Wochenlang wurde der Krieg um Berg-Karabach von den Leitmedien weitgehend ignoriert. Aber als sie sich endlich zu einer ausführlicheren Berichterstattung aufrafften, legte der SPIEGEL bemerkenswertes Mitgefühl an den Tag. Für die von der Türkei finanzierten ausländischen Söldner! Von Leo Ensel.
Seit einem halben Monat schweigen – durch Russland erzwungen – die Waffen im Südkaukasus. Aber für Armenien war das bereits Fünf nach Zwölf!
Die aserbaidschanischen Angreifer waren mit äußerster Brutalität vorgegangen: Sie bombardierten in dem von ihnen beanspruchten Territorium gezielt Städte und Ortschaften, Schulen, Kindergärten, selbst Krankenhäuser und Kirchen. Dabei setzten sie auch international geächtete weiße Phosphorbomben gegen die in die Wälder geflüchtete Zivilbevölkerung ein. Gefangengenommene armenische Soldaten wurden gefoltert, vor laufender Kamera gedemütigt, die Filme ins Netz gestellt. Nicht wenigen hackte man die Köpfe ab, die Angreifer posierten mit ihnen, begangen Leichenschändungen und schickten die entsprechenden Fotos und Videoclips via Facebook an die Verwandten ihrer Opfer. Um die 100.000 Bewohner Karabachs flohen ins benachbarte Armenien – viele von ihnen vermutlich für immer. Wieviele Tote der sechswöchige Krieg um Berg-Karabach gekostet hat, weiß noch niemand. Bereits vor einem Monat sprach Russlands Präsident Putin von circa 5.000 Opfern. Mittlerweile werden es erheblich mehr sein. Die Verletzten und Verstümmelten nicht mitgezählt.
Die deutschen Leitmedien ließen sich mit der Berichterstattung über diesen Krieg am Rande Europas, der das Potential hatte, zu einem Syrien 2.0 oder noch Schlimmerem zu eskalieren, wochenlang Zeit. Doch als sie endlich in die Gänge kamen, schrieb der Spiegel in einem seiner ersten Beiträge herzzerreißend:
„Verzweifelt empfangen die Familien die Särge ihrer Söhne. Still und schnell sollten sie beerdigt werden. Aber sie seien doch im Kampf gestorben und keine Kriminellen, sagen die Dörfler. So verweigern die Menschen im kleinen Ort den Gehorsam. Ein Onkel und sein Neffe, die beide in Bergkarabach starben, werden in der Predigt erwähnt und öffentlich zu Grabe getragen. Wenigstens ein bisschen Würde, sagt verbittert ein Verwandter, dafür, dass sie sich erschießen ließen.“
Blutjunge Männer, als Kanonenfutter an die vorderste Front geschickt!
„Ein bisschen Würde“
Oh, sorry, das war etwas sinnentstellend von mir gekürzt. Im Original lautet der letzte Absatz des Essays im Hamburger Qualitätsmagazin nämlich so:
„Verzweifelt empfangen die Familien in Syriens Norden die Särge ihrer Söhne. Still und schnell sollten sie beerdigt werden, verlangen die Türken. Aber sie seien doch im Kampf gestorben, als Märtyrer, und keine Kriminellen, sagen die Dörfler. So verweigern die Menschen im kleinen Ort Maraa den Gehorsam. Ein Onkel und sein Neffe, die beide in Bergkarabach starben, werden vom Imam in der Predigt erwähnt und öffentlich zu Grabe getragen. Wenigstens ein bisschen Würde, sagt verbittert ein Verwandter, dafür, dass sie sich erschießen ließen, weil sie Geld zum Überleben verdienen wollten.“
Die Rede war nicht von den Männern Karabachs, die ihre Heimat verteidigten – das Glück, wenigstens mit ein bisschen Würde bestattet zu werden, hatten hier syrische Söldner, die von der Türkei zuvor nach Aserbaidschan gekarrt worden waren, um dort deren petrodollarschweren Waffenbruder im Kampf zu unterstützen. Mindestens 4.000 sollen es gewesen sein, und die Gerüchte, dass die gebirgsunerfahrenen Syrer noch Hilfe durch ebenfalls eingeflogene afghanische Taliban erfuhren, reißen bis heute nicht ab. Dem Schicksal dieser bedauernswerten, um ihr Überleben ringenden – und, wie der Spiegel recherchierte, schmählichst betrogenen – Männer aus Syriens ‚Rebellenprovinz Idlib‘ widmete sich Deutschlands größtes Nachrichtenmagazin in seiner Dokumentation „Ich kann euch gleich hier erschießen“ mit großem Mitgefühl.
Und in der Tat: Das Verhalten des NATO-Mitglieds Türkei, treibende Kraft im Krieg Aserbaidschans gegen – pardon: „bei der Rückeroberung der überwiegend armenisch besiedelten Enklave“ – Berg-Karabach, kann nicht anders als schäbig bezeichnet werden. Gegenüber den „seit September Welle um Welle an die Frontlinien der Offensive Aserbaidschans geworfenen“ syrischen Söldnern, versteht sich! Minutiös arbeitete der Spiegel heraus, welch himmelschreiendes Unrecht ihnen angetan wurde.
