Unser Schweden-Korrespondent Henning Rosenbusch hatte die Möglichkeit, sich mit dem angesehenen Kinder- und Jugendmediziner Johnny Ludvigsson zu unterhalten. Es geht um die Fixierung von Politik und Medien auf die Zahlen der „Corona-Toten“ und die womöglich weitaus größere Zahl der Sterbefälle, die durch die Kollateralschäden der Lockdown-Politik in Kauf genommen werden. Nebenbei bietet Rosenbusch uns auch einen weiteren Einblick in den schwedischen Alltag zu Corona-Zeiten.
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Jönköping, eine Stadt mit 85.000 Einwohnern, liegt im Norden von Småland und genau an der Südspitze des Vättern, dem zweitgrößten See Schwedens. Im gemütlichen Stadtkern finden sich rund 200 Geschäfte. Weitere 80 Händler haben sich unter dem Dach des Einkaufszentrums „Asecs“ in einem Gewerbegebiet niedergelassen. Ministerpräsident Stefan Lövfen gab am 3. November aufgrund massiv ansteigender Fallzahlen bekannt, dass die „strengeren allgemeinen Ratschläge“ auf die gleichnamige Region Jönköping län (Inzidenz zuletzt bei 297/100.000, fünf Menschen liegen derzeit mit positivem Test auf Intensivstationen) ausgeweitet werden. Das bedeutet: Es wird davon abgeraten, Zeit mit Menschen außerhalb des eigenen Haushalts zu verbringen. Fitnessstudios, Schwimmbäder, Restaurants, Bibliotheken und Museen sollen gemieden werden, genau wie unnötige Shopping-Touren abseits von Supermärkten und Apotheken.
Es heißt immer wieder, die Schweden würden sich penibel an alle Empfehlungen halten. Zumindest was Abstand und Handhygiene betrifft, stimmt das auch zu größten Teilen. Aber den Einkaufsbummel am vorletzten Wochenende scheinen sich viele in Jönköping nicht nehmen lassen zu wollen: „Ich bin überrascht, ein durchaus normaler Samstag vom Umsatz her“, berichtet die junge Lena an der Kasse einer mittelgroßen Modeboutique in der Fußgängerzone. Gegenüber steht eine ältere Frau vor einer Drogerie und wartet: „Das ist mir zu voll, wie soll ich da Abstand halten?“ Masken oder gar einen Lockdown wünscht sie sich jedoch nicht: „Masken bringen doch nichts“, winkt sie ab, „und ich bin ja selbst hier und will einkaufen.“ Auch drei weitere Einzelhändler in der Fußgängerzone sprechen von normalen Umsätzen, nur unter der Woche sei etwas weniger los gewesen. Der Parkplatz vor dem Einkaufszentrum „Asecs“ etwas außerhalb ist am frühen Nachmittag gut gefüllt.
Spürbare Besucherrückgänge vermelden jedoch die Café-, Restaurant- und Barbetreiber in Jönköping. Das „Frimans Café & Bistro“ hat deshalb die Öffnungszeiten unter der Woche um zwei Stunden verkürzt: „Seit den verschärften Empfehlungen liegen wir nur noch etwa bei 60 Prozent unseres normalen Umsatzes“, schätzt die Chefin. Hier gab es auch eine weitere Verschärfung durch Lövfen: In Restaurants dürfen nur noch acht Personen (auch aus acht Haushalten) zusammen an einem Tisch sitzen. Dafür sind jetzt wieder Veranstaltungen mit bis zu 300 Besuchern erlaubt (vorher 50). Menschen mit Masken sind an diesem Tag in Jönköping drinnen wie draußen nirgends auszumachen.
„An einem Samstag-Abend sind wir üblicherweise komplett voll,“ sagt ein Kellner in der Sportsbar „shooters“, während gerade der Bundesligaknaller Dortmund – Bayern übertragen wird, „heute nicht, für 30 Prozent unserer Tische sind keine Reservierungen eingegangen.“ Am Donnerstag verkündete Lövfen dann eine neue verpflichtende Auflage: Ab 22 Uhr darf nun in ganz Schweden kein Alkohol mehr verkauft werden. Es folgte in den vergangenen Tagen ein Aufschrei der bereits gebeutelten Gastronomen, obwohl sie zu keinem Zeitpunkt in diesem Jahr schließen mussten.
