Auf die Attacken der aserbaidschanischen Armee gegen die international nicht anerkannte „Republik Nagorni-Karabach“ antwortet die Armee Armeniens mit der Beschießung der zweitgrößten aserbaidschanischen Stadt Gjandscha. Russische Politiker weisen den Anspruch der Türkei zurück, die im Karabach-Konflikt jetzt die Rolle des „Vermittlers“ beansprucht. Von Ulrich Heyden, Moskau.
Seit drei Wochen herrscht Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien. Stepanakert, die Hauptstadt der international nicht anerkannten „Republik Nagorni-Karabach“ (RNK), wird von den aserbaidschanischen Truppen immer wieder mit Raketen bombardiert.
Ziel der aserbaidschanischen Führung ist es, die seit 1991 faktisch unabhängige, aber international nicht anerkannte „Republik Nagorni-Karabach“ wieder in den aserbaidschanischen Staat einzugliedern. In der RNK leben seit alters her vor allem Armenier. Zwei – unter Vermittlung von Russland zustandegekommene – Waffenstillstände wurden innerhalb kurzer Zeit gebrochen.
In Nagorni-Karabach leben 150.000 Menschen. Bei einer Volkszählung im Jahr 2005 waren 99 Prozent der RNK-Einwohner Armenier. Dass es 1991 zu der Gründung der RNK gekommen war, hing zusammen mit einem anti-armenischen Pogrom in der aserbaidschanischen Stadt Sumgayit im Februar 1988. Von 1923 bis 1991 war Nagorni-Karabach ein autonomes Gebiet im Bestand der Sozialistischen Sowjetischen Republik Aserbaidschan.
Exakte Zahlen über Verletzte, Tote und Kriegsgefangene während des drei Wochen dauernden Krieges gibt es nicht. Der russische Präsident Wladimir Putin erklärte am Donnerstag, der Krieg habe bisher 5000 Menschen das Leben gekostet. Das ist eine sehr hohe Zahl. Doch aus den Hauptschlagzeilen ist der Krieg um Nagorni-Karabach verschwunden.
Russland versteht sich in dem Konflikt als Vermittler. Russland hat in den letzten Jahrzehnten Waffen sowohl an Aserbaidschan als auch Armenien geliefert. Die russischen Medien bemühen sich um eine neutrale Berichterstattung zu dem Konflikt im Südkaukasus.
Auch US-Präsident Donald Trump, Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und Vertreter der EU-Kommission vermeiden einseitige Schuldzuweisungen. Auffällig ist aber, dass westliche Politiker die Türkei nicht für ihre kriegstreiberische Rolle schelten. Immerhin ist die Türkei Mitglied der Nato. Wegen der vornehmen Zurückhaltung der westlichen Politiker fragte der Präsident von Armenien, Armen Sarkisjan, gegenüber dem US-Journal Politico, ob die Nato der Türkei „grünes Licht“ gegeben habe.
Sarkisjan flog am Mittwoch nach Brüssel, um sich mit Nato-Generalsekretär Stoltenberg und dem Verantwortlichen in der EU-Kommission für Sicherheitspolitik, Josep Borell, zu treffen. Wie der Pressedienst des armenischen Präsidenten mitteilte, wollte Sarkisjan die „Aggression gegen Nagorni-Karabach“ und „die Raketenangriffe von Seiten Aserbaidschans auf Orte in der Republik Armenien“ ansprechen.
Präsident von Armenien ruft zur allgemeinen Mobilmachung auf
Für die „Republik Nagorni-Karabach“ und die sie unterstützenden armenischen Streitkräfte wird die militärische Lage immer schwieriger. Am Mittwochabend gab der Präsident von Aserbaidschan, Ilham Aljiew, die „Befreiung“ von 20 Dörfern im Gebiet der RNK bekannt.
Angeblich kontrollieren die Streitkräfte Aserbaidschans inzwischen den Großteil der 90 Kilometer langen Grenze zwischen der RNK und dem Iran. Man kann auch nicht mehr ausschließen, dass es den aserbaidschanischen Streitkräften gelingt, den Latschin-Korridor zu erobern. Durch diesen Korridor verläuft eine Straße durch die Berge, welche die kürzeste Verbindung zwischen Armenien und Stepanakert, der Hauptstadt von Nagorni-Karabach, ist.
