Welche Parallelen gibt es zwischen der „Gruppe LUDWIG“ und dem NSU? Einige, sagt der Drehbuch- und Romanautor Martin Maurer im Interview mit den NachDenkSeiten. „Die Gruppe LUDWIG“, so Maurer, „wird für eine Serie von Morden und Anschlägen verantwortlich gemacht, bei denen zwischen 1977 und 1984 vor allem in Oberitalien fünfzehn Menschen getötet worden sind.“ Maurer hat sich in seinem aktuellen Roman „Die Krieger“ mit dieser Gruppe akribisch auseinandergesetzt. Ein Interview über Terrorismus, die Stay-behind-Strukturen der Nato und die Frage, ob die vordergründigen „Wahrheiten“, die bei Terroranschlägen vorzufinden sind, auch der Wirklichkeit gerecht werden. Von Marcus Klöckner
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Wer die Arbeit von Martin Maurer kennt, weiß: Wie schon in seinem Erstlingswerk „Terror“ setzt sich der Autor mit realen Ereignissen auseinander und verwebt diese in eine fiktive Erzählung. Dabei orientiert sich Maurer weitestgehend an der Realität. Wie auch schon in „Terror“ zeigt Maurer auch in die „Die Krieger“, wie wichtig die intensive Recherche vor Ort ist. Aus durchforsteten Archiven oder aus Gesprächen mit Zeitzeugen bzw. Behördenvertretern rekonstruiert Maurer im Detail, was sich in der Realität zugetragen hat. In die Dunkelstellen der offiziellen Version leuchtet Maurer gezielt rein und klopft das, was bis heute als Tatsache im Raum steht, gekonnt ab. Im NachDenkSeiten-Interview gewährt Maurer auch einen Einblick, wie er bei seiner Arbeit vorgeht.
Herr Maurer, wenn es um das Thema Terrorismus geht, sollte man sich nicht so einfach mit den vordergründigen Wahrheiten zufrieden geben. Stimmen Sie dieser Aussage zu?
Ja, denn für vordergründige Wahrheiten ist das Thema viel zu komplex. Schon der Begriff Terrorismus verlangt genaues Hinsehen, weil er sehr vom Standpunkt des Betrachters abhängt. Für die einen ist derjenige, der einen Anschlag verübt, ein „Terrorist“, für die anderen ein „Freiheitskämpfer.“ Außerdem bezeichnet „Terrorismus“ die unterschiedlichsten Phänomene. Aber religiöser, linker oder rechter Terrorismus und Staatsterrorismus sind verschiedene Dinge und oft kann, wenn überhaupt, erst die historische Forschung wirklich klären, womit man es nun eigentlich zu tun hatte. Eigentlich lässt sich immer nur mit Sicherheit sagen, dass am Anfang ein Gewaltakt steht, der viel Leid verursacht und „das Denken besetzt“.
Sie schreiben Drehbücher für das Fernsehen, unter anderem für die Reihe Tatort, aber Sie schreiben auch Romane. In Ihren Romanen spielt das Thema Terrorismus eine zentrale Rolle. Warum?
Ich bin Jahrgang 1968 und gehöre jener glücklichen Generation an, die nie unmittelbar einen Krieg erleben musste. Aber Terrorismus hat immer eine Rolle gespielt: RAF, Oktoberfest-Attentat, 9/11, Halle, Hanau, Wien… Mich interessieren die Prozesse, die jeweils in Gang gesetzt werden, zunächst die mediale Aufarbeitung, das Ringen um Einordnung und Deutungshoheit und etwas später dann die Reaktion der Politik, wenn es gilt, „unsere Werte zu verteidigen“ oder sich „nicht erpressen zu lassen.“ Allein die Tatsache, dass es nach großen Terroranschlägen immer wieder zu Gesetzesverschärfungen bis hin zur Erklärung des Ausnahmezustandes kommt, zu massiven Eingriffen in Bürger- und Freiheitsrechte, verlangt eine genauere Beschäftigung mit dem Thema.
Wann und wie sind Sie denn zum ersten Mal auf den Gedanken gekommen, dass bei so manchem Terroranschlag, über den Medien berichten, die Wahrheit im Dunkeln bleibt?
