In unmittelbarer Nähe von Berg-Karabach verlaufen für den Westen strategisch wichtige Öl- und Gas-Pipelines. Das erleichterte die Initiative des russischen Präsidenten Wladimir Putin für einen Waffenstillstand zwischen Aserbaidschan und Armenien. Von Ulrich Heyden.
Armenien befindet sich seit dem von Wladimir Putin durchgesetzten Waffenstillstand vom 10. November 2020 in einer Art Schockzustand. Es gab 6000 – nach inoffiziellen Zahlen sogar über 10.000 – tote aserbaidschanische und armenische Soldaten im Karabach-Krieg. Weite Landstriche und zahlreiche Ortschaften auf beiden Seiten der Front sind vom Krieg verwüstet. Für Armenien und Berg-Karabach endete der von Aserbaidschan aufgezwungene Krieg mit einer fast totalen Niederlage. In Jerewan gibt es fast täglich Protestdemonstrationen, auf denen der Rücktritt von Ministerpräsident Nikol Paschinjan gefordert wird. Die Demonstranten werfen ihm „Verrat“ vor.
Die großen Medien in Deutschland behandeln den Krieg um Berg-Karabach nur noch am Rande. Man scheut sich, diejenigen zu benennen, die das Friedensabkommen von 1994 gebrochen haben. Und man will das Nato-Mitglied Türkei, welches an dem Krieg mit Drohnen, Beratern und Söldnern beteiligt war, nicht mit Kritik behelligen.
An einem eskalierenden Krieg konnte der Westen kein Interesse haben
Warum es am 9. November 2020 eigentlich zu einem Waffenstillstand zwischen Aserbaidschan und Armenien kam, bleibt in den Berichten der großen deutschen Medien nebulös. Reinhard Veser schrieb in einem Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, „es stellt sich überdies die Frage, mit welchen Argumenten oder Hebeln Putin den aserbaidschanischen Diktator Alijew dazu bewegen konnte, just in dem Moment die Kämpfe einzustellen und dazu auch noch russische Soldaten in seinem Land zu akzeptieren, in dem nach dem Fall der symbolisch und strategisch wichtigen Stadt Schuscha Aserbaidschans vollständiger Sieg auf dem Schlachtfeld zum Greifen nahe war.“
Der FAZ-Kommentator stellte sich unwissend. Die für den Westen strategisch wichtigen Pipelines im Südkaukasus fallen ihm beim Thema Karabach-Krieg nicht ein. Stattdessen raunt er von „Putins Hebeln“.
Die Pipelines befinden sich in einem Abstand von nur 30 Kilometern vom Kriegsgebiet Berg-Karabach entfernt. Sie transportieren Öl und Gas unter Umgehung der Territorien von Armenien und Russland nach Westen. Um welche Pipelines geht es genau?
Die 2005 in Betrieb genommene Öl-Pipeline Baku-Tbilissi-Ceyhan transportiert Öl aus dem Kaspischen Meer zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan. Eigentümer der Öl-Pipeline ist unter anderen British Petroleum mit 30,1 Prozent, der US-Konzern Chevron mit 8,9 Prozent und die norwegische Statoil mit 8,71 Prozent.
Die zweite Pipeline, die von Baku über die Türkei bis nach Süditalien verläuft, ist die im November 2020 in Betrieb genommene Gas-Pipeline „Südlicher Gaskorridor“. Diese Pipeline ist ein gemeinsames Projekt von Aserbaidschan und der Europäischen Kommission.
2005, bei der Inbetriebnahme der Baku-Tbilissi-Ceyhan-Öl-Pipeline, frohlockten die deutschen Medien, das Energie-Monopol Russlands sei gebrochen. Das erste Mal seit dem Ende der Sowjetunion werde aus einer ehemaligen Sowjetrepublik – unter Umgehung Russlands – Öl in den Westen befördert.
Da der Westen schon lange nach alternativen Energiequellen sucht und sich auf keinen Fall von Russland abhängig machen will, kann der Westen kein Interesse an einem endlosen Krieg in einer Region haben, wo die neuen, alternativen Pipelines verlaufen. Vorstellbar ist, dass der Präsident von Aserbaidschan aus westeuropäischen Hauptstädten das Signal bekam, es sei an der Zeit, den Krieg um Karabach zu beenden.
Zwei Gas-Pipelines verbinden Russland und die Türkei
Aber auch Putin hatte gute Argumente, um Aserbaidschan und die Türkei zu einem Ende des Krieges in Karabach zu drängen. Die Türkei ist über die Gaspipelines Turk Stream und Blue Stream mit Russland verbunden. Die Türkei verbraucht russisches Gas und ist auch Transitland für den russischen Gasexport nach Bulgarien und Serbien.
Vorstellbar ist, dass der Kreml-Chef den türkischen Präsidenten Recep Erdogan und die westlichen Staaten darauf hinwies, dass bei einer Fortführung des Krieges die aserbaidschanischen Gas- und Öl-Pipelines Ziel von armenischen Partisanen werden können.
Der Abschuss des russischen Hubschraubers war Auslöser des Waffenstillstands
Wladimir Putin stand am 9. November, an dem Tag also, an dem er den Waffenstillstand zwischen Armenien und Aserbaidschan mit einem Abkommen in aller Eile festzurrte, unter erheblichem Druck.
Am Nachmittag des 9. November war ein russischer Mi-24-Militärhubschrauber über dem Territorium von Armenien mit aserbaidschanischen Raketen abgeschossen worden. Zwei russische Besatzungsmitglieder wurden getötet, eines verletzt. Die aserbaidschanische Armee-Führung entschuldigte sich später für den „versehentlichen“ Abschuss. Die russische Führung war sichtlich bemüht, aus dem Abschuss keinen Skandal zu machen.
