Der Diktator war längst tot, doch sein Geist überlebte. Chiles Verfassungs-Referendum, das die Straße erkämpfte

Frederico Füllgraf
Ein Artikel von Frederico Füllgraf

Während diese Einleitung geschrieben wird, feiern zigtausende Chileninnen und Chilenen auf der von der Regierung mehrfach mit Zutrittsverbot belegten, jedoch von ihnen zurückeroberten Plaza Italia (umgetauft in Plaza Dignidad – Platz der Würde) selbst zu später Abendstunde den Sieg ihrer zentralen Forderung, die zum ersten Mal auf ebendiesem Platz am 18. Oktober 2019 erhoben wurde: Schluss mit der Pinochet-Verfassung von 1980, die das neoliberale System der sozialen Rechtlosigkeit etablierte. „Ein historisches und bewegendes Ereignis, ein Privileg für Journalisten, es erleben und dokumentieren zu dürfen“, so unser Südamerika-Korrespondent Frederico Füllgraf.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

„Lo venian venir“ heißt ein auf diesem Platz ebenso geborenes Mantra – „sie sahen es kommen“. Mit mehr als 30 Toten und mindestens 450 teilerblindeten Opfern der Gewalt der militarisierten Carabinero-Polizei und nach wie vor mindestens 2.500 jungen Inhaftierten „kam es“: das Plebiszit.

Am gestrigen Sonntag, dem 25. Oktober, stimmten zum ersten Mal in der 200-jährigen Geschichte der Republik Chile 14,7 Millionen Wählerinnen und Wähler mit einem Plebiszit über den Verfassungsnachlass der Pinochet-Diktatur ab, der trotz des Endes der Diktatur vor dreißig Jahren immer noch in Kraft ist. Wie zu erwarten, setzte sich das „Ja“ für eine neue Verfassung – in den Medien popularisiert durch den Hashtag #Apruebo („Genehmigt“) – mit 78,2 Prozent gegen das „Rechazo“ („Abgelehnt“: 21,8 Prozent) der zumeist konservativ bis rechtsradikal orientierten Wähler durch.

Das Referendum war die erste Etappe auf dem Weg zur neuen Verfassung, womit nicht vor Ende 2021 zu rechnen ist. Ihm folgt im April 2021 eine neue Abstimmung über die zur Wahl stehenden Kandidaten zur Verfassungsgebenden Versammlung. Über ihre organische Zusammensetzung wurde gestern auf einem zweiten Stimmzettel abgestimmt. Zur Wahl standen zwei Optionen. Zum einen die „gemischte Verfassungskonvention“ – zusammengesetzt aus ca. 86 zu gleichen Teilen amtierenden Parlamentariern und direkt gewählten Volksvertretern – zum anderen der basisdemokratisch anmutende „Paritätische Verfassungskonvent“, seinerseits zusammengesetzt aus 150 direkt gewählten Volksvertretern (davon 50 Prozent Frauen), allerdings unter Ausschluss von Parlamentariern. Diese zweite Option gewann mit mehr als 79 Prozent, womit der chilenische Volksentscheid nach dem Wahlsieg von Andrés Manuel López Obrador in Mexiko, von Alberto Fernández in Argentinien und von Luis Arces in Bolivien vor einer Woche weitere Signale für eine radikaldemokratische Wende in Lateinamerika aussandte.

Fälschung, Betrug und der autoritäre, neoliberale Nachlass der Pinochet-Verfassung

Skeptische Geister werden sich zu recht fragen, wie können aufgeklärte Bürger so vielfältige Hoffnungen auf sozialen und politischen Fortschritt mit einer „bloßen Verfassung“ verknüpfen, sind doch – insbesondere in der lateinamerikanischen Geschichte, aber nicht nur hier – „Gesetze dazu da, um gebrochen zu werden“. Ein Teil der Antwort liefert umgekehrt eine Spiegelung, nämlich die Darstellung der katastrophalen Auswirkungen der Verfassung des Diktators Augusto Pinochet von 1980.

