Der Haushaltsentwurf für 2021 sieht 160 Milliarden Euro Neuverschuldung vor. Jeder dritte Euro, den der Bund ausgibt, ist damit schuldenfinanziert. Was noch vor einem Jahr Politik und Medien zu einem Sturm der Entrüstung getrieben hätte, wird heute – glücklicherweise – nirgends ernsthaft hinterfragt. In der Krise muss der Staat Geld in die Hand nehmen. Richtig. Und dies ist offenbar mittlerweile Konsens. Vollkommen in den Hintergrund ist dabei jedoch die Frage geraten, wer denn diese Schulden wann und wie zurückbezahlen soll. Die Linke träumt von einer Vermögensabgabe, FDP und CDU von einem noch schlankeren Staat. Doch eigentlich ist die Frage ohnehin falsch gestellt. Interessanter als die Frage, wer die „Corona-Schulden“ zurückbezahlen soll, ist nämlich die Frage, ob diese Schulden überhaupt zurückbezahlt werden sollten. Von Jens Berger.
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39,5 Milliarden Euro Überbrückungshilfen für kleine und mittelständische Unternehmen, 2,7 Milliarden Euro für den Impfstoff, 2,5 Milliarden Euro für FFP2-Masken, 400 Millionen Euro für Ausfallgarantien für die Banken und 200 Millionen Überbrückungshilfen für den Profisport – keine Frage, die Kosten für die Corona-Maßnahmen des Bundes läppern sich und die nun eingeplante Neuverschuldung in Höhe von 160 Milliarden Euro für das kommende Haushaltsjahr wird sicherlich noch nicht das Ende der Fahnenstange sein. Alleine für die beiden Lockdown-Monate November und Dezember kalkuliert der Bund zurzeit mit 30 Milliarden Euro nur für die Zuschüsse der durch den Lockdown geschädigten Branchen. Eine Fortsetzung des Lockdowns bis zum Mai würde nur diesen Posten um weitere 60 Milliarden Euro in die Höhe schnellen lassen und von den zu erwartenden Mindereinahmen im Steuersäckel reden wir hier noch nicht einmal. Es wird teuer. Sehr teuer.
Gemessen an den kursierenden Zahlen überrascht der Mangel an Aufgeregtheit bei den üblichen Verdächtigen. Wie selbstverständlich spielen Ideologien, die noch vor wenigen Monaten mit ideologischem Eifer bis aufs Blut verteidigt wurden, heute in der politischen und medialen Debatte so gut wie keine Rolle. Wer spricht heute noch von der Schwarzen Null? Wer von der Schuldenbremse? Und es gibt ja auch keinen rationalen Grund zur Panik. Die Zinsen für Staatsanleihen sind negativ, der Bund bekommt also Geld dafür, dass er sich Geld leiht. Und da zurzeit 71% der Euro-Staatsanleihen indirekt von der EZB gehalten werden und jede neue Emission ohnehin zu großen Teilen bei der EZB landet, gibt es auch keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass sich dies mittel- bis langfristig ändern könnte; zumindest nicht, solange die Politik dies nicht ausdrücklich will und der EZB strengere Regeln auferlegt.
In traditionellen Kategorien gedacht, stellt sich an dieser Stelle zunächst die Frage, wie der Staat diese neuen Schulden denn zurückzahlen will. Doch so dramatisch, wie sich diese Frage anhört, ist sie eigentlich gar nicht. Nach den – mittlerweile nicht mehr aktuellen – Prognosen der EU-Kommission wird die deutsche Staatsverschuldung in diesem Jahr von 59,6% auf 71,2% steigen. Mit den jüngsten Haushaltsänderungen ist für 2021 jedoch eher eine Staatsschuldenquote von 75% wahrscheinlich, zumal momentan auch noch offen ist, wie sehr das Bruttoinlandsprodukt, an dem die Staatsschuldenquote sich ja orientiert, sinkt. 75%? Richtig, das ist der Wert, den Deutschland im Jahr 2014 vermeldete. Sieben Jahre Haushaltskonsolidierung wären für die Katz. Das ist nicht schön, aber auch keine Katastrophe. Sämtliche vergleichbaren Industrienationen haben weitaus höhere Staatschuldenquoten.
