Sind wir in Sachen Schweden wieder am gleichen Punkt wie zu Beginn der Pandemie? Man könnte es denken: „Wen werden die Schweden verantwortlich machen?“ – überschreibt die FAZ am Montag anklagend einen Kommentar. Schweden sei mit voller Wucht getroffen, die Regierung müsse reagieren. In der internationalen Presse, wie hier in der Washington Post, wird verkündet, „der schwedische Weg ist gefloppt“. Das „Ende des schwedischen Sonderwegs“ wird wie im April und Mai wieder überall vorhergesagt. Stimmt das denn? Und ist die Situation in Schweden Anfang Dezember überhaupt vergleichbar mit den Wochen im Frühling, als Schweden mit die höchsten Corona-Todesraten in Europa zu beklagen hatte? Jein und nein. Von Henning Rosenbusch.
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Der Reihe nach, Christian Drosten Mitte Mai im Deutschlandfunk: “Die Eigenverantwortung ist ja so das schwedische Modell und wir sehen in diesen Tagen und werden es in den nächsten Monaten noch stärker sehen, dass dort eine sehr hohe Übersterblichkeit entstanden ist.“ Damit lag der Berater der Bundesregierung übrigens genauso diametral falsch wie Neil Ferguson, ehemals mit dem gleichen Job in Großbritannien ausgestattet: „Professor Lockdown“, so ein Spitzname seiner Kritiker, trat Anfang Mai zurück, nachdem er wenige Tage nach einem Aufruf zu härtesten Kontaktbeschränkungen zwei Mal eine verheiratete Frau bei sich empfangen hatte. Für Schweden sah er 90.000 Corona-Tote kommen. Das hätte eine Übersterblichkeit am Ende des Jahres von 100 Prozent ergeben. Momentan sieht es aber noch immer so aus, als könne Schweden das Jahr 2020 zumindest ohne signifikante Übersterblichkeit überstehen, womit Staatsepidemiologe Anders Tegnell von Anfang an richtig gelegen haben könnte, als er behauptete: „Die Daten deuten darauf hin, dass unsere zahlreichen Corona-Opfer im April in diesem Jahr ohnehin verstorben wären.“
Und da sind wir beim ersten (großen) Unterschied zur damaligen Berichterstattung über Schweden: Mit Corona-Todesfällen ist aktuell kein rechter Verriss des schwedischen Sonderweges mehr zu machen (denn die liegen heute schon im Vergleich weit unter denen einiger Lockdown-Länder in der EU) und so zeigt man jetzt auf die „Fallzahlen“, die erneut eine „Katastrophe“ auslösen sollen, so wie sie Ferguson schon einmal – falsch – für Schweden vorhergesagt hatte. Und Drostens „sehr hohe Übersterblichkeit in Schweden“ wird es dabei, jedenfalls für das Jahr 2020, ebenso nicht geben. Darauf deuten auch alle aktuellen, diesbezüglich relevanten Zahlen hin, also Covid-19-Intensivpatienten und Todesfälle. Aber mehr dazu später.
Bei einem genaueren Blick auf die „Fallzahlen“ wird einem offenbar, dass Schweden in den letzten Wochen zum Test-Europameister aufgestiegen ist und momentan so viel testet wie kaum ein anderes Land in der EU. Während Deutschland mit Beginn des Lockdown-Light seine Teststrategie geändert, die Kriterien verschärft hatte und momentan nur noch rund 2,24 pro 1.000 Menschen am Tag testet, waren es in Schweden am 22. November, mit stark steigender Tendenz, 4,0 pro 1.000 Menschen. Bis drei Wochen zuvor hatte man in beiden Ländern noch lange ähnlich viel getestet.
Dementsprechend entwickelten sich die Fallzahlen: Seit Anfang September befand man sich in Sachen Fälle am Tag pro Einwohner bis Ende Oktober in etwa auf einem Level. Jetzt findet man in Schweden rund doppelt so viele positiv Getestete wie in Deutschland. Und mit dieser Zahl arbeiten die Kassandra-Rufer heute in aller Welt, wenn sie seit April den schwedischen Weg zum gefühlt 1.000. Mal für gescheitert und beendet erklären. Von den sich auseinanderentwickelnden Testzahlen Schwedens zu Resteuropa, wo fast überall immer weniger getestet wird, findet sich in diesen Artikeln kein Wort.