Wie bedrohlich eine neue Verfassung jedoch dem internationalen Finanzkapital und seinem Finanzialisierungs-Brokern erscheint, erhellt des Weiteren ein Artikel Mary Anastasia O’Gradys, Herausgeberin des Wall Street Journals, mit dem stimmungsmachenden Titel Chile’s Suicide Mission. „Zweifellos haben starke Dosen marxistischer Indoktrination an chilenischen Universitäten und die Einkommensgleichheit von Intellektuellen und Medien das Land nach links gekippt“, will die libertäre O’Grady erkannt haben. Die WSJ-Herausgeberin scheint ihr Fernglas von der verkehrten Seite vor ihre Augen gesetzt zu haben, sie hat nichts verstanden. Nicht einmal im Ansatz, dass die anhaltende Sozialrevolte mit ihrem Plebiszit auf nicht mehr als eine dezente Sozialdemokratie hinausläuft.

Das, was O’Grady verteidigt, ereignete sich im September 1973. Kaum waren elf Tage nach dem Putsch gegen die Regierung Salvador Allende verstrichen, als die von Pinochet geführte Militärjunta langfristige Herrschaftspläne schmiedete und eine Kommission mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung „für Chile“ beauftragte. Die Gänsefüßchen deuten an, dass die Charta Magna nicht etwa ganz Chile, sondern einer Minderheit zugedacht war, die Eduardo Matte Pérez – Chiles Außenminister und Begründer der Matte-Dynastie, einer der gegenwärtig reichsten Familienclans Chiles – um 1889 unverhohlen mit den Worten beschrieben hat, „die Eigentümer Chiles sind wir, die Besitzer des Kapitals und des Bodens“. So übernahm Enríque Ortúzar – ehemaliger Minister von Jorge Alessandri und dessen Wahlleiter in der Präsidentschaftskampagne gegen Salvador Allende – die Leitung der Kommission für die Ausarbeitung der Pinochet-Verfassung, die jedoch von dem Juristen, Faschisten und Pinochet-Vertrauten Jaime Guzmán, der am 1. April 1990 durch ein Attentat der Guerilla-Gruppe Patriotische Front Manuel Rodríguez (FPMR) ums Leben kam, überwacht wurde.

Ganze sieben Jahre lang, so der Historiker Sergio Grez, trat die Kommission im Geheimen zusammen, ohne dass ihre Diskussionen und Vorschläge überhaupt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden; zumal in einem Umfeld von unterdrückter Pressefreiheit, Verfolgung, Folter und Mord an Oppositionellen. Mit Anregung Guzmáns und Mónica Madariagas – amtierende Justizministerin und Pinochets Cousine – wurde schließlich eine „Volksabstimmung“ einberufen, die allerdings nur einen knappen Monat zuvor angekündigt worden war. Mit der „Abstimmung“ versuchte Pinochet selbstverständlich, seinem Herrschaftsanspruch und dessen Langlebigkeit Legitimität zu verleihen.

Doch selbst der „Härteste“ der Junta-Obristen, Luftwaffen-General Gustavo Leigh Guzmán, unterstellte dem Verfassungs-„Plebiszit“ Pinochets Fälschung und Betrug. In einem dem eingestellten Cauce-Magazin im Juli 1985 gegebenen Interview berichtete Leigh, dass die damaligen ersten Computer der Diktatur bereits mit den „Abstimmungsergebnissen“ vorab gefüttert worden waren, dass tausende Vertreter und Agenten der Diktatur mehrmals ihre Stimmen in unterschiedlichen Wahllokalen abgegeben hatten und dass es überhaupt keine Wahlregister gab, die als legale Urkunde die Stimmabgabe hätten nachweisen können. Diese waren vom Militär verbrannt worden.

Der Sozialwissenschaftler Edison Ortiz bescheinigt der Pinochet-Charta „zehn Lügen“, darunter vor allem die autoritäre Abschaffung der rechtsstaatlichen Grundfreiheiten, die Aushöhlung und Abschaffung der Arbeitsrechte – zum Beispiel mit der Sprengung und dem Verbot gewerkschaftlicher Branchenvertretung, oder des Einheitsanspruchs – sowie die radikale Privatisierung öffentlichen Besitzes und von Einrichtungen wie des staatlichen, solidarischen Rentensystems, gesteuert von Pinochets Chicago-Boys. Kurzum, mit den Worten Sergio Grez‘: „Es ist eine Verfassung, die keine sozialen Rechte, sondern nur die Freiheit des Geschäfts, des Privateigentums und des freien Marktes sichert.“

Doch die Pinochet-Verfassung enthält auch ein Sortiment subtiler, gemeingefährlicher Haken: Sie installierte die sogenannte „Autonomie der Körperschaften“, darunter des Verfassungsgerichts, sehr gravierend jedoch vor allem die administrative und politische Unbelangbarkeit von Streitkräften und Carabinero-Polizei, deren Etats, Doktrin und Entscheidungen weder der Exekutive noch der Legislative bekannt sind und als explosive Büchse der Pandora in die Demokratie herübergerettet wurden.