Angesichts der für das armenische Militär dramatischen Entwicklung rief der Ministerpräsident von Armenien, Nikol Paschinjan, das armenische Volk am Mittwoch via Facebook auf, sich Freiwilligen-Einheiten anzuschließen. Für die Lösung der Karabach-Frage gäbe es „für lange Zeit keine diplomatische Lösung“. Man habe immer erklärt, dass man bereit sei für eine Lösung „auf der Grundlage eines Kompromisses“. Doch das, „was für die armenische Seite jetzt annehmbar ist, ist jetzt nicht annehmbar für die aserbaidschanische Seite.“ Angesichts der aserbaidschanischen Position sei es „in erster Linie die Aufgabe unseres Volkes, die Waffe in die Hand zu nehmen und die Heimat zu schützen.“ Russland lobte der Ministerpräsident Armeniens als „Vermittler und strategischen Partner“.
Will die Türkei Russlands traditionell führende Rolle im Kaukasus brechen?
Die Führung der Türkei hat zu dem Krieg im Südkaukasus von Anfang an harte Töne angeschlagen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat erklärt, man werde Aserbaidschan militärisch unterstützen, wenn dies gewünscht werde. Russische Medien berichten, dass diese Unterstützung schon geleistet wird. Aserbaidschan nutze türkische Drohnen und hohe türkische Militärs hielten sich in Baku auf.
Die Türkei bestreitet, dass es mit Truppen an den Kämpfen teilnimmt. Immer mehr häufen sich jedoch die Berichte über Extremisten aus Syrien, die mit Hilfe der Türkei in das Kriegsgebiet Karabach gebracht werden. 52 getötete Kämpfer aus Syrien, die in Karabach auf Seiten der aserbaidschanischen Armee gekämpft haben, wurden nach Angaben der „Washington Times“ und des „Wall Street Journals“ in speziellen Kühlschränken zurück nach Syrien gebracht.
Die Türkei beschuldigt Russland und Frankreich, Armenien mit „großen Mengen“ an Waffen zu unterstützen. Die kriegstreiberischen Erklärungen aus Ankara reißen nicht ab. Am Donnerstag, einen Tag vor seiner Reise nach Moskau, erklärte der türkische Vizepräsident Fuat Oktay in einem Interview mit CNN Turk, wenn Aserbaidschan dies wünsche, werde die Türkei „ohne zu zögern“ Truppen in das Kriegsgebiet Karabach schicken. Die Verhandlungen Russlands mit Vertretern Aserbaidschans und Armeniens seien – so der türkische Vize-Präsident – gescheitert, „weil die Türkei an dem Dialog nicht beteiligt wurde“.
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Das geht so ...
Russischer Senator: „Türkische Truppen schließen friedliche Lösung aus“
Der russische Senator und außenpolitische Experte Aleksej Puschkow twitterte zu den Äußerungen von Oktay, die Entsendung türkischer Truppen „würde zur Ausweitung und Internationalisierung des Konflikts führen und eine friedliche Lösung ausschließen.“
Der türkische Politologe Kerim Has erklärte gegenüber der Nesawisimaja Gaseta, Ankara werde für Moskau zum „problematischen Partner“, mit dem ein gemeinsames Handeln „immer schwieriger“ werde. Erdoğan werde für Moskau „eine Quelle der Instabilität“. Die Türkei könne im Karabach-Konflikt nicht die Rolle eines Vermittlers beanspruchen, da die Türkei Armenien „offen zum Feind erklärt hat.“
Das wirtschaftliche und militärische Kräfteverhältnis
Die beiden kriegsführenden Länder im Südkaukasus haben eine sehr unterschiedliche wirtschaftliche und militärische Stärke. Aserbaidschan hat 9,9 und Armenien 2,9 Millionen Einwohner. Aserbaidschan ist ein ölreiches Land, welches das schwarze Gold über eine Pipeline unter Umgehung von Armenien via Georgien in den türkischen Hafen Ceyhan transportiert.
Die Industrie von Armenien ist wenig entwickelt. 50 Prozent der Exporte sind von der Bergbauindustrie geförderte Rohstoffe. Zwei Millionen Armenier und zwei Millionen Aserbaidschaner arbeiten in Russland. Gegen eine sehr korrupte Oberschicht kam es in Armenien 2018 zu einer „bunten Revolution“. Sieger dieser „Revolution“ war der jetzige Ministerpräsident von Armenien, Nikol Paschinjan. Er war bis zu der „Revolution“ als Journalist und Oppositionspolitiker tätig.
