Sahra Wagenknecht zu Werner Rügemers Buch
Zufall oder nicht? 200 Jahre nach der Geburt von Friedrich Engels, der die wohl prominenteste Anklageschrift gegen den Manchester-Kapitalismus über „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ verfasste, hat der Journalist und Publizist Werner Rügemer ein Buch über die Lage der arbeitenden Klasse in der EU veröffentlicht. Darin beschreibt er das Unrecht, das dieser Klasse widerfährt und nennt Verantwortliche beim Namen.
Er analysiert die Strukturen und Institutionen, welche die dominierenden Kapital-Akteure in der EU zur Durchsetzung ihrer Interessen geschaffen haben, und informiert über aktuelle Kämpfe, die in vielen europäischen Staaten gegen Arbeitsunrecht und Ausbeutung geführt werden. Es ist eine spannende, flüssig geschriebene Klageschrift – vor allem ist es eine überaus nützliche und wertvolle Sammlung von Fakten und Informationen, über die auch und gerade die etablierten Medien nur am Rande, wenn überhaupt, berichten.
Das Buch handelt von dem „großen Tabu“ der EU: Davon, wie Beschäftigte in Ost-, Süd- und Westeuropa ausgebeutet, gedemütigt, zermürbt, gegeneinander ausgespielt und zum Schweigen gebracht werden. Es informiert über Leerstellen in unserer Verfassung, über gesetzlich fixierte Billiglöhnerei, die vielfache Missachtung von Gesetzen und Urteilen durch Unternehmer und ihnen hörige Regierungen – aber auch darüber, wie die in der UNO und der Internationalen Arbeitsorganisation ILO niedergeschriebenen Menschenrechte als Waffe genutzt werden können. Es stellt Korruption und Lobbyismus in all ihren Facetten dar und zeigt gleichzeitig auf, welch große Rolle investigativer Journalismus und kritische Forschung in aktuellen Klassenkämpfen spielen (können). Es analysiert die Wurzeln der Krise und des sich ausbreitenden Rechtspopulismus, die grenzüberschreitende Suche des Kapitals nach immer billigeren und willigeren Arbeitskräften, die vielfältigen und tiefgehenden Zersplitterungen der Arbeiterschaft, aber auch die neuen Aufbrüche gegen Ausbeutung und Entrechtung, die Solidarisierung über Berufsgruppen und Grenzen hinweg, die zwar noch zaghafte, aber wachsende Vernetzung des Widerstands gegen Lohndumping, gegen die Zerstörung des Sozialstaats und unserer natürlichen Lebensgrundlagen.
Man muss nicht jede Position von Werner Rügemer teilen, man mag eine stärkere theoretische Einordnung vermissen, man mag beklagen, dass Gewerkschaften als handelnde Akteure etwas unterbelichtet bleiben. Trotzdem kann ich all jenen, die in Gewerkschaften, Betrieben, in Politik oder Medien gegen Arbeitsunrecht kämpfen (wollen), dieses Buch ans Herz legen, denn es liefert jede Menge an Munition, an Anregungen und Denkanstößen für aktuelle und kommende Auseinandersetzungen.