Dies- und jenseits des Atlantiks übertreffen sich die Leitartikler gegenseitig in Sachen Optimismus. Nachdem Donald Trump die Spaltung der US-Gesellschaft vorangetrieben habe, tritt nun sein Nachfolger Joe Biden an, um die Gesellschaft wieder zu versöhnen. Doch wer CNN, die New York Times oder ihre deutschen Pendants verfolgt, ahnt bereits, dass dieser Optimismus fehl am Platze ist. Rassenkonflikte, das Auseinanderdriften der liberalen urbanen Eliten und der abgehängten Landbevölkerung und sogar Präsident Trump selbst sind nur Symptome. Die Ursache ist eine Politik, die sich auf identitätspolitische Fragen konzentriert und dabei den sozioökonomischen Unterbau ignoriert. Der Neoliberalismus wird nicht hinterfragt. Stattdessen wird lediglich die rechts-identitäre Politik Trumps gegen eine links-identitäre Politik Bidens ausgetauscht. Das ist keine Versöhnung, sondern wird die Polarisierung weiter vertiefen. Von Jens Berger.
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Dass Donald Trump zu dieser Polarisierung beigetragen hat, steht außer Zweifel. Schon lange hat es keinen US-Präsidenten mehr gegeben, der seinen Rassismus derart unverblümt freien Lauf ließ und sich noch nicht einmal die Mühe gab, so zu tun, als vertrete er die Interessen des gesamten Landes. Trumps Innen- und Gesellschaftspolitik ließe sich wohl ehesten mit dem Etikett „rechts-identitär“ umschreiben. „America first“ – und „America“, daran ließ Trump nie einen Zweifel, das ist für ihn das weiße Amerika; Schwarze und Latinos gehören nicht dazu. Dennoch konnte Trump bei den Wahlen im Vergleich zum Jahre 2016 bei den Schwarzen und Latinos sogar Stimmen gewinnen. Ein Widerspruch? Nicht unbedingt.
Denn Trumps populistisches Meisterstück war es, sich als Interessenvertreter der „Blue Collar Workers“, also der einfachen Arbeiter und Arbeitnehmer ohne Hochschulabschluss zu verkaufen, die seit Jahrzehnten zu den Verlierern der Spreizung der Einkommens- und Vermögensschere gehören und deren „amerikanischer Traum“ ausgeträumt ist. Warum populistisches Meisterstück? Weil Trumps Liebe für den einfachen Mann eher symbolischer Natur ist. Anstatt die Einkommens- und Vermögensschere zu schließen, polterte er gegen Obama-Care und senkte die Steuern für Spitzenverdiener und Unternehmen. Am zerbröselnden sozioökonomischen Unterbau der US-Gesellschaft änderte auch Trump nichts.
Warum konnte er dann doch so viele Stimmen gewinnen, dass die Wahl zu einem derart knappen Rennen wurde? Die Antwort ist ernüchternd. Im sozioökonomischen Bereich steht Joe Biden, der als Kandidat von Wall Street und Silicon Valley gilt, für keine Alternative. Wo sein Konkurrent Bernie Sanders für eine progressive Wirtschafts- und Steuerpolitik steht, liefert Biden, wie schon Barack Obama oder Hillary Clinton, eine Fortführung des neoliberalen Kurses. Sozioökonomisch hatte der Wähler also die Wahl zwischen Pest und Cholera, wobei Trump jedoch zumindest in seinen – wenn auch nicht glaubwürdigen – Wahlkampfreden das Thema Gerechtigkeit aufgriff und es wieder einmal schaffte, sich als Anti-Establishment-Kandidat zu verkaufen.
Lesen Sie dazu auch die beiden Wahlanalysen aus dem Jahre 2016: „Trump ist die Antwort auf die politischen Fehler der Vergangenheit und Gegenwart“ und „Präsident Trump – wir sind Zeugen einer Zeitenwende“.
Dies konnte ihm freilich nur gelingen, weil Joe Biden in so ziemlich allen politischen Feldern nahezu 1:1 die Parolen des Establishments und der liberalen Eliten vertritt. Bidens einziger Trumpf war es, dass er nicht Trump ist. Doch diesen Trumpf konnte er noch nicht einmal überall ausspielen. Die Wähler, für die das Themenfeld „Wirtschaft“ am wichtigsten war, haben zu 82% für Donald Trump gestimmt – und das waren vor allem die einfachen Arbeiter. Umgekehrt konnte Biden mit 91% bei den Wählern punkten, für die das Themenfeld „Rassenungleichheit“ der wichtigste Punkt war – darunter sowohl die Farbigen selbst als auch die liberalen Eliten, denen identitätspolitische Themen wichtiger sind als ökonomische.
