Im Jemen wütet die laut UN „schlimmste humanitäre Katastrophe der Welt“: Zu einer Jahrhundert-Hungersnot gesellen sich Dengue, Polio und Malaria. Es grassiert die größte je in der Menschheitsgeschichte registrierte Choleraepidemie und auch die Corona hat sich vermutlich im gesamten Land ausgebreitet. Über 80 Prozent der Menschen sind auf humanitäre Hilfen angewiesen. Doch vom Kleinstbetrag von 3,38 Milliarden US-Dollar, den die UN in diesem Jahr für ihre Dutzenden Hilfsprogramme im Jemen benötigt, wurde bis heute nicht einmal die Hälfte überwiesen. Die reichen Geberländer weigern sich, ihre Zusagen einzuhalten. Die Welt dreht dem Land kollektiv den Rücken zu – das ist keine Gleichgültigkeit, kein bloßes Desinteresse, das ist Mord durch Unterlassung.
Von Jakob Reimann.
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Das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) gibt auf seinen Seiten an, es benötige für 2020 insgesamt 3,38 Milliarden US-Dollar für sämtliche UN-Programme, die im Jemen das Überleben von 29 Millionen Menschen sichern. Das Jahr geht seinem Ende entgegen und von dieser Summe sind noch nicht einmal 50 Prozent überwiesen – lediglich 1,6 Milliarden sind bis 10. Dezember eingetroffen. Die Regierungen von 194 Ländern und weltweit unzählige Stiftungen und NGOs konnten nicht ein paar Milliarden Dollar zusammenkratzen, um der laut UN „schlimmsten humanitären Katastrophe der Welt“ wenigstens in ihren Grundzügen etwas entgegenzusetzen und ein weiteres Eskalieren der menschlichen Tragödie zu verhindern – um Millionen Menschen im kriegsvernichteten Land wenigstens die das Überleben sichernde Tageskalorienzufuhr zu sichern. 24 Millionen Menschen im Jemen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen – über 80 Prozent der Bevölkerung. Die Gleichgültigkeit der Welt und die Weigerung zu helfen werden zum Tode vieler dieser Menschen führen.
Katastrophale Folgen
Da die Geber sich weigern, ihre zugesagten Hilfen für den Jemen zu leisten, musste bereits die Hälfte der über 40 UN-Programme im Land gänzlich eingestellt oder drastisch zurückgefahren werden. Schon im April wurden acht Millionen Menschen die Lebensmittelrationen halbiert, Millionen weitere werden folgen. Spezialbehandlungen hunderttausender kriegstraumatisierter Frauen und Mädchen wurden eingestellt. In mehr als 300 Krankenhäusern mussten Behandlungen bereits zum Teil oder in Gänze eingestellt werden und die Versorgung mit Medikamenten und Gebrauchsgütern von 2.500 Kliniken läuft in Kürze aus, was der Hälfte sämtlicher Gesundheitseinrichtungen im Jemen entspricht. Die Menschen werden wieder an einfachsten Krankheiten sterben. Unzählige unterernährte Kinder werden von Nahrungsmittellieferungen abgeschnitten. Das alles geschieht in Zeiten der Corona, von der die UN annimmt, dass sie sich bereits ins gesamte Land verbreitet hat. Da die Saudi-Emirate-Koalition jedoch jede erdenkliche zivile Infrastruktur im Jemen bombardiert, ist ein auch nur rudimentäres Monitoring der Corona-Lage im Land undenkbar. Im Jemen wütet eine Jahrhundert-Hungersnot und neben Dengue, Polio und Malaria grassiert die größte je in der Menschheitsgeschichte registrierte Choleraepidemie. Und die Welt dreht dem Land kollektiv den Rücken zu – das ist keine Gleichgültigkeit, kein bloßes Desinteresse, das ist Mord durch Unterlassung.