Etwa eineinhalb Fahrstunden nordöstlich lebt der Professor für Pädiatrie (Kinderheilkunde) Johnny Ludvigsson in einem Vorort der Universitätsstadt Linköping. Die Auswirkungen auf die Wirtschaft beschäftigen den Wissenschaftler im Unruhestand („momentan 150 Prozent Arbeit, für 50 Prozent Lohn“) sehr. Sogar für Schweden, wobei die Europäische Kommission in ihrer Herbstprognose von einem Rückgang des Bruttoinlandsproduktes (BIP) 2020 nur noch um 3,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr ausgeht. Die Wirtschaftsleistung der gesamten EU wird demnach mehr als doppelt so viel (7,8 Prozent) einbüßen. Weil Schweden im Gegensatz zu weiten Teilen der restlichen EU auch weiterhin auf Lockdowns verzichten will, wird der Unterschied am Jahresende wohl noch um einiges größer ausfallen.
Unter dem Titel „Die Fixierung auf die Anzahl der Todesfälle mit Covid-19 ist irreführend“ veröffentlichte Ludvigsson in der schwedischen Ärztezeitung „Läkartidningen“ im August einen Fachartikel zum Umgang mit der Corona-Pandemie. Mit 12 anderen Kollegen zusammen folgte dann noch ein Meinungsbeitrag in der Fachzeitschrift „Frontiers for Public Health“, in dem gefordert wird, sich in der Pandemiebekämpfung auf Risikogruppen zu konzentrieren. Ludvigsson kann in seiner außerordentlichen wissenschaftlichen Karriere auf mehr als 500 veröffentlichte wissenschaftliche Studien zurückblicken, wurde 18.300 Mal zitiert und mehrfach ausgezeichnet. Zurzeit richtet er seinen Blick statt auf die Erforschung von Diabetes bei Kindern (auch hier stehen Viren als Verursacher unter Verdacht) also auf die Auswirkungen der Maßnahmen und Lockdowns auf Kinder und die Gesellschaften weltweit im Allgemeinen: „Die wirtschaftlichen Turbulenzen von 2008-2009 haben schätzungsweise zu weltweit 260.000 zusätzlichen Todesfällen allein aufgrund von Krebs geführt. Und es ist bekannt, dass Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise zu einem starken Anstieg aller Arten von körperlichen und geistigen Problemen führen, mit einer erhöhten Sterblichkeit, ganz zu schweigen davon die dramatischen Auswirkungen des wirtschaftlichen Niedergangs auf die Sterblichkeit in Entwicklungsländern, nicht zuletzt bei Kindern“, so Ludvigsson und verweist auf entsprechende Studien. Die ansonsten die typisch schwedische Ruhe ausstrahlende Stimme des 77-Jährigen erhebt sich, wenn es ums Thema Kinder geht: „Die völlige Schließung der Gesellschaft in mehreren Ländern hat dramatische Auswirkungen auf die Wirtschaft, vergleichbar mit den 1930er Jahren. Und jetzt gibt es wieder Lockdowns. Dies wird auf lange Sicht viel mehr anrichten als das Virus selbst und dann auch viele junge Menschen töten.“
Sogar mit den Auswirkungen der Berichterstattung in schwedischen Medien und den Aussagen einiger seiner Kollegen geht Ludvigsson hart ins Gericht: „Nicht einmal in Schweden wurde den Auswirkungen der Maßnahmen auf die öffentliche Gesundheit ein entsprechender Raum in der Debatte eingeräumt. Von prominenten Forschern bis hin zu Chefredakteuren haben sie „über das ´Todesvirus´ gesprochen und Lockdowns gefordert.“ Politiker, denen Untätigkeit vorgeworfen worden wäre, hätten sich wegen der Nachbarländer, die vollständige Lockdowns oder den Ausnahmezustand ausgerufen haben, gezwungen gefühlt, Pflegeheimen eine strengere einstweilige Verordnungen aufzuerlegen als Gefängnissen: „Ältere Menschen mussten sterben, ohne ihre Lebenspartner oder ihre eigenen Kinder zu sehen.“