Heute ist das Land gespaltener denn je – nicht zwischen den „roten“ und „blauen“ Staaten, die Biden versöhnen will, wie er selbst erklärte. Sondern zwischen Arm und Reich, Amerikanern mit und Amerikanern ohne College-Ausbildung und vor allem zwischen den liberalen Großstädten samt „Speckgürtel“ und dem Land. Die NZZ hat eine sehr lesenswerte Analyse erstellt, die zeigt, wo Trump und Biden gegenüber der Wahl 2016 gewonnen und verloren haben. Trump gewann vor allem bei den Haushalten mit niedrigem Einkommen auf dem Land, während Biden vor allem in den Städten und im „Speckgürtel“ bei den Wählern zulegen konnte, die über einen College-Abschluss und ein hohes Haushaltseinkommen verfügen. Trump gewann also dort, wo er ohnehin schon stark war, und Biden dort, wo seine Vorgängerin Hillary Clinton stark war. Die Spaltung hat also zu- und nicht abgenommen.
Und wie will Biden nun für eine Versöhnung sorgen? Offenbar indem er genau die Inhalte vorantreibt, die seinen Wählern am Herzen liegen. Und das sind allen voran identitätspolitische Themen. Bei den Kernthemen der Trump-Wählerschaft vertritt er indes genau die gegenseitigen Positionen. So gesehen ist Biden auch nur ein „blauer Trump“, der spaltet, anstatt zu vereinen.
Auch Trump ist ja nicht die Ursache, sondern vielmehr ein Symptom der Spaltung der US-Gesellschaft. Er wurde nicht gewählt, weil er so brillant ist, sondern weil seine Amtsvorgänger und das politische Establishment das Land sozioökonomisch tief gespalten haben und keinen glaubwürdigen Ausweg aus dem neoliberalen Dilemma aufzeigen konnten und wollten, das die Menschen ihrer Perspektiven beraubt hat.
Wer das Land versöhnen will, müsste den Menschen eine Perspektive jenseits des Neoliberalismus amerikanischer Couleur bieten. Biden steht für das exakte Gegenteil. Wie kommen die Leitartikler dann auf die Idee, Biden könnte das Land versöhnen? Ganz einfach: Ihre grundsätzliche Analyse ist eine andere. Unter Versöhnung versteht man hier vor allem die Stärkung der Rechte für Frauen, Schwarze und Latinos. Dabei ignoriert man, dass der eigentliche Riss über alle Geschlechter und Rassen hinweg quer durch die sozialen Schichten zwischen Arm und Reich verläuft. Diese Art der „Versöhnung“ ist ja genau der Grund, warum fast 50% der Amerikaner Trump trotz alledem gewählt haben.
Wenn Biden also wirklich zur Versöhnung beitragen wollte, müsste er seinen sozioökonomischen Kurs radikal ändern. Dass dies geschehen wird, ist auszuschließen. Und so wird der kommende Präsident Biden die US-Gesellschaft nicht versöhnen, sondern die Polarisierung und Radikalisierung vorantreiben.
Dabei hätte alles so einfach sein können. Für das, was Biden tun müsste, um die gespaltene Gesellschaft zu versöhnen, gibt es sogar ein Programm. Das Wahlprogramm seines unterlegenen Konkurrenten Bernie Sanders. Doch den wollten die liberalen Eliten ja nicht haben. Und so tragen diese liberalen Eliten mindestens genau so sehr zur Spaltung der Gesellschaft bei wie die rassistischen Rednecks, über die auch unsere Medien so gerne herablassend berichten.
Sie werden unschwer erkennen, dass dieses Problem kein isoliert amerikanisches Problem ist. Auch in Europa und allen voran in Deutschland haben identitäre Themen vor allem bei der politischen Linken sozioökonomische Themen verdrängt. Auch hier schafft es die politische Linke nicht, eine echte und glaubwürdige Alternative zu bieten, und auch hier führt dies über kurz oder lang zu einer immer tieferen Spaltung der Gesellschaft – auch wenn die Gräben noch nicht ganz so tief sind wie in den USA. Noch, müsste man wohl sagen.
Titelbild: Antonov Roman/shutterstock.com