Das Impfdilemma

Das Impfdilemma

Das Impfdilemma

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Die Corona-Strategie der Bundesregierung sieht derzeit nur ein Exit-Szenario vor. Und das geht davon aus, dass mindestens zwei Drittel der Bundesbürger geimpft sind. Ob und vor allem wann dies überhaupt der Fall sein wird, ist jedoch unbekannt. Gesundheitsminister Spahn hält dieses Ziel bereits Ende kommenden Sommers für erreichbar – eine völlig realitätsferne Prognose, wie nicht zuletzt die vorläufige Version des Impfplans der Ständigen Impfkommission zeigt, dessen zeitlicher Horizont eher ernüchternd ist. Demnach wird die Gruppe der unter 60-Jährigen ohnehin nicht vor Dezember 2021 bei der Impfung zum Zuge kommen. Will man das Land nicht noch monate- oder gar jahrelang in einen Dauerlockdown mit verheerenden Kollateralschäden zwängen, sollte die Politik die nächsten Wochen und Monate besser dafür nutzen, einige grundsätzliche Fragen anzugehen. Von Jens Berger

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wie viel Impfstoff steht überhaupt zur Verfügung?

Für mehr als die Hälfte der Deutschen ist die Frage, ob man sich auch vor dem Hintergrund der unbekannten Nebenwirkungen der Vakzine wegen Covid-19 impfen lassen wird, im kommenden Jahr wohl eher eine theoretische Frage. Zwar werden die ersten beiden Impfstoffe der Firmen BioNTech/Pfizer und Moderna aller Voraussicht nach bereits zum Jahreswechsel in der EU zugelassen. Deutschland hat sich vertraglich bereits bis zu 100 Millionen Impfdosen von BioNTech/Pfizer zusichern lassen. Das gilt jedoch auch für die USA, die sich sogar eine Option auf weitere 500 Millionen Impfdosen vertraglich gesichert haben, Japan, das 120 Millionen Impfdosen bestellt hat, Kanada mit 76 Millionen Impfdosen und Großbritannien mit 40 Millionen Impfdosen. Die Summe der Bestellungen übersteigt die Kapazitäten der Produktion um ein Vielfaches.

Beim Impfstoff von Moderna haben die USA ein weitreichendes Vorkaufsrecht, da dessen Forschung und Entwicklung durch Moderna maßgeblich über das US-Programm „Operation Warpspeed“ finanziert wurde. Wann Dosen dieses Herstellers in Deutschland zur Verfügung stehen, ist unbekannt. Beim BioNTech/Pfizer-Impfstoff ist die Frage, zu welchem Zeitpunkt welches Land wie viele Dosen ausgeliefert bekommt, hingegen vor allem eine Frage der Produktionskapazitäten und hier scheint es ernsthaftere Probleme zu geben. Bis Ende Januar wird Deutschland nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums lediglich drei bis vier Millionen Dosen zur Verfügung gestellt bekommen. Da die beiden bald zur Verfügung stehenden Impfstoffe jeweils zwei Impfdosen für eine Impfung benötigen, könnten somit bis Ende Januar maximal anderthalb bis zwei Millionen Deutsche geimpft werden. Damit wäre das Ziel des Corona-Impfplans der Ständigen Impfkommission kaum einzuhalten.


Vorläufige Empfehlung eines Impfplans der Ständigen Impfkommission

Bis Mitte August sieht dieser Plan die Impfung von 20,8 Millionen Bürgern vor – weniger als die Hälfte der „Prognose“ von Jens Spahn. Und selbst dieser realistischer klingende Plan geht immer noch davon aus, dass die entsprechenden Impfdosen auch tatsächlich zur Verfügung stehen. Doch das ist mehr als ungewiss.

Deutschlands Impfstoff-Einkauf ist mit der EU abgestimmt. Die EU hat bislang Rahmenverträge über die Impfstoffkontingente der Hersteller AstraZeneca, Pfizer, Moderna, Johnson&Johnson, Sanofi/GSK und CureVac abgeschlossen. Davon stehen jedoch in absehbarer Zeit nur die Impfstoffe von Pfizer und (in kleineren Mengen) Moderna zur Verfügung. AstraZeneca hat nach dem Debakel um seinen falschen Zwischenbericht nun angekündigt, eine völlig neue globale Studie zu starten, mit der man die Wirksamkeit des Impfstoffs belegen will. Dennoch hofft man auf eine baldige Zulassung auch in der EU, nachdem die US-Zulassungsbehörde FDA bereits Zweifel angemeldet hat. Der Zulassungsantrag von AstraZeneca wird somit zum Lackmustest für die europäische Zulassungsbehörde EMA, die ja stets betont, keine Kompromisse bei der Frage der Sicherheit einzugehen. Wenn die EMA dem ökonomischen und politischen Druck standhalten sollte, ist es unwahrscheinlich, dass der Impfstoff von AstraZeneca vor dem Herbst 2021 in Deutschland zum Einsatz kommt.

