Um die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen stand es schon vor der Corona-Krise nicht gut: Am stärksten belastet waren sie durch „nicht übertragbare Krankheiten“, deren Ursachen hauptsächlich in Störungen des Immunsystems zu suchen sind. Die aktuelle Corona-Politik ignoriert diese Fakten und die Bedürfnisse der Kinder. Von Sandra Reuse.
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Die Kultusminister der Länder waren sich in den vergangenen Monaten weitgehend einig: Die Schulen offenzuhalten, sei der richtige Weg. Zu dringend waren die Ermahnungen von Ärzten, Psychologen und Forschern nach dem ersten Lockdown gewesen.
„Kinder haben ein Recht auf Bildung!“, hieß es zum Beispiel im Deutschen Ärzteblatt. Die Kinder hätten im ersten Lockdown stark gelitten, daher sollten die Schulen möglichst bald wieder in den Regelbetrieb übergehen.
Dies wurde allerdings unter der Annahme gefordert, der Schulbetrieb gleiche irgendwann wieder in etwa dem, was Schüler über Jahrhunderte, bis zum März 2020, in den Bildungsanstalten erlebten: Einen strukturierten Tagesablauf, das Zusammensein mit Gleichaltrigen, aber auch älteren und jüngeren Kindern und Jugendlichen, inklusive Spiel, Spaß und Bewegung in den Pausen. Vielleicht sogar ein gemeinsames warmes Mittagessen, manchmal Ausflüge und Feiern.
Regelbetrieb nennt man das in Beamtendeutsch. Doch das alles ist Vergangenheit. In Kita, Schule und in der Freizeit dürfen Kinder nicht mehr miteinander toben, sie müssen fast überall eine Maske tragen, sie dürfen nicht mehr singen und sollen am besten auch nicht lachen. Laternenumzüge, Sportveranstaltungen und Weihnachtsfeiern sind passé, genauso wie das reguläre Nachmittagsprogramm, dass für allem für Kinder berufstätiger Eltern wichtig war. Viele Kinder sind seitdem ganze oder halbe Tage allein zu Haus oder quasi-allein mit dauerkonferierenden Müttern oder Vätern. Die neue Schul- und Schülerrealität ist bestimmt davon, die Verbreitung eines Virus einzudämmen, das allen Corona-Statistiken zufolge den Jüngsten kaum gefährlich wird.
Bei allen Maßnahmen, die seit der Wiederöffnung der Schulen erfolgt sind, geht es also vor allem um den Schutz erwachsener Menschen. Dieser Umstand wird nach wie vor öffentlich kaum diskutiert. Er ist aber zentral für den Abwägungsprozess zwischen Kindeswohl und Bevölkerungsschutz und sollte verantwortungsvollen Entscheidungen über eine Verschärfung oder Lockerung der Maßnahmen zugrundegelegt werden.
Um diesen Abwägungsprozess zu erleichtern, soll hier – auf Basis von Studien, die vor allem das Robert Koch-Institut (RKI) zur Kindergesundheit durchgeführt hat – der Versuch einer Abschätzung bereits jetzt absehbarer Langzeitfolgen der Corona-Maßnahmen für Kinder und Jugendliche unternommen werden. Zu fragen ist: Worin bestanden denn die größten Herausforderungen für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen bis kurz vor dem ersten Lockdown?
Reiches Land, mäßige Kindergesundheit
Die vom RKI geförderte KIGGS-Studie liefert hierzu repräsentative Daten in einer Langzeitstudie. Durchgeführt werden seit 2003 Untersuchungen und Interviews mit Kindern, Eltern und Jugendlichen. Die im Folgenden zitierten Befunde stammen aus Veröffentlichungen im Bundesgesundheitsblatt aus dem November 2019.
Demzufolge lagen die größten gesundheitlichen Herausforderungen für Kinder bis zum ersten Lockdown in „nicht übertragbaren Krankheiten“ wie Allergieerkrankungen und Asthma, Unfällen und Übergewicht.
Jedes sechste Kind (16,1%) in Deutschland litt zum Zeitpunkt der letzten KIGGS-Erhebung (2014-2017, veröffentlicht 2019) an mindestens einer der drei Erkrankungen Heuschnupfen, Neurodermitis oder Asthma bronchale. Wie das RKI ausführt, handelt es sich hierbei um Erkrankungen, die auf Störungen des Immunsystems zurückzuführen sind, doch dazu weiter unten mehr.
Ebenfalls jedes sechste Kind erlitt laut KIGGS innerhalb eines Jahres einen Unfall, der ärztlich behandelt werden muss. Unfälle sind die häufigsten Todesursachen für Kinder – die meisten passieren entgegen der öffentlichen Wahrnehmung nicht im Straßenverkehr, sondern im Haushalt. Gewalt durch Erwachsene, Verbrühungen und Verätzungen gehören dazu.
15,4 % der Kinder und Jugendlichen haben Übergewicht und knapp 6 % leiden unter Adipositas. Das sind aber nur die Durchschnittszahlen. Schaut man auf den sozio-ökonomischen Status der Kinder, wie es in der Wissenschaftlerwelt so schön heißt, so haben Kinder aus ärmeren Haushalten ein drei- bis viermal höheres Risiko, übergewichtig zu sein bzw. an Adipositas zu leiden, als Kinder aus bessergestellten Haushalten.