Die öffentliche Debatte würde derzeit wieder von Kollegen bestimmt, die nur noch Corona-Todesfälle zählen, so Ludvigsson: „Die öffentliche Gesundheit, auch für ältere Menschen vor dem Tod, einschließlich des Risikos eines Verlusts der Lebensqualität, muss stärker berücksichtigt werden. Im Idealfall sollten diejenigen, die hier entscheiden, auch die langfristigen Konsequenzen nicht nur für ihr eigenes Land, sondern auch für ressourcenarme Länder und nicht zuletzt für die Kinder dort sehen.“
Eindringliche Mahnungen, wie die von Ludvigsson, gab es auch in Deutschland, wobei sie in den täglichen Meldungen über neue Rekorde bei Fallzahlen genauso untergehen wie in Schweden. Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) etwa warnte in einem Interview vor den erheblichen Kollateralschäden beim Kampf gegen Corona: „An den Folgen der Lockdowns werden weit mehr Menschen sterben als am Virus”, so Müller im Handelsblatt: „Allein auf dem afrikanischen Kontinent rechnen wir dieses Jahr mit zusätzlich 400.000 Malaria-Toten und HIV-Opfern sowie einer halben Million mehr Menschen, die an Tuberkulose sterben werden.” Die Pandemie habe schon jetzt „eine der größten Armuts- und Hungerkrisen ausgelöst”. Die Industrieländer konzentrierten sich so sehr auf die Corona-Bekämpfung zu Hause, dass sie andere Probleme völlig aus dem Blick verlören: „Allein 25 afrikanische Staaten stehen vor dem Staatsbankrott. Investoren haben 100 Milliarden an Kapital abgezogen, Währungen und Rohstofferlöse sind eingebrochen”, sagte der CSU-Politiker.
Professor Ludvigsson hebt bei der Gegenüberstellung der Sterblichkeit auch die verlorenen Lebensjahre hervor: „So gut wie alle Menschen, die in Schweden mit einem Alter von unter 70 Jahren an oder mit Corona verstorben sind, hatten schwere Vorerkrankungen“. Einer Untersuchung zufolge wären in Schweden nur rund 15 Prozent der durchschnittlich hochbetagten Corona-Opfer direkt an den Folgen von Covid-19 verstorben, 70 Prozent wegen einer Kombination der Infektion mit ihren schweren Vorerkrankungen: „Und bei 15 Prozent der schwedischen Corona-Opfer, die nach Vorgaben der europäischen Seuchenschutzbehörde gezählt werden, hatte Covid-19 gar nichts mit ihrem Ableben zu tun.“ Und trotz des vergleichsweise lockeren Umgangs in Schweden sei die Todesrate ähnlich oder oftmals sogar niedriger als in einigen anderen europäischen Ländern, die mit langen und harten Lockdowns reagiert hätten, „weswegen ich überhaupt nicht nachvollziehen kann, warum diese Politik nun wiederholt wird. Schweden hat, Stand 1. November, im Jahr 2020 bisher keine Übersterblichkeit zu verzeichnen“.
Dr. Sebastian Rushworth aus Stockholm, siehe unser Interview aus der vergangenen Woche, hat in seinem Internetblog zuletzt eine neue Übersichtsstudie besprochen, die in „The Lancet“, einer der ältesten und renommiertesten medizinischen Fachzeitschriften der Welt, veröffentlicht wurde: „Kommen wir gleich zur wichtigsten Erkenntnis, man könnte fast zur Einschätzung kommen, dass die Autoren dies verbergen wollten, da sie es kaum besprechen: Sie fanden keinerlei Korrelation zwischen der Dauer und Härte von Lockdowns und der Zahl der Corona-Todesfälle.“ Es gäbe auch keinen Zusammenhang zwischen Massentests und der Zahl der Toten: „Im Grunde scheint nichts von dem, was verschiedene Regierungen zur Bekämpfung von Corona unternommen haben, irgendeinen Einfluss auf die Zahl der Todesfälle gehabt zu haben.“
Bild: © Henning Rosenbusch
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