Am letzten Freitag berichtete der in Schweden lebende deutsche Journalist und Fotograf Henning Rosenbusch für die NachDenkSeiten über das in deutschen Medien meist sehr einseitig kommentierte „schwedische Modell“ der Corona-Politik, das eher auf Selbstverantwortung und nicht auf staatliche Zwangsmaßnahmen und Lockdowns setzt. Nun hatte Rosenbusch die Gelegenheit, den schwedischen Arzt Sebastian Rushworth, der sich nicht nur medizinisch, sondern auch publizistisch mit Corona beschäftigt, zum schwedischen Modell zu befragen. Wie kam Schweden durch die Pandemie? Und steht Schweden wirklich schlechter da als andere Länder, die auf rigorose Maßnahmen und Lockdowns setzten?
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Dieses Interview ist der zweite Teil einer als mehrteilige Serie angelegten regelmäßigen Artikelreihe, in der der deutsche Journalist und Fotograf Henning Rosenbusch für die NachDenkSeiten aus Schweden berichtet. Bereits erschienen ist der Artikel „Auffälliges Schweigen über Schweden“.
Dr. Sebastian Rushworth ist tätig in der Notaufnahme einer der sechs großen Kliniken Stockholms und befand sich somit im April im Zentrum des schwedischen Covid-19-Sturms. Der 37-jährige dreifache Familienvater und Mediziner, der am königlichen Karolinska-Institut, das jährlich den Nobelpreis verleiht, studierte, betreibt einen Internetblog, auf dem er evidenzbasierte medizinische Erkenntnisse auch Nicht-Wissenschaftlern zugängig machen will. Seine Beiträge zum Thema Covid-19 finden international Beachtung und wurden auch ins Deutsche übersetzt.
Herr Dr. Rushworth, gibt es für Sie als Familienvater einen Ort, wo Sie während dieser Pandemie lieber wären als in Schweden?
Dr. Sebastian Rushworth: Nein. Ich glaube, dass man sich in Schweden mehr an wissenschaftliche Evidenz gehalten hat, als an populistische Forderungen nach immer härteren Maßnahmen. Aber nicht, weil wir irgendwie klüger wären als andere. Der Großteil der schwedischen Massenmedien forderte, ganz ähnlich wie die ausländische Presse, einen harten Lockdown, wie etwa der Chefredakteur der größten schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter, Peter Wolodarski, am 13. März in einem Leitartikel. Wie in fast jedem anderen westlichen Land füttern und fütterten schwedische Medien die Menschen täglich mit kumulierten Fallzahlen oder Todesstatistiken, die sehr selten eingeordnet und in Kontext, etwa zu Grippewellen in anderen Jahren, gebracht werden.
Die schwedischen staatlichen Gesundheitsstellen, mit Anders Tegnell als Staatsepidemiologen an der Spitze, können jedoch aufgrund verfassungsrechtlicher Vorgaben weitgehend selbst entscheiden, und die Möglichkeiten der Regierung, sich in die tägliche Arbeit der Beamten einzumischen oder Beschränkungen für Einzelpersonen durchzusetzen, sind stark limitiert. Die Bewegungs- und Reisefreiheit beispielsweise sind in Schweden ein hohes Gut. Und während einige andere Regierungen, wahrscheinlich unter dem eigenen medialen und dem externen Druck anderer Länder und internationaler Organisationen, nachgaben, hätte die schwedische Regierung dies wahrscheinlich gar nicht tun können, selbst wenn sie es gewollt hätte.
In vielen westlichen Medien herrscht bis heute das Credo: „Die schwedische Strategie zur Herdenimmunität ist gescheitert.“
Die schwedischen Gesundheitsbehörden haben nie direkt behauptet, dass eine Herdenimmunität das Ziel wäre. Aus epidemiologischer Sicht jedoch führen alle Strategien zu einer Herdenimmunität. Auch mit Impfungen: Irgendwann in Zukunft werden die Menschen auf der ganzen Welt eine Herdenimmunität gegen Covid-19 entwickelt haben, entweder indem sich der Erreger bis zu diesem Punkt ausbreiten kann oder indem genügend Menschen geimpft werden.
Die Alternative zu einer Herdenimmunitätsstrategie wäre eine Ausrottungsstrategie, die meines Erachtens kein seriöser Wissenschaftler bei Covid-19 für möglich hält. Bislang ist in der Geschichte der Menschheit nur eine einzige Infektionskrankheit beim Menschen erfolgreich ausgerottet worden, und das sind die Pocken: weil es deutlich sichtbare Symptome und keine asymptomatische Verbreitung gibt. Diese Tatsache verdeutlicht, wie schwer es ist, einen infektiösen Erreger völlig auszulöschen. Wir bemühen uns beispielsweise seit über dreißig Jahren aktiv um die Ausrottung der Kinderlähmung und sind dabei noch immer nicht ganz am Ziel, obwohl ein hochwirksamer Impfstoff seit den 1950er Jahren existiert.
Aber Schweden hat diesen lockeren Umgang ohne Lockdown, Schulschließungen oder Masken mit der höchsten Todesrate aller westlichen Länder bezahlt.