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Der „Schweigepakt“ und die Flickarbeit der Mitte-Links-Regierungen

Es stimmt nicht, wie einige Artikel behaupten, die über zwanzig Jahre lang nach Pinochet regierenden Concertación-Regierungen hätten sich gegenüber der betrügerischen und autoritären Pinochet-Charta untätig verhalten. Der Concertación ist aus demokratischer Perspektive vielmehr Verantwortungslosigkeit und eine gewaltige Portion Feigheit vorzuwerfen.

„Das Unerklärliche kam später”, erinnert Historiker Sergio Grez mit Hinweis auf die Vereinbarungen zwischen dem sozialistischen Präsidenten Ricardo Lagos und dem Pinochetisten Pablo Longueira, die in den Verfassungsreformen von 2005 gipfelten, mit denen theoretisch versucht wurde, die antidemokratischen Exzesse der Militärverfassung zu beseitigen, diese aber ein zweites Mal fortgeschrieben und legitimiert wurden.

Der erste Legitimationsakt von Pinochets Charta, so Grez, wurde am 30. Juli 1989 nach dem Triumph des „Nein“ zu Pinochets Kontinuität besiegelt. Da der Diktator immer noch an der Macht war, akzeptierte die Concertación ein vorher geschnürtes Projekt von 54 Verfassungsänderungen, die zu einer seltsamen Volksabstimmung führten, bei der die Sozialistische Partei die Ablehnung forderte, während die Kommunisten dazu rieten, die Wahl zu annullieren. Laut Grez ließen sich die an der Macht abwechselnden Mitte-Links-Regierungen auf ein stetiges Laissez-faire ein, das in Übergangsvereinbarungen gipfelte, die zur Legitimierung der Pinochet-Verfassung vereinbart wurden und sich zu höheren Quoren für Verfassungsreformen verpflichteten, die der Koalition zwei Jahrzehnte lang die Hände fesselten. Trotz einer Mehrheit im Parlament sieht es heute nicht viel anders aus, warnt Grez.

Andererseits ist dieses Narrativ der Vorwürfe auch Präsidentin Michelle Bachelet eine Portion Anerkennung schuldig. Bachelet trat 2014 ihr zweites Mandat mit dem Kampagnen-Versprechen der Verfassungsreform an. Mit 204.000 Teilnehmern an den Provinz- und Regionalräten, einem Beobachter-Bürgerrat, den von der Basis einberufenen lokalen Bürgerversammlungen (ELAs) und einem Budget von mehreren Millionen Euro versuchte Bachelet, eine neue Verfassung mit basisdemokratischem „Bürgersiegel“ zu verabschieden.

Die mehrere Monate anhaltende Bürger-Debatte produzierte 113 Seiten Änderungs-Anregungen und Anträge zu mehreren Dutzend Artikeln der Pinochet-Verfassung. Obwohl die Cabildos (Volksräte) zentrale Verfassungsvorschläge wie die Gewährleistung sozialer Rechte, das Recht auf Arbeit oder Wohnen eingereicht hatten, wurden zahlreiche Vereinbarungen abgelehnt und durch Gegenvorschläge der Bürokraten des La-Moneda-Regierungspalastes ersetzt. Als das Projekt das Parlament erreichte, wurde es nicht nur von der ultrakonservativen, neoliberal orientierten Opposition boykottiert, sondern in den eigenen Reihen der Mitte-Links-Fraktionen entweder mit „langen Zähnen“ gegessen oder gar ignoriert. Bachelets kolossaler Fehler war, die versprochene Verfassungsreform zu spät, im letzten Jahr ihrer Administration, angepackt und nicht von vornherein mit einem Plebiszit verbunden zu haben.

„Sie sahen es kommen“. Und so kam es zum 18. Oktober 2019 und dem gestrigen Referendum. Die Entscheidung für den Paritätischen Verfassungskonvent, unter Ausschluss des etablierten Parlaments, verdeutlicht, wie diskreditiert das politische Establishment ist.

Bilder: © Frederico Füllgraf