Ich habe von Anfang bis Mitte der 2000er Jahre in Italien gelebt. Damals wurde dort (mal wieder) in einem Gerichtsprozess das Piazza-Fontana-Attentat auf die Landwirtschaftsbank in Mailand 1969 aufgearbeitet. Mich hat fasziniert, dass über ein dreißig Jahre zurückliegendes Attentat derart prominent in allen Medien berichtet wurde und habe mich dann näher damit befasst. Das Piazza-Fontana-Attentat ist – abgesehen von seiner Bedeutung für Italien als „Mutter aller Attentate“ und als Auftakt dessen, was als „Strategie der Spannung“ bezeichnet wird – ein gutes Beispiel für die Notwendigkeit genauen Hinsehens: Am Nachmittag des 12. Dezember 1969 explodierte vor der Banca Nazionale dell’ Agricoltura eine Bombe, die 17 Menschen getötet und 88 schwer verletzt hat. Zunächst wurden die Anarchisten Giuseppe Pinelli und Pietro Valpreda verdächtigt und festgenommen, doch dann, nach unzähligen Prozessen, stellte sich heraus, dass Rechtsextremisten mit Kontakten zu staatlichen Stellen und Geheimdiensten hinter dem Attentat steckten. Durch die Beschäftigung mit diesem Attentat landete ich dann ganz schnell bei „Gladio“. Diese Organisation war mir bis dahin völlig unbekannt.
In Ihrem Roman „Terror“ haben Sie „Gladio“ bzw. die Stay-behind-Strukturen der Nato in den Mittelpunkt gerückt. Was war Gladio?
„Gladio“ bezeichnet ursprünglich den italienischen Teil eines geheimen Netzwerkes an Untergrundkämpfern, das nach dem Zweiten Weltkrieg von der CIA und dem MI6 aufgebaut worden war, in nahezu allen Ländern Westeuropas existierte und sich im Fall einer Invasion von den Truppen des Warschauer Paktes überrollen lassen und hinter den feindlichen Linien Guerillaoperationen und Sabotageakte durchführen sollte (deshalb die englischsprachige Bezeichnung „stay behind“). Der Begriff „Gladio“ wird oft auch synonym für das gesamte Stay-behind-Netzwerk gebraucht, manchmal sogar synonym für alle möglichen Formen des Staatsterrorismus. Es herrscht hier ein ordentliches Durcheinander. Die Frage, ob und wie weit Teile dieses Stay-behind-Netzwerkes in einzelnen Ländern auch in Terroranschläge gegen die eigene Bevölkerung involviert waren, ist bis heute Gegenstand der historischen Forschung.
Wenn Sie einen Roman schreiben, dann recherchieren Sie viel. Wie sind Sie vorgegangen, mit wem haben Sie gesprochen?
Im Falle von „Terror“ kam ich also 2005 mit meinem Wissen aus Italien zurück nach Deutschland und stellte fest, dass das Thema Gladio bzw. Stay-behind hier so gut wie nicht existent war. Wohlgemerkt: Daniele Gansers Standardwerk „Nato-Geheimarmeen in Europa“ ist 2005 auf Englisch und 2008 auf Deutsch erschienen und Regine Igels „Terrorjahre – die dunkle Seite der CIA in Italien“ 2006. Gut, dachte ich, dann muss also erst mal Grundlagenforschung betrieben werden und ich habe zusammen mit meinen Mitstreitern alle Menschen angeschrieben, die in irgendeiner Form und Funktion mit Terrorismus und Geheimdiensten in der BRD zu tun hatten. Ich hatte allerdings nicht im Traum damit gerechnet, dass die meisten der von uns Kontaktierten auch tatsächlich mit mir sprechen würden.