Lise Grande, die Humanitäre Koordinatorin der UN für den Jemen, klagt an: „Dies ist die schlimmste humanitäre Krise der Welt, doch wir haben nicht die Ressourcen, die wir brauchen, um diese Menschen zu retten. Sie leiden und werden sterben, wenn wir nicht helfen.“
Wer zahlt was?
Mark Lowcock, der Nothilfekoordinator der Vereinten Nationen, beschreibt gegenüber CNN auch die psychischen Auswirkungen ausbleibender Zahlungen auf die Menschen vor Ort: „Ich finde es besonders verwerflich für Länder, die letztes Jahr Beiträge geleistet haben und auch für dieses Jahr neue Beiträge zugesagt hatten, jetzt nicht bezahlen zu wollen. Erst geben sie den Menschen Hoffnung, dass Hilfe bestimmt bald kommen wird, und dann zahlen sie nicht und zerstören so die Hoffnungen der Menschen.“
Von den für 2020 bereits eingegangenen 1,6 Milliarden Dollar wurden 1,3 Milliarden von insgesamt 33 Regierungen aufgebracht und weitere 300 Millionen von 35 Organisationen und Stiftungen (die meisten davon andere UN-Organisationen). Mit 530 Millionen Dollar sind die USA dieses Jahr der größte Geber (Rückgang um ein Drittel zum Vorjahr), gefolgt von Saudi-Arabien mit 330 Millionen (Rückgang um drei Viertel), Deutschland mit 171 Millionen (Rückgang um fast zwei Fünftel) und Großbritannien mit 147 Millionen (Rückgang um ein Drittel). Über Intentionen dieser zumindest formal hohen Zahlungen möchte ich nicht spekulieren, nur sollten wir im Hinterkopf behalten, dass die Regierungen dieser vier Länder auf die eine oder andere Weise zu den Hauptverantwortlichen für das Elend im Jemen gehören. Die Regierungen anderer reicher Länder sollten angesichts der Beträge, die sie zur Bekämpfung der „schlimmsten humanitären Katastrophe der Welt“ gespendet haben, vor Scham im Boden versinken: Schweiz (10,7 Millionen US-Dollar), Frankreich (6,5 Millionen), Russland (4 Millionen), Dänemark (1,1 Millionen), Katar (0,8 Millionen), Spanien (0,4 Millionen), Tschechien (0,3 Millionen), Litauen, Bulgarien und Zypern je rund 55.000 und dem unverschämt reichen Vatikan waren seine hungerleidenden Glaubensschwestern und -brüder im Jemen die göttlich großzügige Summe von sage und schreibe 7.500 Dollar wert. (Hier kann die vollständige Gebertabelle eingesehen werden.)
In einer Mischung aus Orwells Neusprech und Trumps alternativen Fakten erklärte ein Sprecher der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), die neben Saudi-Arabien die zweite treibende Kraft im Krieg gegen den Jemen sind und keinen einzigen Cent gespendet haben, von CNN auf die ausbleibenden Zahlungen angesprochen: „Das Engagement der VAE für das jemenitische Volk ist unerschütterlich – die VAE werden auch in Zukunft einer der größten Geber für den Jemen sein, solange diese Unterstützung erforderlich ist“.
Elend als politisches Faustpfand
In den letzten beiden Kriegsjahren 2018 und 2019 blieben 19 beziehungsweise 13 Prozent der für die UN-Hilfsprogramme im Jemen benötigten Gelder ungedeckt, in diesem Jahr sind es bis Stichtag 10. Dezember ganze 52 Prozent ausgebliebener Überweisungen.