Nach Meinung von Igor Korotschenko, Chefredakteur der russischen Zeitung „Nationale Verteidigung“, sind die Streitkräfte Armeniens den Streitkräften von Aserbaidschan deutlich unterlegen. Unter Präsident Ilham Alijew habe Aserbaidschan, reich geworden durch den Verkauf von Erdöl, modernste Drohnen in Israel gekauft. Teilweise würden diese auch in Lizenz in Aserbaidschan produziert. Die aserbaidschanischen Drohnen spielten eine Schlüsselrolle in diesem Krieg.
Auf Videos des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums ist zu sehen, wie Drohnen zur Aufklärung der gegnerischen Linien, aber auch zu Luftschlägen eingesetzt werden.
Auch Armenien habe Drohnen gebaut, sagt Korotschenko. Diese seien aber nicht von solcher Qualität wie die aserbaidschanischen.
Raketen auf Wohnviertel
Angesichts ihrer Unterlegenheit starteten die Streitkräfte von Armenien am 17. Oktober Raketenangriffe auf Wohngebiete, unter anderem in der aserbaidschanischen Stadt Gjandscha (Video zerstörter Wohngebiete ab Minute 2:16), wo es nach Angaben der Nachrichtenagentur Anna News 15 Tote und 55 Verletzte gab. Die Stadt Gjandscha liegt im Nordwesten von Aserbaidschan und hat 300.000 Einwohner.
Angriffe auf Wohngebiete könnten Anlass sein, armenische Militärs vor ein internationales Kriegsgericht zu bringen. Die russische „Nesawisimaja Gaseta“ warnt, von Angriffen im Rahmen der „psychologischen Kriegsführung“ abzusehen, zumal solche Angriffe militärisch auch „keinen Nutzen“ brächten. Als Beispiele für die militärische Nutzlosigkeit von Raketenangriffen auf Wohngebiete nennt das Blatt die Bombardierung Londons im Juni 1944 durch Nazi-Deutschland und die Bombardierung von Zagreb im Mai 1995 durch die Krajna-Serben.
Armenien könne es sich – so das Blatt – nach der „weltweiten Empörung“ über Raketenangriffe auf Wohngebiete in Aserbaidschan auch nicht leisten, seine wenigen modernen Iskander-Raketen aus Russland für „eine psychologische Kriegsführung“ gegen Ziele in Aserbaidschan einzusetzen. Die wenigen und sehr teuren Iskander-Raketen solle Armenien als Sicherheitspfand behalten.
Wird Russland eingreifen?
Ob Russland in den Konflikt um Nagorni-Karabach eingreifen soll, ist unter russischen Politikern umstritten. Bisher galt die Regel, Russland greift nicht ein, weil Nagorni-Karabach nicht zu Armenien gehört. Doch wenn Armenien Russland bittet, im Rahmen des Verteidigungsbündnisses ODKB Armenien beizustehen, wäre ein russischer Militäreinsatz in Armenien möglich. Allerdings ist nicht sicher, ob der armenische Präsident Paschinjan, der eher westlich orientiert ist, Russland überhaupt um einen Militäreinsatz bittet. So ein Einsatz könnte Russlands sowieso schon intensiven – vor allem wirtschaftlichen – Einfluss in Armenien verstärken.
Konstantin Satulin, stellvertretender Vorsitzender des GUS-Komitees der Duma, erklärte, man könne nicht ausschließen, dass Russland sich in Armenien engagiert. Aserbaidschan und die Türkei hätten „den Frieden in der Region verletzt“. Sie „müssten daran erinnert werden, welcher Staat im postsowjetischen Raum die Führungsrolle hat“. Denkbar sei eine Erhöhung der Militärhilfe für Armenien sowie die Sperrung des armenischen Luftraums. Satulin stimmte mit der Einschätzung des Ministerpräsidenten Armeniens überein, dass auf diplomatischer Ebene zur Zeit nichts zu erreichen sei.
Eine Gegenrede kam von dem stellvertretenden Vorsitzenden des Duma-Verteidigungsausschusses, Andrej Krasow. Satulin habe seine Stellungnahme nicht mit dem russischen Verteidigungsministerium abgestimmt, sagte er. Es gäbe zurzeit „keine Planungen für den Einsatz russischer Soldaten im Konfliktgebiet Nagorni-Karabach“. Von einem Einsatz russischer Truppen in Nagorni-Karabach hatte Satulin allerdings nicht gesprochen.
Titelbild: Center for Security Studies ETH Zuerich