Sogar in schwedischen Medien werden Testzahlen und Fälle zumindest bei internationalen Vergleichen wenig in Zusammenhang gebracht und hier sind wir bei einem weiteren Unterschied zum April und Mai: Staatsepidemiologe Anders Tegnell steht heute noch stärker unter medialem und politischem Beschuss als im Frühling. Erst am Freitag forderte SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach per Twitter sogar indirekt seinen Rücktritt: „Tegnell lag fast immer falsch. Und das sehr selbstbewusst. Erstaunlich, dass er noch im Amt ist. Einen ehrenvollen Rücktritt hätte ihm niemand vorgeworfen.“ Vielleicht würden es die 65 Prozent der Schweden tun, die laut aktuellen Umfragen noch immer hinter Tegnell stehen. Der 64-Jährige blieb bei der regelmäßigen Pressekonferenz der Gesundheitsbehörde in Stockholm gestern erneut standhaft und beantwortete beharrlich und gewohnt gelassen die Fragen der immer wieder nach einer Maskenpflicht für Schweden rufenden Journalistenmeute aus nah und fern. Tegnell erklärte, dass “die WHO in ihrer Überprüfung vom [1. Dezember] sehr klar feststellte, dass die Studienlage für das Tragen von Masken schwach ist”. Viele Länder mit weit verbreitetem Maskengebrauch hätten „immer noch ein ziemlich ausgedehntes Infektionsgeschehen.”
Doch hinter der Fassade scheint es zu bröckeln. Am Dienstag verkündete die schwedische Gesundheitsbehörde einen ersten wirklichen Bruch beim Umgang mit jungen Schülern, deren Eltern positiv getestet worden sind. Bisher wurden diese ausdrücklich aufgefordert – sofern symptomfrei – weiterhin zur Schule zu gehen. Jetzt sollen sie zuhause bleiben. Das Bemerkenswerte, ja regelrecht Beispiellose daran ist jedoch die Begründung der Behörde, denn: „Das schwedische Gesundheitsamt geht nicht davon aus, dass diese Maßnahme einen entscheidenden Einfluss auf die Ausbreitung von Infektionen in Schulen oder in der Gesellschaft im Allgemeinen haben wird.“ Tegnell hat sich am selben Tag ähnlich geäußert. Die Änderung ziele darauf ab, und jetzt wird es interessant, „Frieden und Ruhe zu schaffen und den Schwerpunkt auf die pädagogische Arbeit in der Schule zu legen“, wird Britta Björkholm zitiert, die zuständige Abteilungsleiterin der schwedischen Gesundheitsbehörden. Eine neue Empfehlung also, nur um die Wogen im Land in der Bevölkerung zu glätten? Oder findet sich der eigentliche Unfrieden ganz woanders?
Die schwedischen Boulevardzeitungen sind mittlerweile dabei, Fragezeichen mit Ausrufezeichen zu ersetzen, wenn es darum geht, einen Riss zwischen den Gesundheitsbehörden und der Regierung, also zwischen Tegnell und Löfven, aufzuspüren, was aber weiterhin von beiden Seiten vehement bestritten wird. Dabei gibt es durchaus gute Indizien: Die Höchstgrenze von acht Personen für öffentliche Versammlungen wurde Anfang November beispielsweise ohne Beteiligung des Gesundheitsamtes festgelegt. „Eine Entscheidung der Regierung, wie viele Menschen sich versammeln dürfen“, kommentierte Tegnell gegenüber Sveriges Radio. Und als das Verbot des Besuchs von Pflegeheimen aufgehoben wurde, kritisierte die schwedische Gesundheitsministerin Tegnells Ansicht, dass es für Menschen in den 70ern jetzt in Ordnung sei, ihre Enkelkinder zu umarmen und zu küssen: „Ich sage grundsätzlich nie etwas gegen Anders Tegnell. Aber ich denke, man sollte vorsichtig sein, um dies als allgemeinen Rat zu interpretieren“, so Lena Hallengren auf einer Pressekonferenz Ende Oktober. Als der Alkoholverkauf nach 22 Uhr verboten wurde, war weder Anders Tegnell noch sonst ein Vertreter der Gesundheitsbehörden bei der Pressekonferenz anwesend. „Die Regierung hat immer mehr begonnen, das Kommando darüber zu übernehmen, was zu tun ist. Vielleicht haben sie angefangen, das Vertrauen in Tegnell ein wenig zu verlieren. Oder sie haben das Gefühl, dass die Situation so ernst ist, dass sie die Muskeln zeigen möchten. Ich kann nur spekulieren“, analysiert der Politikwissenschaftler Bo Rothstein beim Svenska Dagbladet.