Noch schlechter sieht es für den Impfstoffkandidaten des französisch-britischen Pharmamulti-Duos Sanofi und GlaxoSmithKline aus. Der ist nämlich in der klinischen Studie mit Pauken und Trompeten durchgefallen und konnte keine ausreichende Schutzwirkung nachweisen. Nun will man eine neue klinische Studie mit einer anderen Dosierung durchführen. Selbst wenn diese neue Studie erfolgreich ist, wird eine Zulassung wohl nicht vor dem Herbst 2021 erfolgen können. Früher ist auch nicht mit dem im Vorfeld hoch gehandelten Impfstoffkandidaten des deutschen Biotech-Unternehmens CureVac zu rechnen. CureVac hat die entscheidende dritte klinische Phase erst gestern gestartet. Ob der Impfstoff wirkt und welche Nebenwirkungen er hat, ist noch völlig offen. Nicht wirklich rund läuft es auch beim US-Multi Johnson&Johnson, dessen Impfstoffdesign vom belgischen Biotech-Unternehmen Janssen stammt. Johnson&Johnson hat Mitte November nach offenbar nicht gerade optimalen Ergebnissen der laufenden Studien eine zweite klinische Phase-3-Studie mit einer neuen Dosierung gestartet. Ob diese Studie Erfolg haben wird, ist genauso wie der Zeitpunkt einer möglichen Zulassung nicht absehbar.

Große Unbekannte sind derweil die Impfstoffe aus Russland und China. Russland vermeldete erst gestern positive Ergebnisse zu seinem Sputnik-V-Impfstoff und kündigte eine baldige Veröffentlichung dieser Ergebnisse in einem Fachblatt zur Peer-to-Peer-Überprüfung an. Bis dies geschehen ist, lässt sich wenig Konkretes zur Sicherheit und Wirksamkeit sagen. Schlechte Meldungen gab es am Wochenende indes aus China. Der chinesische Hersteller Sinopharm musste seine Phase-3-Studie in Peru nach einem schweren Zwischenfall stoppen. Was die nun folgenden Untersuchungen ergeben, ist ungewiss. Für die Debatte zur deutschen Impfkampagne spielen diese Meldungen jedoch ohnehin keine Rolle, da die EU den Einkauf russischer oder chinesischer Impfstoffe nicht vorgesehen hat.

Wer lässt sich impfen?

Wie viel Impfstoff wann zur Verfügung stehen wird, ist jedoch nur ein Aspekt. Eine weitere wichtige Frage ist, wie viele Bürger sich überhaupt impfen lassen wollen. Und hier weisen jüngere Umfragen eher auf eine deutlich abnehmende Impfbereitschaft hin. Nur rund die Hälfte der Deutschen würde sich auf Basis der jetzigen Informationen sofort freiwillig impfen lassen. Bei der Hälfte der Skeptiker wird in zwei Drittel der Fälle der Zweifel an der Sicherheit des Impfstoffs als Argument gegen eine Impfung zum jetzigen Zeitpunkt genannt. Und diese Zweifel sind mehr als berechtigt, handelt es sich bei sämtlichen Kandidaten doch um neue Technologien. Die NachDenkSeiten haben in zahlreichen Artikeln darüber berichtet, dass durch die Teleskopierung der klinischen Studien zudem eine Erforschung der seltenen Nebenwirkungen kaum und eine Erforschung der möglichen Spätfolgen gar nicht möglich ist.

Die persönliche Entscheidung, ob man sich impfen lässt, ist im Idealfall eine Abwägung von Risiken. Wie groß ist das Risiko, dass ich mich überhaupt infiziere? Wie groß wäre dann das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs? Und wie groß ist auf der anderen Seite das Risiko einer vielleicht schweren Nebenwirkung oder ungewollter Spätfolgen der Impfung? Da es jedoch nur unzureichende Informationen über die Risiken der Impfstoffe gibt, kann man diese Abwägung zur Zeit noch nicht seriös vornehmen. Spricht dies nun zwingend gegen eine Impfung? Nein, denn so unzureichend die Datenlage ist, lässt sie doch zumindest bereits eine grobe Abwägung zu.


Sterblichkeit nach Alter, Geschlecht und Vorerkrankung. Quelle: Predicted COVID-19 Fatality Rates Based on Age, Sex, Comorbidities, and Health System Capacity – Center for Global Development, Working Paper 535 June 2020

So stellen das individuelle Risiko, an Covid-19 zu erkranken, und das persönliche Risikoprofil einen gewaltigen Faktor dar. Reduziert man die Frage auf die Sterblichkeit, so hat beispielsweise eine mit Sars-Cov-2 infizierte zwanzigjährige Frau ohne einschlägige Vorerkrankungen eine geschätzte statistische Sterblichkeit von 0,0002%, während ein vorerkrankter über 80 Jahre alter Mann eine statistische Sterblichkeit von mehr als 20% aufweist. Wenn man nun für die Impfung eine rein hypothetische(!) Wahrscheinlichkeit einer schweren Impf-Nebenwirkung von 1:100.000 unterstellt, fiele es der jungen Frau bei einer Abwägung der Risiken sicher schwer, Vorteile durch die Impfung zu sehen, während der vorerkrankte alte Mann wohl alleine schon wegen seines massiven Risikos im Falle einer Infektion eine gänzlich andere Abwägung treffen wird.