Quelle: Financial Tracking System, U.N. Office for the Coordination of Humanitarian Affairs
Dieser Einbruch trifft die Menschen im Norden des Landes – jene in den angestammten und eroberten Gebieten der Houthi-Rebellen um die Hauptstadt Sana’a bis nordwärts zum jemenitisch-saudischen Grenzgebiet – besonders hart, da Hilfsprogramme in den Rebellengebieten stets als erste eingestellt werden. Den Houthis wurde in der Vergangenheit des Öfteren vorgeworfen, internationale Hilfen zu politisieren, indem Lieferungen umgelenkt oder strategisch zurückgehalten und so als politisches Druckmittel eingesetzt werden. Sprecher der Rebellen weisen die Vorwürfe erwartungsgemäß kategorisch zurück, doch kommt – oder zumindest kam es in der Vergangenheit – glaubhaften Berichten und Quellen zufolge wiederholt zu derartigen Fällen. Dieses Vorgehen der Houthis ist ohne Frage mit Nachdruck zu verurteilen, doch kann es nie als Rechtfertigung herhalten, zukünftige Hilfen einzustellen.
Die drei treibenden Kriegsparteien Saudi-Arabien, Emirate und USA nehmen eben diese Vorwürfe gegen die Houthis als Vorwand für ihre ausbleibenden oder stark reduzierten Zahlungen. Wenn diese Länder ihrerseits nun ihren finanziellen Zusagen nicht nachkommen, ergehen sie sich in der exakt selben schändlichen Taktik der Politisierung humanitärer Hilfen, die sie den Houthi-Rebellen vorwerfen. Zwar ein gänzlich anderer Kontext, doch erinnert mich das zugrundeliegende Mindset an die Geflüchtetenpolitik der EU, die ebenfalls Notrettung politisiert, wenn sie strategisch abwägt, ob Menschen gerettet werden oder im Mittelmeer ertrinken sollen – durch Unterlassung getötete Menschen als politische Signale.
Die verschiedenen UN-Organisationen im Jemen müssen umgehend mit den nötigen finanziellen Mitteln ausgestattet werden, um Millionen Menschen im Nordjemen vor dem drohenden Hungertod zu bewahren. Die Instrumentalisierung von Hilfslieferungen und -zahlungen, um so politischen Druck auf diese oder jene Partei aufzubauen, ist moralisch zutiefst verwerflich und die Verantwortlichen gehören dafür geächtet. Humanitäre Hilfe darf niemals zum Spielchip auf dem Pokertisch der Mächtigen werden, denn die Leidtragenden dieser politischen Machtgeplänkel sind jedes Mal einzig und allein die hungernden Kinder, Frauen und Männer im Jemen. Ihr verzweifeltes Elend wird zum bloßen machtpolitischen Faustpfand herabgewürdigt.
Perspektivwechsel
Wenn wir mit Milliardenbeträgen hantieren, ist es für das menschliche Gehirn schwer bis unmöglich, den Bezug zur Realität nicht zu verlieren – oder besser: diesen Bezug überhaupt erst einmal herzustellen. Ob da hinter der 1 nun elf oder fünfzehn Nullen stehen, ändert im Grunde nichts an unserer mangelnden Fähigkeit, diese Zahlen tatsächlich in irgendein Verhältnis zu real existierenden Dingen zu setzen: Was schätzen Sie spontan, wie lange werden 100 Menschen von Spaghetti mit Tomatensoße im Wert von 1 Milliarde Euro satt?[1] Unser Steinzeitgehirn wurde von der Evolution für solche Dimensionen nicht ausgelegt. Doch es kann für das Verständnis großer Zahlen durchaus helfen, wenn wir sie ins Verhältnis zu anderen großen Zahlen setzen.
