Wahl kann „President elect“ Joe Biden in Washington leichter regieren. Seine Partei kann die Geschicke im Repräsentantenhaus und im Senat bestimmen. Wenn es dazu wie geplant kommt – womit wir bei der zweiten, hässlichen und bestürzenden Revolution des Tages wären: dem Sturm von Tausenden fanatisierten Anhängern des Noch-Präsidenten Donald Trump auf das Kapitol.
Hier machte ein Flashmob plötzlich Politik, aufgehetzt durch Trump selbst, der – unbelegt, unbewiesen – auf einer Kundgebung über den „Diebstahl“ der Wahl wetterte und seine Anhänger gewissermaßen vors Parlament gescheucht hatte. Dann spielte sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit stundenlang eine Demontage der Demokratie ab: gewaltsames Eindringen ins Gebäude, Tränengas, Waffen, Sprengsatz neben dem Kapitol, Schüsse, Verletzungen von Sicherheitskräften, Tod einer Frau, Flucht der Abgeordneten. Und dies alles, als sie eigentlich die Stimmen der Wahlleute bestätigen und Biden zum Präsidentenamt verhelfen sollten.
Vor Wochen noch haben wir uns in Deutschland über das Eindringen von Corona-Demonstranten in den Bundestag aufgeregt, damals unterstützt von Trumps Gesinnungsfreunden in der AfD. Die Bambule von Washington ist von anderer zerstörerischer Kraft: Sie zeigt, wie sich das Virus eines Anti-Demokratismus und eines bizarren Führerkults in einen Rechtsstaat einnistet, der erkennbar alle Mühe hat, Oberhand zu behalten.
So sieht das Weltbild vieler Medienschaffenden in Deutschland aus.