2.000 Dollar im Monat – plus 100 Dollar Kopf-Geld
Es habe bereits Mitte August in der von der Türkei beherrschten ‚Rebellenprovinz‘ und im Nordteil der Provinz Aleppo begonnen, als dort Gerüchte kursierten, die Türken würden wieder Männer rekrutieren. Diesmal zur Bewachung türkischer Militärbasen in Aserbaidschan, wie es offiziell hieß. Angesichts der ungewöhnlich hohen Summe von 2.000 Dollar im Monat habe das allerdings so niemand richtig glauben wollen. Am 22. September habe dann, laut Spiegel, in einem Dorf im Nordwesten des Landes eine Musterung stattgefunden, durchgeführt von einem im Auftrag der Türkei arbeitenden syrischen Subunternehmer des Krieges. Worauf die ersten 500 meist jungen Männer, mit und ohne Kampferfahrung, denen man zuvor Ausweise und Telefone abgenommen habe, über die Türkei nach Baku, die Hauptstadt Aserbaidschans, geflogen und von dort in ein Armeelager nahe der iranischen Grenze verlegt worden seien. Dort habe man sie mit russischen Waffen ausgestattet und bereits wenig später ohne weitere Vorbereitung in einen mitternächtlichen Angriff gegen die Armenier geschickt. Ohne jegliche Kenntnis des Terrains.
Dies habe sich nächtelang wiederholt, Dutzende der betrogenen syrischen Söldner seien gleich in den ersten Tagen und Wochen gefallen. Wer sich bei dem im türkischen Sold stehenden Kommandeur beschwerte, dem sei der sofortige Tod durch Erschießen angedroht worden, falls er nicht pariere. Nachdem ein syrischer Truppführer im Gefecht starb, habe sich allerdings im Heimatland starker Widerstand der Familienangehörigen der Kämpfenden formiert, worauf am 12. Oktober ein Teil der Söldner wieder nach Syrien zurückkehren konnte. Inclusive der Leichen der Gefallenen, die ungefähr zehn Prozent der ursprünglichen Gruppe ausmachten.
Der Spiegel beschreibt all dies, rührend menschelnd, am Schicksal eines binnenvertriebenen 21-jährigen Syrers ohne Schulabschluss, einer „Geschichte dramatischer Wendungen und großen Glücks“, die in epischer Breite nacherzählt wird. So gut, dass man förmlich aufatmet, als sich herausstellt, dass Tareq nach allen Irrungen und Wirrungen zum guten Ende doch noch wohlbehalten in seine zweitheimatliche ‚Rebellenprovinz‘ zurückkehren konnte.
Eine Geschichte, erzählt allerdings aus der Perspektive der Angreifer. Die Perspektive der sich verteidigenden armenischen Soldaten findet dort keinen Platz. Die Perspektive der beschossenen und bombardierten Zivilbevölkerung Berg-Karabachs schon gar nicht. Und ausgeblendet werden vor allem die ins Mittelalter zurückfallenden Gräueltaten der Aseris und der mit ihnen verbündeten ausländischen Kämpfer, inclusive der ihnen versprochenen 100 Dollar Kopf-Geld – nach Aussagen gefangengenommener Söldner die Prämie für jeden abgehackten armenischen Kopf.
Was soll man von solch einer Dokumentation eigentlich halten?
Die Täter als Opfer
Natürlich – die Welt ist nun mal komplex – auch das ist ein Aspekt in diesem verworrenen Krieg, selbst wenn alles stimmen sollte! Täter, das Kleine Einmaleins jedes Psychoanalytikers, können sich bei genauerer Betrachtung selbst als Opfer erweisen und unterm Elektronenmikroskop verschwimmen am Ende gar die Grenzen zwischen Gut und Böse. – Oder?
Man wird es allerdings den Armeniern, die den Krieg, der sie nach jüngsten Schätzungen um die 5.000 Tote und 100.000 Vertriebene kostete, nicht begonnen haben, deren Kulturgüter jetzt zerstört werden und von denen nicht wenige den geprellten ausländischen Söldnern – unfreiwillig, aber immerhin – die Extraprämie spendierten, nicht verübeln, wenn sie die Dinge etwas anders sehen und weder für die Söldner noch für deren Versteher vom Hamburger Nachrichtenmagazin allzu viel Verständnis aufbringen.
Erst recht nicht für die „im Kampf gestorbenen Märtyrer“. Zu deren Gunsten man nur hoffen kann, dass sie vor ihrem ultimativen Aufbruch zu den 72 Jungfrauen wenigstens noch die Gelegenheit hatten, das mühsam erworbene Kopf-Geld an ihre in der ‚Rebellenregion‘ darbenden Verwandten zu schicken und dafür nun im Paradies ihren wohlverdienten Lohn genießen dürfen. Nicht auszudenken, wenn der selbstlose Märtyrertod sich im Nachhinein auch noch als gigantische Fehlinvestition entpuppt haben sollte!
Aber so ist das nun mal, wenn man sich mit der Türkei intensiver einlässt. Vielleicht hätten die Söldner sich vor ihrem Karabachabenteuer doch besser erst mal bei den von ihnen in vorderster Front attackierten Armeniern schlau machen sollen. Die haben nämlich mit den Türken schon länger und wiederholt sehr einschlägige Erfahrungen gemacht.
Besonders vor 105 Jahren.
PS: Zur Ehrenrettung des Spiegel muss immerhin angemerkt werden, dass er zumindest in der Onlineversion noch einen letzten Rest an Taktgefühl bewies und den Bericht gnädig hinter einer Bezahlschranke versteckte!