Ist das aktuell wirklich noch so? Nein, eben nicht. Auf dem Höhepunkt im Frühling starben an einem Tag über 100 Menschen an Covid-19. Heute sterben drei Menschen pro Tag an oder mit Covid-19. Im September, dem Monat mit der niedrigsten Sterblichkeitsrate aller Zeiten in Schweden, waren es noch weniger. Gleichzeitig sterben in Schweden 250 Menschen pro Tag an anderen Ursachen. Bezogen auf die Bevölkerungszahl gab es im Januar 2000 mit einer Sterblichkeitsrate von 110,8 Todesfälle pro 100 000 Einwohner mehr Todesfälle als im April 2020 mit Covid-19. Da waren es 101,1 Todesfälle pro 100 000 Einwohner. Die schwedischen Covid-19-Opfer wurden im Median 86 Jahre alt und liegen damit im Bereich der üblichen Lebenserwartung im Land. Das und die fehlende Übersterblichkeit im Vergleich zu den Vorjahren deuten an, dass viele vulnerable Menschen, die 2020 ohnehin verstorben wären, zu diesen Opfern gehören. Covid-19 ist momentan nur für 1,2% der Todesfälle in Schweden verantwortlich, erhält aber wahrscheinlich 99% der Aufmerksamkeit. Wir müssen eine gewisse Perspektive wahren, Zahlen in Relation setzen, um Gefahren richtig einschätzen zu können.
Wie hat sich die zuletzt und bis heute sehr niedrige Todesrate auf den Vergleich mit anderen Ländern ausgewirkt?
Schweden gehörte nach dem Corona-Sturm im April lange zur Spitzengruppe dieser traurigen Statistik. Heute sieht das anders aus. Viele Länder mit Lockdowns, Masken und Schulschließungen, wie etwa Belgien, Spanien, Italien oder Großbritannien, haben trotz ihrer sehr langen Lockdowns und trotz Masken mittlerweile teils sogar weit mehr Tote pro eine Million Einwohner als Schweden. Wenn sich die Entwicklung fortsetzt, wird auch Frankreich in den nächsten Tagen vorbeiziehen. Deutschland steht hier immer noch sehr gut da, aber auch dort gab es im Oktober, auf die Einwohnerzahl bereinigt, fast doppelt so viele Tote wie in Schweden. Aber ich würde angesichts der Kollateralschäden eines Lockdowns eben nicht nur Corona-Tote zählen.
Wie meinen Sie das?
Anders Tegnell hat wiederholt betont, dass dies ein Marathon sei, kein Sprint. Die Menschen müssen die Maßnahmen auch über einen längeren Zeitraum aushalten können. In vielen europäischen Ländern wird protestiert und man liefert sich auch schon Auseinandersetzungen mit der Polizei, etwa in Italien oder Spanien. In einer britischen Regierungsstudie rechnet man langfristig mit 200.000 Toten allein durch den ersten Lockdown, aufgrund von Verzögerungen im Gesundheitswesen und den wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Dr. Scott Atlas, Chef der Neuroradiologie an der Universität Stanford, nannte Lockdowns kürzlich in Bezug auf verlorene Lebensjahre der Gesamtbevölkerung eine völlig destruktive Politik.
Und in Schweden gibt es keine Kollateralschäden?
Zu Beginn der Pandemie gingen die Besuche in den Notaufnahmen drastisch zurück. Auf dem Höhepunkt hatte ein Großteil der Menschen Covid-19, aber dies wurde dadurch kompensiert, dass viele andere Menschen nicht in die Notaufnahmen kamen.
Mir kommen zwei Gedanken in den Sinn, warum das so sein könnte. Erstens: die Menschen hatten Angst, während eines Besuchs in der Notaufnahme mit Covid infiziert zu werden. Zweitens, dass viele den Wunsch hatten, das Gesundheitssystem nicht zusätzlich zu belasten, da man glaubte, dass es unter immenser Belastung stünde. Im April verbrachten wir, die wir in der Notaufnahme arbeiten, viel Zeit damit, herumzusitzen und auf Patienten zu warten.
Das Krankenhaus Uppsala verzeichnete in der Spitzenzeit 50 Prozent weniger Einweisungen aufgrund von Herzinfarkten, bei uns in Stockholm waren es 40 Prozent weniger. Wir wissen, dass Menschen, die einen Herzinfarkt haben und keine Notfallbehandlung erhalten, ein deutlich erhöhtes Risiko haben, in unmittelbarer Zukunft zu sterben, und auch ein höheres Risiko haben, Langzeitkomplikationen wie Herzversagen zu entwickeln. Ich denke, es wird wahrscheinlich noch einige Jahre dauern, bis wir das volle Ausmaß kennen, inwiefern Menschen durch ihre Ängste wegen Covid-19 geschädigt wurden.
Aber die Corona-Pandemie ist auch noch nicht überstanden in Schweden, siehe die zuletzt steigende Anzahl an Krankenhauseinweisungen?
Ich denke, es wird ziemlich deutlich, dass SARS-CoV-2 ein saisonales Virus ist, genau wie die vier “Schnupfen”-Coronaviren. Es wäre seltsam, wenn dem nicht so wäre, wenn man bedenkt, wie ähnlich es ihnen biologisch ist. Und ich denke, dass wir, genau wie bei allen anderen saisonalen Atemwegsviren, in den Sommermonaten einen Rückgang zu verzeichnen hatten und jetzt sehen wir einen Anstieg gegenüber dem Herbst. Das Pandemiestadium ist in Schweden jetzt vorbei und wir sind in das endemische Stadium eingetreten.
Also glaube ich nicht, dass wir es mit einer zweiten Welle zu tun haben. Ich glaube, wir sehen einen saisonalen Effekt. Meines Erachtens sind diese Fallzahlen auch ein schlechtes Mittel um festzustellen, wie aktiv das Virus in der Bevölkerung ist. In Schweden ist die Zahl der durchgeführten Tests heute achtmal höher als im Frühjahr. Deshalb sollten wir uns stattdessen mit Krankenhauseinweisungen, Einweisungen auf Intensivstationen und Todesfällen befassen. Und diese Zahlen steigen weiterhin viel langsamer als die Zahl der Fälle.
Titelbild: © Henning Rosenbusch