Die 2020 für UN-Hilfsprogramme im Jemen benötigten 3,38 Milliarden US-Dollar entsprechen 1,8 Prozent vom Vermögen des Amazon-CEOs Jeff Bezos (186 Milliarden), dem reichsten Menschen der Welt. Oder auch dem, was Bezos alle 16 Tage an zusätzlichem Vermögen anhäuft. Die für den Jemen benötigte UN-Hilfe entspricht auch 1,3 Prozent der Jahresumsätze der 15 größten Rüstungsschmieden der Welt, heruntergerechnet also dem, was diese alle fünf Tage mit dem Verkauf ihres Tötungswerkzeugs umsetzen. Der für den Jemen benötigte Betrag entspricht weiterhin mageren 0,04 Prozent der Geldvermögen privater Haushalte in Deutschland (6,3 Billionen Euro) oder auch dem, was die Regierungen dieser Welt alle 15 Stunden fürs Militär ausgeben. Würde Jeff Bezos also nur 16 Tage auf seinen Vermögenszuwachs verzichten oder die deutschen Privathaushalte nicht einmal ein halbes Promille ihrer Vermögen abgeben oder die großen Rüstungsschmieden fünf Tage ihre Umsätze spenden oder die Welt für 15 Stunden kein Geld ins Militär stecken: müsste im Jemen für ein ganzes Jahr lang kein Mensch am Hunger sterben und 29 Millionen Jemenitinnen und Jemeniten könnten in Verhältnissen leben, die wenigstens entfernt in die Nähe von dem kämen, was wir als ein Leben in Würde bezeichnen würden.
Die Bundesregierung verkaufte seit Kriegsbeginn im März 2015 Waffensysteme im Wert von 12,6 Milliarden Euro an die Länder, die gegen den Jemen Krieg führen – und zahlte dieses Jahr im Vergleich dazu 171 Millionen Euro für UN-Hilfen im Jemen. Anders formuliert: Für die Versorgung der Opfer, die ihre Waffen im Jemen hervorgebracht haben, bringt die Bundesregierung 2020 ein mageres Prozent von dem auf, was sie in fünf Jahren für die Zerstörung des Landes im Namen deutscher Rüstungsschmieden verkauft hat. Mit ihren Hilfszahlungen mag sie sich altruistisch und großzügig geben – ist sie immerhin der drittgrößte Einzelspender – doch sind diese Zahlungen bei genauem Hinsehen nur zweierlei: der Versuch des Reinwaschens der eigenen Jemen-Weste und damit die Verhöhnung der Menschen vor Ort, die Verhöhnung ihres Leids.
Unsere Prioritäten als Volkswirtschaft, als Staat, und auch als Gesellschaft halten keinerlei Überprüfung stand, zumindest nicht nach rudimentären Maßstäben der Menschlichkeit und Empathie. Falls wir je einen hatten, haben wir unseren moralischen Kompass vor langer Zeit verloren. Nein, die Menschen im Jemen interessieren uns nicht. Die Welt hat den Jemen schon lange im Stich gelassen, sie hat ihn verraten.
Titelbild: anasalhajj/shutterstock.com
Nachtrag: Anstelle der Regierungen weltweit, die ihrer Verantwortung gegenüber dem Jemen nicht nachkommen wollen, möchte ich Sie an dieser Stelle bitten, eine Spende für Hilfsorganisationen im Jemen in Erwägung zu ziehen. Ich möchte Ihnen die deutsch-jemenitische Organisation Yemen Friends ans Herz legen, mit der ich sowohl Deutschland- als auch Jemen-seitig in Kontakt bin und ihre Arbeit über ihre Monatsberichte und auf ihrer Facebook-Seite verfolge. Für 25 Euro kann ein Essenskorb für eine sechsköpfige Familie finanziert werden, der Grundnahrungsmittel wie Reis, Mehl, Zucker, Öl, Datteln und Hülsenfrüchte für einen Monat enthält (teils auch Kleidung und Medikamente). Jeder Euro zählt. Am unproblematischsten bitte über PayPal an: paypal.me/YemenFriends
Vielen Dank!
[«1] Mit 1 Milliarde Euro könnten sich 100 Menschen rund 40.000 Jahre lang von Spaghetti mit Tomatensoße ernähren. (Gesamtpreis für 300 Gramm Spaghetti sowie Tomaten, Zwiebeln, Knoblauch, Öl, Gewürze überschlagen mit 70 Cent pro Person und Tag, genau 39.138 Jahre.)