Jedenfalls saß kurz darauf schon Michael „Bommi“ Baumann in meinem Wohnzimmer und hat mir ein umfangreiches Interview gegeben. Wir haben mit Karl-Heinz Hoffmann, dem Gründer der Wehrsportgruppe Hoffmann, über seine Rolle beim Oktoberfest-Attentat geredet. Der SPD-Bundestagsabgeordnete und inzwischen ebenso wie Bommi Baumann leider verstorbene Hermann Scheer hat vom parteiübergreifenden Widerstand gegen die Untersuchung der Stay-behind-Organisation in Deutschland berichtet. Wir haben mit Michael Buback gesprochen, dessen Buch „Der zweite Tod meines Vaters“ gerade erschienen war, mit dem Ex-BND-Mann Wilhelm Dietl, mit Rechtsanwalt Werner Dietrich, der die Interessen der Opfer des Oktoberfestattentats vertritt, wir haben 2008 wahrscheinlich eines der frühesten Interviews mit Daniele Ganser geführt, und ich weiß noch, wie ich ins Schwitzen kam, als ich einen Anruf meines Mitstreiters Andreas erhielt, der eigentlich Gerhart Baum zum Interview abholen sollte, aber noch keine Betreuung für seinen damals zweijährigen Sohn gefunden hatte und erst noch die Windeln aus dem Auto entsorgen musste. Und der ehemalige Innenminister wartete doch schon … Das war der turbulente Teil der Recherche (es gab auch einen weniger „spektakulären“ Teil, der war weniger spannend, weil er nur aus Lesen bestand) – einige der Interviews kann man sich jedenfalls immer noch auf Youtube anschauen.
Was haben Sie dabei herausgefunden? Wie waren Ihre Eindrücke?
Mein Eindruck war und ist bis heute unverändert: Die Rolle der Stay-behind-Organisation in Deutschland müsste dringend parlamentarisch untersucht werden. Das würde vielleicht auch helfen, die oben genannte Begriffsverwirrung zu klären.
Nun haben Sie mit „Die Krieger“ einen weiteren Roman veröffentlicht, der sich an einem realen Ereignis orientiert.
In meinem aktuellen Roman „Die Krieger“ erzähle ich authentische Ereignisse rund um die Jahreswende 1983/84 in München. Ein schon länger dauernder Krieg zwischen verfeindeten Zuhälterbanden spitzt sich immer mehr zu, und als am 7. Januar 1984 ein Brandanschlag auf die Erotik-Diskothek „Liverpool“ im Bahnhofsviertel verübt wird – acht Menschen werden verletzt, die 20-jährige Barfrau Corinna Tartarotti erliegt Ende April ihren schweren Verbrennungen – geht die Münchner Polizei von einem Verbrechen im Rotlichtmilieu aus. Bis zehn Tage später im Polizeipräsidium ein Bekennerschreiben aus Italien eintrifft. Auf Italienisch verfasst, in Runenschrift, bekennt sich darin eine Gruppe LUDWIG zum Anschlag auf das „Liverpool“. Oben auf dem Brief ein stilisierter Reichsadler, ein Hakenkreuz in den Klauen und unten auf Deutsch: GOTT MIT UNS.
Von dem Anschlag dürfte heute kaum noch jemand Kenntnis haben.
Der Anschlag ist tatsächlich nahezu vergessen. Obwohl er, wie ich bei den Recherchen festgestellt habe, damals ein ziemliches Medienereignis war.
Erzählen Sie uns bitte mehr von dem Anschlag und der „Gruppe Ludwig“.
Die Gruppe LUDWIG wird für eine Serie von Morden und Anschlägen verantwortlich gemacht, bei denen zwischen 1977 und 1984 vor allem in Oberitalien fünfzehn Menschen getötet worden sind. Die Opfer waren Drogenabhängige, Homosexuelle, Prostituierte, aber auch Priester und Besucher von Sexlokalen. Der Anschlag auf das „Liverpool“ war der einzige auf deutschem Boden. Kurz darauf, Anfang März 1984, werden Wolfgang Abel und Marco Furlan, zwei junge Männer aus dem Veroneser Großbürgertum, dabei erwischt, wie sie in einer Diskothek, in der vierhundert junge Leute Karneval feiern, Benzin ausschütten. Türsteher überwältigen die beiden und übergeben sie an die Carabinieri. In der Untersuchungshaft in Mantua erhärtet sich nach und nach der Verdacht, dass Abel und Furlan für diese unglaubliche Mordserie verantwortlich sind, dass sie die Gruppe LUDWIG oder zumindest ein Teil von ihr sein könnten.
Wie haben Sie für diesen Roman recherchiert?
