Was ist die Hauptsache? Schon lange, bevor wir irgendetwas von Corona gewusst haben, hatte sich eine Floskel in den alltäglichen Sprachgebrauch eingeschlichen, die zum Ausdruck brachte, was die meisten Menschen hierzulande für die Hauptsache halten: „Hauptsache gesund!“. Es gibt eine Vielzahl von Abwandlungen, „ich wünsche dir vor allem Gesundheit, das ist das Wichtigste“, in wie vielen Millionen Glückwunschkarten und Grußnachrichten stand in den letzen Jahrzehnten diese Formel? Und die Verabschiedungsformel „Bleiben Sie gesund!“ konnte nur deshalb zur mantraartigen Beschwörung in Pandemie und Lockdown werden, weil sie uns schon lange vertraut war.
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Allerdings soll jeder seine eigene Gesundheit derzeit weniger um ihrer selbst Willen schützen, vielmehr geht es darum, gesund zu bleiben, damit andere nicht gefährdet werden – und das ist wiederum nicht so sehr um deren Gesundheit Willen wichtig. Es geht vielmehr darum, das Gesundheitssystem nicht zu sehr zu strapazieren. Denn die Gesundheit ist in dieser Gesellschaft so wichtig, dass für sie ein ganzes System aufgebaut und gewartet wird, bestehend aus Netzwerken von medizinischen Einrichtungen von der Arztpraxis über die Krankentransportunternehmen bis zu riesigen Kliniken mit ihren hoch technisierten Intensivstationen. Dieses System ist dazu da, die Gesundheit aller zu bewahren und die Gesundheit jeder kranken Person wiederherzustellen. Da das System aber nur auf eine begrenzte Menge von Nicht-ganz-Gesunden und Kranken eingestellt ist, ist nun die Hauptsache, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten, damit die Hauptsache Gesundheit nicht ganz grundsätzlich in Gefahr gerät. Damit wird jeder, für den die Gesundheit nicht die Hauptsache ist, zum Gefährder des Systems.
Vielleicht sind Gesellschaften aber gerade dadurch besonders gefährdet, dass sie sich darin irren, was die Hauptsache ist. Davon können wir in diesen Wochen eine erste Ahnung bekommen, wie die Regierenden im Namen dessen, was vorgeblich die Hauptsache ist, eine seit Jahrzehnten nicht für möglich gehaltene Einschränkung des gesellschaftlichen und privaten Lebens verordnen.
Argumentiert wird dabei damit, dass auf alles verzichtet werden muss, was nicht unbedingt notwendig ist, damit die Hauptsache, nämlich die Gesundheit, möglichst nicht gefährdet wird.
Allerdings ist für viele von uns, wenn man mal ganz ehrlich auf sich selbst schaut, die Gesundheit keineswegs die Hauptsache. Dass man sich bei allzu großer Nähe zu anderen Menschen Krankheiten aller Art einfangen kann, wussten wir auch schon 2019 – trotzdem suchen wir diese Nähe. Vom Genuss von Alkohol und Zigaretten wollen wir gar nicht reden, solche „Laster“ verleidet uns die „Hauptsache-gesund“-Maxime ja schon länger. Wir joggen nicht nur vorsichtig im Interesse der Gesunderhaltung, wir trainieren für Marathons und treiben sogar Sportarten mit hohem Verletzungsrisiko. Wir essen ungesunde Delikatessen, weil sie uns schmecken, wir engagieren uns in Projekten, die uns wichtig sind, ohne Rücksicht auf die Gesundheit. Vieles von dem, worauf wir stolz sind, woran wir uns auch nach Jahren noch gern erinnern, was wir bei anderen bewundern und was wir auch gern mal tun würden, ist ungesund. Es scheint, als ob das, was unserem Leben Sinn und Bedeutung verleiht – und was somit doch die eigentliche Hauptsache sein sollte – oft mit dem Primat der Gesunderhaltung nicht zusammenpasst.