Schaut man sich nun den Entwurf des Impfplans an, sieht man, dass bis Mitte August ohnehin vor allem solche Personen auf der Liste stehen, bei denen ein sehr hohes individuelles Risiko im Falle einer Infektion besteht – eine wichtige Ausnahme sind jedoch das medizinische Personal und die Kontaktpersonen, die bei einer persönlichen Abwägung in eine sehr komplizierte Lage gebracht werden, auf die es keine einfachen Antworten geben kann. Der Rest hat – so zynisch dies klingen mag – den Luxus, mit seiner persönlichen Entscheidung noch etwas länger zu warten und zu hoffen, dass bis dahin verlässlichere Daten vorliegen, die eine genauere Abwägung der Risiken zulassen.

Ein Umdenken ist erforderlich

Man muss sicherlich kein Prophet sein, um anhand dieser Informationen und dem vorläufigen Impfplan ein Szenario für das kommende Jahr zu entwerfen. Wenn bis in den April tatsächlich der überwiegende Teil der Hochrisikogruppe geimpft ist, werden die Sterbeziffern massiv nach unten gehen und auch die schweren Krankheitsverläufe, die intensivmedizinisch behandelt werden müssen, dürften merklich zurückgehen. Heute beträgt das Medianalter der an oder mit Covid-19 Verstorbenen 83 Jahre. Spätestens im Frühsommer, wenn auch die über 75-Jährigen geimpft sind, werden wir daher auch eine völlig andere Debatte führen können.

Die Politik hat es in diesem Jahr nicht geschafft, die Risikogruppen zu schützen, und es gibt auch kein Konzept, das im kommenden Jahr besser zu machen. Wenn dies nun – bei allen potentiellen Risiken und noch nicht einschätzbaren Nebenwirkungen – die Impfung schaffen sollte, hat Corona seinen Schrecken verloren. Abseits der Risikogruppen ist die Krankheit bei weitem nicht so gefährlich, dass sie einen permanenten Ausnahmezustand rechtfertigen würde. Sicher – es gibt seltene Nebenwirkungen und es gibt in sehr seltenen Fällen auch schwerste Krankheitsverläufe bei jungen Menschen. Aber hier hat Covid-19 kein Alleinstellungsmerkmal. Auch andere Krankheiten können in seltenen und sehr seltenen Fällen schwere und schwerste Nebenwirkungen hervorrufen. Wenn die Gesellschaft – und mehr noch die Medien – dies im Frühjahr endlich rational wahrhaben würde, könnte „der ganze Spuk“ ein Ende finden und ein Exit aus dem Maßnahmen-Overkill wäre möglich.

Dass es so kommen wird, ist jedoch nach jetziger Einschätzung der Lage eher unwahrscheinlich. Denn selbst wenn die Sterbeziffern massiv zurückgehen, stehen immer noch die Neuinfektionen im Raum. Die werden zwar – was vollkommen natürlich ist – ab Mitte April klimabedingt ohnehin zurückgehen, wie es bei allen Erkältungserkrankungen der Fall ist. Die Entwicklung in diesem Jahr hat jedoch auch gezeigt, dass Corona nicht verschwinden wird. Wenn die Politik also weiter an der unrealistischen Idee festhält, die Maßnahmen so lange aufrecht zu erhalten, bis entweder zwei Drittel der Bevölkerung geimpft sind oder keine Neuinfektionen mehr registriert werden, ziehen sich die Maßnahmen noch weit bis in das Jahr 2022 hinein – mit all ihren katastrophalen Kollateralschäden, die die NachDenkSeiten immer wieder thematisieren.

Sobald die Hochrisikogruppen geimpft sind und die Infektionen klimabedingt wieder deutlich zurückgehen, bietet sich die wohl einmalige Chance für ein Exit-Szenario. Was wäre die Alternative? Sollten keine zusätzlichen Impfstoffe vom Himmel fallen, wird die von der Bundesregierung favorisierte Strategie, über eine Impfung eine Herdenimmunität zu erreichen, noch mindestens zwei Jahre dauern. Zwei Jahre Ausnahmezustand mit Lockdowns und Einschränkung der Grundrechte sind jedoch ein Horrorszenario. Die Impfung wird uns nicht retten. Sie kann – wenn die Politik diese Chance wahrnimmt – uns jedoch einen Ausweg aus dem Wahnsinn weisen. Und dies nicht erst in einigen Jahren, sondern bereits im nächsten Frühjahr. Wir müssen nur wollen.

Titelbild: Haris Mm/shutterstock.com