Was die Gruppe Ludwig angeht, waren meine wichtigsten Quellen das Sachbuch der Journalistin Monica Zornetta „LUDWIG – storie di fuoco, sangue, follia“ und der Aufsatz „il caso LUDWIG“ von Augusto Caneva. Auf Deutsch gibt es bis auf zwei längere Zeitungsartikel aus den 80er-Jahren meines Wissens keine Literatur zur Gruppe LUDWIG. Ich habe mir außerdem im Staatsarchiv München sämtliche Zeitungsartikel angeschaut, die zu den Liverpool-Ermittlungen erschienen sind. Es sind einige, denn damals war der Brandanschlag durchaus auch überregional ein großes Thema. Um die 80er Jahre in München erzählen zu können, habe ich viel Zeit im Stadtarchiv München verbracht und ich habe mit Polizisten gesprochen, sowohl von der Mordkommission als auch vom LKA München, die diese Zeit noch aktiv miterlebt haben. Einen Teil meiner Recherchen kann man sich hier auf meiner Webseite anschauen.
Wie sieht die Handlung in Ihrem Roman aus?
„Die Krieger“ wird aus der Perspektive von Nick Marzek erzählt, der gerade aus Berlin zur Münchner Mordkommission gekommen ist und nach dem Anschlag auf das „Liverpool“ und dem Eintreffen des Bekennerschreibens nach Italien geschickt wird, um herauszufinden, was von dem Schreiben und der Gruppe LUDWIG zu halten ist. Dabei wird er unterstützt von Graziella Altieri, die bei der Mordkommission als Reinigungskraft arbeitet und gewissermaßen zwangsrekrutiert wird, weil so schnell kein beeidigter Übersetzer verfügbar ist.
Tatsächlich war der Druck auf den damaligen Münchner Polizeipräsidenten Häring nach dem Auftauchen des Bekennerschreibens gewaltig und die italienischen Behörden waren nicht besonders kooperativ. Das müssen dann auch Nick und Graziella erfahren, die sich, beginnend in Mailand, wo im Mai 1983 in Bahnhofsnähe ein Pornokino in Flammen aufgegangen war und sechs Menschen getötet worden sind, nach und nach in die unglaubliche und monströse Mordserie der Gruppe LUDWIG einarbeiten.
Zu welchen Erkenntnissen sind Sie bei Ihrer Arbeit gelangt?
Ich bin bereits im Zuge meiner Recherchen zu „Terror“ auf die Mordserie der Gruppe LUDWIG gestoßen und habe mich, nachdem der Roman dann 2011 erschienen war, näher damit befasst. Das war zufällig zeitgleich mit dem Bekanntwerden der NSU-Mordserie. Für mich waren die Parallelen damals frappierend.
Was meinen Sie mit Parallelen zum Fall NSU?
Eine rechtsextreme Gruppierung, die über Jahre hinweg an verschiedensten Orten des Landes Morde begehen kann, ohne nennenswerte Spuren zu hinterlassen. Die einzige Verbindung zwischen den Verbrechen stellen die Täter selbst her durch ihre mit Nazisymbolik versehenen Bekennerschreiben bzw. im Fall des NSU durch das Bekennervideo. Und bis heute steht in beiden Fällen die Frage nach dem Unterstützernetzwerk im Raum. Im Falle der Gruppe LUDWIG ist die beste Kennerin der Materie, die Journalistin Monica Zornetta, der Meinung, dass Wolfgang Abel und Marco Furlan Teil der Gruppe LUDWIG waren, dass dahinter aber noch ein größeres Netzwerk („una sovrastruttura“) stehe. Auf jeden Fall hat es einen dritten Mann gegeben, der Abel und Furlan am Karnevalssonntag 1984 in einem weißen Mercedes mit deutschem Kennzeichen zur Diskothek Melamara in Castiglione delle Stiviere gefahren hat, wo sie beim Versuch, dort Feuer zu legen, von den Türstehern gestellt worden sind. Diesen dritten Mann und den Mercedes haben mehrere Augenzeugen gesehen, sogar die Münchner Abendzeitung berichtet am 15. März 1984 darüber, aber er hat dann in den späteren Gerichtsverfahren keine Rolle mehr gespielt.
Generell wäre es sicher eine lohnende Aufgabe, die Parallelen und Unterschiede zwischen der Gruppe LUDWIG und dem NSU genauer zu untersuchen. Der Frage nach dem Unterstützernetzwerk der Gruppe LUDWIG werde ich in meinen Nick-Marzek-Romanen weiter nachgehen. Ich arbeite bereits am zweiten Band.
Titelbild: franz12/shutterstock.com und © Oliver Geissler
Lesetipp: Maurer, Martin: Die Krieger: Ein Fall für Nick Marzek. Dumont Buchverlag. 10. November 2020. 364 Seiten. 16 Euro.