Das Verhalten der russischen Führung stand in starkem Kontrast zu einem ähnlichen Vorfall 2015 über syrischem Grenzgebiet. Damals wurde über Syrien, nahe der türkischen Grenze, ein russisches Kampfflugzeug vom Typ SU-25 von türkischen Luftstreitkräften abgeschossen. Die russische Regierung reagierte hart, führte die Visumsflicht für türkische Staatsbürger ein, verschärfte die Kontrollen für türkische Lebensmittelimporte und verbot russischen Reisebüros, Reisen in die Türkei zu verkaufen.
Nach dem Abschuss des russischen Militärhubschraubers am Nachmittag des 9. November war absehbar, dass patriotisch gesinnte Russen harte Maßnahmen gegen Aserbaidschan fordern würden. Wladimir Putin kam diesen Forderungen mit dem von ihm initiierten Waffenstillstand in Berg-Karabach zuvor.
In Russland gab es schon während des Karabach-Krieges Stimmen, die ein hartes Vorgehen gegen Aserbaidschan forderten. Zu diesen Stimmen gehört Konstantin Satulin, stellvertretender Vorsitzender des Duma-Komitees für die Gemeinschaft unabhängiger Staaten. Satulin ist bekannt als jemand, der Russlands nationale Interessen betont und nie von „unseren Partnern im Westen“ spricht.
Ende Oktober, zwei Wochen vor dem Ende des Karabach-Krieges, erklärte Satulin, man könne nicht ausschließen, dass Russland sich in Armenien engagiert. Aserbaidschan und die Türkei hätten „den Frieden in der Region verletzt“. Sie „müssten daran erinnert werden, welcher Staat im postsowjetischen Raum die Führungsrolle hat“. Denkbar sei eine Erhöhung der Militärhilfe für Armenien sowie die Sperrung des armenischen Luftraums. Doch Satulin konnte sich in Moskau mit seiner Forderung nicht durchsetzen.
Einen Konter bekam Satulin von dem stellvertretenden Vorsitzenden des Duma-Verteidigungsausschusses, Andrej Krasow, der erklärte, Satulin habe seine Stellungnahme nicht mit dem russischen Verteidigungsministerium abgestimmt. Es gäbe zurzeit „keine Planungen für den Einsatz russischer Soldaten im Konfliktgebiet Nagorni-Karabach“. Von einem Einsatz russischer Truppen in Nagorni-Karabach hatte Satulin allerdings gar nicht gesprochen.
Während die großen Öl- und Gasunternehmen in Russland vermutlich an einem Kompromiss mit Aserbaidschan interessiert sind, gibt es im Lager der „Silowiki“ – also unter Militärs und Geheimdienstlern – Stimmen, die ein härteres Auftreten von Russland gegenüber Aserbaidschan fordern. Immerhin sind Russland und Armenien Mitglieder im Verteidigungsbündnis ODKB und Russland kann – wenn ein ODKB-Mitglied in Gefahr ist – kaum tatenlos zuschauen. Die Mittel für eine schnelle Hilfe hat Russland mit seiner 5.000 Soldaten starken Militärbasis in Armenien allemal.
Drohnenkriege drohen auch in anderen umstrittenen Gebieten Osteuropas
Die großen russischen Medien bemühen sich im Karabach-Konflikt um Neutralität. Doch der Abgeordnete Satulin gibt keine Ruhe. Ende Dezember erklärte Satulin in einem ganzseitigen Artikel in der russischen Tageszeitung Komsomolskaja Prawda:
„Aserbaidschan hat in Union mit der Türkei die nichtanerkannte Republik Arzach angegriffen, aber tatsächlich hat es die Armenier in Armenien angegriffen, indem es das mit unserer Hilfe zustande gekommene Waffenstillstandsabkommen (zwischen Armenien und Aserbaidschan, U.H.) von 1994 verletzt hat.“
Satulin warnt, dass „das aserbaidschanisch-türkische Experiment, einen langanhaltenden Gebietsstreit militärisch zu lösen“, für Russland gefährliche Folgen haben kann. Immerhin gäbe es an Russlands Grenzen weitere umstrittene Gebiete, wie Lugansk, Donezk, Transnistrien, Abchasien und Südossetien.
Ukraine setzt schon Kampfdrohnen gegen die „Volksrepubliken“ Lugansk und Donezk ein
Besonders dramatisch ist die Situation – was die Drohnen betrifft – im Donbass. Leider berichten die großen deutschen Medien nicht darüber, dass die Ukraine schon seit mehreren Jahren mit Drohnen in den „Volksrepubliken“ Lugansk und Donezk operiert. Diese Drohnen werden nicht nur zur Überwachung, sondern auch zu Angriffen mit Brand- und anderen Bomben auf gegnerische Ziele eingesetzt.
Da die ukrainischen Drohnen von minderer Qualität sind, hat die Ukraine 2019 von der Türkei sechs Aufklärungs- und Kampfdrohnen des Typs Bayraktar TB2 gekauft. Im Herbst 2019 waren ukrainische Soldaten zur Drohnen-Schulung in der Türkei. Die Schulung wurde danach in der Ukraine fortgesetzt (Video-Bericht von US-Radio Svoboda) .
Wer an der Friedenssicherung in Europa interessiert ist, muss sich dafür interessieren, was an den Rändern Europas passiert. Das Kräftemessen der Regional- und Großmächte zeigt sich an den östlichen und südöstlichen Rändern Europas viel schonungsloser, als man es sich in den Metropolen der EU vorstellen kann.
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