Schon in den letzten Jahren hat der Widerspruch zwischen dem Verhalten der Menschen beim Versuch, ein sinnvolles, irgendwie lohnenswertes Leben zu führen, und der gesellschaftlichen Norm, es sei die Hauptsache, gesund zu sein, zunehmend zur Stigmatisierung von allem geführt, was irgendwie die Gesundheit gefährden könnte. Das konnte man bis vor einem Jahr aber noch weitgehend ignorieren. Mit der Corona-Pandemie sind wir nun aber plötzlich in einer völlig neuen Situation. Nicht nur, dass nun vieles, was uns wichtig ist, in den Bereich des Ungesunden, und damit vermeidbar Risikobehaftetem und zugleich eben auch Unwichtigem gerückt ist: Treffen mit Freunden, gemeinsames, ausgelassenes Feiern, Musizieren und Trainieren, Kinos und Theater besuchen, gemeinsam Singen, Demonstrieren, Diskutieren. Es wird nun nicht nur missbilligt, dass man mit seiner je eigenen Gesundheit unvorsichtig oder nachlässig umgeht, es gilt nun auch als unsolidarisch oder gar asozial, weil man ja mit seinem Verhalten nicht nur sich selbst, sondern auch andere und vor allem das Gesundheitssystem überhaupt gefährdet.
Nun könnte man sagen, dass die Zeit der Pandemie ja bald vorbei sein wird, weil ein Impfstoff ja bereits gefunden ist und irgendwann im nächsten Jahr die Pandemie besiegt sein wird – und dann wird doch alles wieder so sein, wie es vorher war.
Aber diese Hoffnung könnte sich als trügerisch erweisen. Zum einen sind die Ursachen für die globale Ausbreitung von Pandemien nicht beseitigt. 2014 benannte der damalige US-Präsident Obama Virus-Pandemien als neue Gefahr, die Folge des Klimawandels und der zunehmenden Globalisierung sind. Warenströme, Arbeitskräftebewegungen, Tourismus – das alles erhöht die Wahrscheinlichkeit einer schnellen und globalen Ausbreitung von Virus-Erkrankungen. Die Veränderung des Klimas begünstigt zudem die Ausbreitung von Tierarten als Träger von Viren in Gegenden, in denen sie zuvor nicht anzutreffen waren.
Zum anderen wird sich unser Umgang auch mit ganz gewöhnlichen Ansteckungskrankheiten und Grippewellen vermutlich ändern. Die Techniken der Ansteckungsvermeidung, die wir gerade erlernen und erleiden, werden sich schnell zum Standard und zur Norm entwickeln. Wenn man erstmal gesellschaftlich die Norm akzeptiert hat, dass Geselligkeit, Feiern, Kneipen-, Kino- und Konzertbesuche entbehrliche Nebensächlichkeiten sind, die man verbieten kann, wenn die Gesundheit auf dem Spiele steht, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass ein „Lockdown light“ auch zur Bekämpfung von Grippe-Epidemien eingesetzt wird, die wir vor Jahren einfach durchlitten haben.
Das wird für unsere Gesellschaft weitreichende Folgen haben. Wer wird noch eine gemütliche Kneipe aufmachen wollen, wenn er befürchten muss, dass in jedem zweiten Herbst für Wochen oder Monate die Gäste ausbleiben werden? Wie viele Schauspieler und Musiker werden sich andere Tätigkeiten suchen, weil es unerträglich ist, monatelang nicht spielen und nicht auftreten zu können und auf staatliche Almosen angewiesen zu sein? Wird man überhaupt noch große Festivals oder aufwändige Konzerttouren planen wollen, wenn man die Sorge haben muss, dass man am Ende die ganze Kreativität umsonst investiert hat?
Dazu kommt, dass auch die Menschen, die Theater, Konzerte, Kneipen und Kinos besuchen, ihr Verhalten ändern werden. Davon konnte man schon in den vergangenen Monaten zwischen den Lockdowns einen Eindruck bekommen. Auch wenn die Kinos und Theater wieder geöffnet waren, blieben viele Plätze leer. Die Unsicherheit und die Anforderungen der Hygienemaßnahmen hielten viele davon ab, sich wie vorher in die Publikumsreihen zu setzen.