Bisher bleiben die Eingriffe von Löfven und Co. jedoch begrenzt und gehen wenig darüber hinaus, was man bereits im Frühjahr getan hatte, wie etwa, dass die gymnasiale Oberstufe nun, vorerst bis Weihnachten, in den Fernunterricht muss: Die Grenze von acht Personen gilt im Privaten weiterhin nur als allgemeiner Rat. Um in diese garantierten persönlichen Freiheiten einzugreifen, müsste Löfven wahrscheinlich die schwedische Verfassung ändern, denn einen Ausnahmezustand sieht diese nur für den Kriegsfall vor. „Wir wollen keine genaue Obergrenze für Weihnachten festlegen, die familiären Beziehungen und Umstände sind sehr unterschiedlich, aber die acht Personen sind als Richtlinie wahrscheinlich gut“, sagte Johan Carlson, der Chef der schwedischen Gesundheitsbehörde, am gestrigen Freitag. Und schob hinterher: „Aber weder die Gesundheitsbehörden noch die Regierung können den Menschen verbieten, Weihnachtsfeiern zu veranstalten, Glühwein zu trinken oder neue Leute kennenzulernen.“
Bisher bleibt das Besondere am schwedischen Sonderweg also bestehen: Eine Maskenpflicht wird noch nicht mal ernsthaft diskutiert, auch eine Empfehlung für eine Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln und Innenräumen, die vor drei Wochen vom im Mai neugegründeten kritischen Covid-19-Expertenrat der königlichen Wissenschaftsakademie „Vetenskapsforum“ ausgesprochen wurde, war nach wenigen Tagen vergessen.
Restaurants bleiben wie Fitnessstudios und alle sonstigen privaten Geschäfte weiter offen, es sind lediglich nicht mehr als acht Personen an einem Tisch gestattet. Und privat dürfen sich auch weiterhin mehr Schweden treffen, hier gelten ebenfalls weiter nur Empfehlungen. Und das hat eben auch Vorteile in Bezug auf die Belastung von Mensch und Wirtschaft. Es sei noch einmal daran erinnert, was Tegnell von Beginn an predigt: „Dies ist ein Marathon, kein Sprint.“ Und solange zwei Drittel der Schweden hinter ihm stehen, haben seine Kritiker und auch Löfven es weiterhin schwer.
Dabei ist vielen Schweden das mittlerweile beste Argument für ihren Sonderweg gar nicht bekannt. Deutlich wurde dies, als ein Mitglied des Anders-Tegnell-Fanclubs auf Facebook ein Video des irischen Lockdown-Kritikers Ivor Cunnings und eine Grafik zur bisherigen Gesamtsterblichkeit 2020 postete und Folgendes dazu anmerkte: „Schwedische Journalisten sollten ihren Job machen, Daten durchzugehen und der Öffentlichkeit zu präsentieren, anstatt nur nach Konfliktpunkten zu suchen. Stattdessen hat es ein Ire getan, weil es interessant ist, Schweden mit anderen Ländern zu vergleichen. Zum Beispiel bekommen wir wahrscheinlich 2020 niedrigere relative Todesopfer als 2010-13 und 2015. Warum ist das keine große Nachricht?“ Vielen Mitgliedern der Gruppe, in der man die Vorzüge von Tegnells Sonderweg ja parat haben sollte, war dies offenbar unbekannt. Im Allgemeinen gibt es in den interessierten Foren und Gruppen der sozialen Netzwerke Schwedens momentan fast mehr Kritik an der medialen „panischen“ Aufbereitung der Pandemie als an deren Handhabung der verantwortlichen Stellen.
In den letzten Tagen gab es einen stärkeren Anstieg der Todeszahlen in Zusammenhang mit Covid-19, woraufhin Schweden, nach vielen Wochen einer ähnlichen Entwicklung pro Einwohner gerechnet, in dieser Momentaufnahme etwas schlechter dasteht als Deutschland. Aber die schwedischen Intensiveinweisungen haben währenddessen seit drei Wochen ein Plateau erreicht, das sich etwa auf der Hälfte des Niveaus der schlimmsten Wochen im April befindet, der R-Wert ist am Freitag auf 1 gesunken und die Todeszahlen sind im Gegensatz zu den Fallzahlen in den letzten Wochen statisch, nicht exponentiell gestiegen. Hierbei sei nochmals erwähnt, dass Schweden momentan und mit weiter steigender Tendenz fast doppelt so viele Menschen pro Tag testet wie Deutschland – immer pro Einwohner gerechnet.
Was Anfang Dezember aber schon einmal feststeht, ist, dass die apokalyptischen Rufer von einer katastrophalen Übersterblichkeit im Jahre 2020, Drosten und Ferguson, dramatisch falsch lagen. Und auch Herr Lauterbach muss sich fragen lassen, warum er nicht lieber die Verantwortlichen in Belgien, Italien, Frankreich, Großbritannien, Tschechien oder Slowenien nach einem „ehrenvollen Rücktritt“ fragt, als Tegnell in Schweden, denn diese haben, Stand heute, weitaus schlechtere Todesstatistiken im Zusammenhang mit Covid-19 vorzuweisen – trotz Lockdowns. Und deshalb ist es weiterhin falsch, den schwedischen Sonderweg für gescheitert zu erklären. Beendet ist er jedenfalls (noch) nicht.
Titelbild: © Janne Widmark (@jannefantasticart)