Wenn die Linkspartei nun eine Vermögensabgabe zum Ausgleich der „Corona-Schulden“ vorschlägt, so ist dies daher auch nicht zwingend nötig, um die finanziellen Belastungen der Krise zu stemmen. Das Konzept sollte vielmehr als „proaktive“ Antwort auf die zu erwartenden Kürzungsorgien verstanden werden, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von den anderen Parteien gefordert werden, wenn die Krise einmal Geschichte ist und die Konjunkturdaten wieder nach oben gehen. Denn eins sollte klar sein: So unaufgeregt und rational werden die Ideologen der Schwarzen Null die Fragen der Neuverschuldung und Haushaltskonsolidierung nicht ewig sehen. Die Kanzlerin machte vor wenigen Tagen bereits klar, dass die Finanzhilfen nicht „bis ultimo“ gezahlt werden könnten. Zumindest in diesem Punkt will Merkel offenbar schnell zurück zur „Normalität“ der schwäbischen Hausfrau. Wenn man es ein wenig boshaft interpretieren will, könnte man wohl sogar folgern, dass ein Reset von sieben Jahren Austeritätspolitik den Anhängern dieser Politik noch nicht einmal ungelegen kommt, tun sich doch nun neue Potentiale für Kürzungen und Privatisierungen auf.
Denkt man die Debatte rund um die Staatsschulden jedoch weiter, stößt man auf grundlegende Fragen. Warum müssen Staatsschulden überhaupt zurückgezahlt werden? Früher war eine solche Frage blasphemisch, wäre ein Abschreiben der Schulden doch gleichbedeutend mit einer Enteignung der Gläubiger gewesen, die katastrophale Auswirkungen auf das Zinsniveau gehabt hätte. Doch wenn die EZB ohnehin 71% der Staatsanleihen hält, wäre es auch ohne Verwerfungen auf den Finanzmärkten möglich, diese ganz oder zum Teil einfach zu streichen. Genau dies forderte im September eine Gruppe von Europaabgeordneten rund um die französische Ökonomin und Politikerin Aurore Lalucq. Ihr Ruf wird leider ungehört bleiben.
Ist denn ein Schnitt der Staatschulden, die durch die EZB gehalten werden, überhaupt möglich? Ökonomisch auf jeden Fall. Die EZB müsste die Abschreibungen in ihrer Bilanz in diesem Fall durch Sonderposten ausgleichen. Für eine Zentralbank ist so etwas ohne Probleme möglich und wurde in 1973 sogar von der Bundesbank bereits praktiziert, als man den Wert der Währungsreserven massiv abwerten musste. Da das Geld bereits zirkuliert, ist auch die Gefahr einer inflationären Wirkung de facto auszuschließen. Eigentlich würde sich bis auf ein paar Zahlen in der Bilanz der EZB und der Nationalstaaten also gar nichts ändern. Die Staaten hätten damit jedoch ihre fiskalische und monetäre Souveränität wiederhergestellt und vor allem den Manövrierraum, um aktuelle und kommende Probleme aktiv anzugehen. Damit wäre jedoch auch die Macht der Finanzmärkte und der Politiker, die über den Hebel der Fiskalpolitik Druck auf die eigenen Parlamente und die Regierungen anderer Länder ausüben, gebrochen. Und dieser Hebel wird allen voran von Deutschland ausgeübt, das über die Ideologie der Schwarzen Null und der Austeritätspolitik andere EU-Staaten dominiert und ihnen seine Regeln diktiert. Daher ist es auch im Grund unvorstellbar, dass die Bundesregierung solchen Ideen – und seien sie noch so gut begründet – ihre Zustimmung gibt.
Auch die EZB hält von einem Schuldenschnitt übrigens nichts. Christine Lagarde verweist in diesem Zusammenhang – nicht zu Unrecht – auf die EU-Verträge, die der EZB explizit die Staatsfinanzierung untersagen. Zwar wurde dieser Passus durch das Anleihenaufkaufprogramm ohnehin schon verletzt, aber eine Streichung der Schulden auf „Kosten“ der EZB ließe wohl noch weniger Interpretationsspielraum übrig. Verträge könnten freilich geändert werden; allein der politische Wille fehlt, allen voran in Deutschland.
Also müssen wir uns realistisch gesehen nicht mit dem „Warum“, sondern doch mit dem „von wem“ beschäftigen. Wer zahlt die Schulden zurück? So sympathisch die Ideen einer Vermögensabgabe sein mögen, so wenig realistisch sind sie. Im Endeffekt wird es wohl eher auf das hinauslaufen, was Naomi Klein in ihrem herausragenden Buch „Die Schock-Strategie“ beschrieben hat. Die durch die „Corona-Schulden“ aufgeblähte Staatsverschuldung wird nach der Krise die „Begründung“ sein, um bei den Kleinen und dem Mittelstand noch stärker zu sparen, den Staat noch weiter zu verschlanken und den Vermögenden und den internationalen Konzernen noch weiter entgegenzukommen. Die soziale Schieflage wird sich noch weiter verstärken, die Chancen werden noch ungleicher verteilt werden. Nach der Krise ist vor der Krise. Und Corona wird da nur eine Fußnote der Geschichte sein.
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