Schulen machen Gesundheitsdefizite nicht besser
Die Bildungsinstitutionen können diese Unterschiede bislang nicht ausgleichen, möglicherweise verstärken sie sie sogar: Den KIGGS-Daten zufolge jedenfalls steigt das Risiko, übergewichtig zu sein, mit dem Schuleintrittsalter rapide an.
Knapp 20% der Kinder und Jugendlichen zeigen Symptome einer Ess-Störung. Damit kommen wir zu den psychischen Auffälligkeiten und Erkrankungen.
Hierzu gibt es, anders als bei den meisten anderen Aspekten von Kindergesundheit, im Lockdown dank der Initiative des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) auch aktuelle Zahlen: Laut den Daten des UKE stieg das Risiko für psychische Auffälligkeiten von rund 18 Prozent vor Corona (KIGGS-Studie) auf 31 Prozent während der Krise. Am häufigsten zeigten sich Symptome wie Hyperaktivität sowie emotionale und/oder Verhaltensprobleme, schrieben die Wissenschaftler in der so genannten COPSY-Studie.
Insgesamt 70 % von 1000 befragten Kindern und Jugendlichen fühlten sich demnach in der Zeit des ersten Lockdowns und den Wochen danach seelisch belastet. Stress, Angst und Depressionen hatten zugenommen, fast ein Viertel beschrieb sogar Anzeichen einer generalisierten Angststörung (zuvor „nur“ 15 % ). Auch das „Familienklima“ litt: 27 % der Kinder berichteten über vermehrten Streit zu Hause.
Der KIGGS-Befund, dass Kinder und Jugendliche aus Familien mit „niedrigem sozioökonomischen Status“ signifikant häufiger von psychischen Auffälligkeiten betroffen seien, bestätigte sich in der COPSY-Studie. Die Autoren vermuten hierzu als wichtige Gründe einen niedrigeren Bildungshintergrund der Eltern sowie das Leben auf beengtem Raum (Fläche pro Person < 20 qm). Alle Kinder und Jugendlichen, vor allem aber solche aus eher benachteiligten Familien, gaben im übrigen auch an, mehr Medien und Süßigkeiten zu konsumieren und weniger Sport zu machen. Zwei Drittel der befragten Kinder erlebten die Schule, als sie im Mai bzw. Juni wieder anfing, als belastend. Auch weil das Verhältnis zu Freunden durch die Kontaktbeschränkungen gelitten hatte. Wichtigste Todesursache für Kinder: Unfälle im Haushalt
Fassen wir zusammen: Um die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen stand es schon vor der Corona-Krise nicht so gut. Am stärksten belastet waren sie durch „nicht übertragbare Krankheiten“, deren Ursachen hauptsächlich in Störungen des Immunsystems zu suchen sind.
Zu den wichtigsten Einschränkungen der Kindergesundheit vor dem ersten Lockdown gehörten außerdem Übergewicht und Adipositas sowie psychische Belastungen. Die Begleiterscheinungen und Langzeitfolgen von Adipositas sind – im Gegensatz zu denen des Corona-Virus – bereits erforscht; die Folgen sind häufig Diabetes und Herz-Kreislauf-Probleme. Also genau die Vorerkrankungen, die das Risiko einer schweren Erkrankung oder gar den Tod insbesondere älterer Covid-19-Patienten stark erhöhen.
Zu den wichtigsten Todesursachen bei Kindern gehören Unfälle im Haushalt, bei Jugendlichen spielt neben Unfällen auch Suizid eine Rolle (hierzu finden sich in der KIGGS-Studie keine Angaben). Das Deutsche Ärzteblatt nennt als Risikofaktoren für Suizidgefährdung u.a. das Gefühl der sozialen Isolation und das Gefühl, eine Last für andere zu sein.
Was wäre also gut für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen und zur Vermeidung langfristiger negativer Folgen, die letztlich auch die Gesellschaft betreffen? Die Antwort mag sich jeder selbst überlegen.
Vermutlich aber gehören die folgenden Handlungsansätze nicht dazu: Hunderttausende Schülerinnen und Schüler 14 Tage und länger in Quarantäne zu sperren, auch wenn sie vorher völlig gesund waren. Kindern und Jugendlichen das Sprechen miteinander zu vermiesen, weil sie stets und stetig eine Maske tragen müssen. Das Absetzen der Maske nur noch in Verbindung mit Essen oder Trinken im Schulgebäude zu erlauben. Gar kein Schulessen mehr anzubieten. Kinder nicht mehr singen zu lassen. Kindern zu suggerieren, sie seien eine Gefahr für andere. Kinder voneinander zu isolieren. Eine Maske beim Sportunterricht durchzusetzen. Den Sportunterricht andauernd ausfallen zu lassen. Den Vereinssport zu verbieten oder mit abstrusesten Auflagen zu belegen. Kinder massenhaft an digitale Geräte zu locken, mit denen sie viele Stunden täglich bei fragwürdiger Qualität der Inhalte verbringen. Funktionierende soziale Gruppen unter Kindern und Jugendlichen durch Kontaktbeschränkungen zu zerlegen. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Titelbild: Gargonia / Shutterstock