Es ist ohnehin keine Selbstverständlichkeit, sich abends und an den Wochenenden in Kneipen, Restaurants, Clubs, Kinos, Stadien, Theatern mit anderen Menschen zu treffen. Man kann auch zu Hause bleiben, Bücher lesen und Filme streamen, Modelleisenbahnen bauen, das alles ist auch sinnvoll und gefährdet die Gesundheit – jedenfalls auf den ersten Blick – weniger.
Die Folgen für unser Zusammenleben und für die Existenz unserer Gesellschaft wären allerdings gewaltig. Welche Gefahren die Atomisierung der Gesellschaft hervorbringt, können wir schon seit Jahren beobachten. Wenn wir das soziale Leben auf digitale Medien reduzieren und uns langfristig in sozialer Distanzierung üben, werden wir den Kontakt zur Komplexität der sozialen Welt immer mehr verlieren. Wer im Restaurant sitzt, begegnet im Stimmengewirr der ganzen Vielfalt von Meinungen, Wünschen und Lebensentwürfen. Auf dem Weg in den Club oder ins Konzert sieht man, wenigstens von weitem, auch die Fußballfans und die feiernden Abiturienten. Auf der Familienfeier begegnet jedem die Vielfalt der möglichen Lebenswege und politischen Ansichten. Nicht zuletzt finden wir in den zufälligen Begegnungen die Freunde fürs Leben und die Lebenspartner, mit denen wir womöglich eine Familie gründen. Kurz gesagt, wenn wir die Vielfalt der direkten Begegnungen mit anderen Menschen, den unmittelbaren menschlichen Kontakt der „Hauptsache-gesund“-Maxime opfern, riskieren wir, dass die Gesellschaft schließlich auseinanderfällt und zerstört wird.
Was ist zu tun? Zunächst gilt es, sich über die Maßstäbe des Wichtigen und des Unverzichtbaren, die sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben und die nun in der Pandemie eine beängstigende Macht entwickeln, Gedanken zu machen. Keine Maßnahme, die das soziale Miteinander beschränkt, darf einfach hingenommen werden, nur, weil sie vielleicht irgendwie das Ansteckungsrisiko reduziert. Das beginnt beim Tragen von Gesichtsbedeckungen auf der Straße, beim Gespräch mit Freunden und Fremden. Kinos und Theater, Gaststätten und Clubs hatten nach dem ersten Lockdown schon gezeigt, dass es möglich ist, die Gefahr von Virusübertragungen beherrschbar zu machen. Wir müssen an diese Erfahrungen dringend wieder anknüpfen, statt sie mit der Fortsetzung des Lockdowns wieder zu verschütten.
Statt nur über die Gefahren einer Covid19-Erkrankung zu reden, müssen wir über die Gefahren der sozialen Distanzierung reden, von der faktischen Einschränkung des Demonstrations- und Versammlungsrechts über die Beschränkung der Möglichkeit, soziale Vielfalt, Streit und Diskussion zu erleben, Auseinandersetzungen zu führen, aber auch glücklich zusammen zu sein und sozialen Zusammenhalt auch ganz praktisch zu erleben, bis hin zur intimen Nähe mit Verwandten, Großeltern, Freunden – all das, was uns zu solidarischen, mitfühlenden Menschen macht. Mag sein, dass man sich ein paar Wochen lang solidarisch mit allen fühlt, wenn man „zu Hause bleibt“ – aber Mitmenschlichkeit und Zusammengehörigkeit braucht auf lange Sicht physische, leibliche Nähe. Die Gesundheitsgefahren durch Pandemien und Grippewellen werden nicht verschwinden, wenn ein Impfstoff gegen das Corona-Virus gefunden ist. Er wird uns nur eine kleine Pause zur Besinnung verschaffen, die wir nutzen müssen, um darüber zu streiten, was wirklich eine Hauptsache ist.
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