Brasilien: Nach Waldbränden und Corona-Massentod die notwendige, weltweite finanzielle und politische Isolierung des Bolsonaro-Regimes

Frederico Füllgraf
Ein Artikel von Frederico Füllgraf

Am vergangenen 10. Oktober, als die jüngste Hochrechnung der Covid-19-Pandemie das 150.000. Todesopfer in Brasilien vermeldet und die Stimmung im Lande auf ein emotionales Tief drückt, ist Präsident Jair Bolsonaro von keinerlei Beileid berührt, sondern unternimmt eine Spazierfahrt mit dem Motorrad am Strand von Guarujá bei São Paulo und lässt sich von seinen Bodyguards filmen. Auf Twitter feiern seine Anhänger die Szene mit Ausschnitten aus der Titelmusik „Born to be wild“ des Kultfilms „Easy Rider“ mit Dennis Hopper und Peter Fonda. Von Frederico Füllgraf.

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Als Reaktion auf die verletzende Indifferenz gegenüber menschlichem Leben und der Natur fanden am darauffolgenden Sonntag, den 11. Oktober, in 19 Ländern, einschließlich Deutschlands, Proteste unter der Parole „Stop Bolsonaro“ statt. Seit Juni 2020 prangert die weltweite Bewegung „die Zerstörung der brasilianischen Nation an“, die von einer „faschistischen, genozidalen und ökozidalen Regierung“ gefördert werde. Einer ihrer Ableger nennt sich „defund Bolsonaro“, eine Kampagne, die das Ziel verfolgt, dem Bolsonaro-Regime die weltweiten Finanzierungs- und Investitionsmittel zu entziehen.

Wild oder pervers?

Nicht nur politische Aktivisten, sondern auch so manche Psychoanalytiker wie der kritische Deutsch-Brasilianer Christian Dunker zweifeln an Bolsonaros Geisteszustand. Doch zunehmend auch Publizisten. Bereits vier Monate nach seinem Amtsantritt prangerte die populäre El-País-Kolumnistin Eliane Brum mit dem Titel „Einhundert Tage unter der Herrschaft der Perversen“ die dystopischen, nekrophilen Züge des Regimes an. Selbst die deutsche Tagesschau bezeichnete die ersten 18 Monate von Bolsonaros Amtszeit als eine „Schreckensbilanz“.

Der Hang des Präsidenten zur Perversion drückte sich zunächst in seinen frauen-, homosexuellen-, schwarzen- und indianerfeindlichen Ausfällen aus und setzte sich fort mit der Leugnung der Covid-19-Pandemie, dem offenen Boykott sanitärer Grundmaßnahmen, der kaltblütigen Indifferenz gegenüber dem Massensterben am Virus, mit Sätzen wie „Na und?“ sowie mit seiner Umweltpolitik der verbrannten Erde. Der krankhafte Charakterzug prägt allerdings auch das Auftreten mehrerer Militärs in der Regierung, wie zum Beispiel das von Bolsonaros Vize, Amazonien-Beauftragtem und Unterhändlers mit der Europäischen Union, General Hamilton Mourão. Jüngst von der Deutschen Welle TV interviewt, leugnete der Militär nicht nur die Umweltvernichtung in Amazonien, sondern sang im Chor mit Bolsonaro eine Lobeshymne auf seinen früheren Ausbilder und angeklagten, berüchtigten Folterer der Militärdiktatur (1964-1985), Heeresoberst Carlos Alberto Brilhante Ustra, der Geständnisse erzwang, indem er weiblichen politischen Gefangenen Ratten in die Vagina jagen ließ. Juan Arias, El-País-Korrespondent in Brasilien, betitelte sodann einen seiner Kommentare mit den Worten „Die brasilianische Regierung und ihre ´Todesagenda´“.

Infame Lügen und falsche Anschuldigungen vor der UNO

Die gequälten Regenwälder und ihre Völker bestätigen Arias. Ursache der katastrophalen Brände und Waldrodungen in Amazonien und dem weltgrößten Feuchtgebiet Pantanal sind seit Mitte 2019 zwei Dutzend Regierungsbeschlüsse. In enger Abstimmung mit den Militärs, die das Bolsonaro-Regime aus der Taufe hoben, und dem machtvollen Agrobusiness fährt Umweltminister Salles einen Kurs der programmierten Aushöhlung seines Ministeriums (MMA) und dessen Einzelbehörden. Radikale Mittelkürzung, Entlassung politisch missliebiger Wissenschaftler des die Brände verfolgenden Nationalen Instituts für Weltraumforschung (INPE), Abbau von Inspektionsstellen und Brandbekämpfungs-Brigaden und nicht zuletzt die Anstiftung zu Überfällen auf Indianerland mit dem Ziel illegaler Abholzung, Ausdehnung von Soja-Monokulturen, Viehweiden und Bergbau verwandelten das MMA in ein umweltfeindliches Ministerium mit verheerenden Folgen.

Nach Angaben des in Realzeit arbeitenden Deforestation Detection Systems (Deter) stieg zwischen Juni und August 2020 die Zahl der abgeholzten Waldflächen Amazoniens gegenüber 2019 um 25 Prozent, die Zahl der Waldbrände (von Januar bis August 2020, insgesamt 44.013 Brandstellen) gar um 66,5 Prozent. Seit Jahresbeginn 2020 wurden ebenfalls im weltgrößten Feuchtgebiet Pantanal, an der Grenze zu Paraguay und Bolivien gelegen, mindestens zwei Millionen Hektar – 12 Prozent der Gesamtfläche – durch 10.153 Brände zerstört. Es handelt sich um die alarmierendsten Zahlen seit 2007.

Doch den Tatsachen setzten Bolsonaro, Salles und Mourão ein perverses Narrativ entgegen. Als am 5. September in Brasilien der „Amazonien-Tag“ gefeiert wurde, behauptete der rechtsradikale Regierungschef tatsächlich, „Brasilien verdient Glückwünsche, es ist das Land, das weltweit am meisten die Umwelt schützt“, und beschimpfte einheimische und internationale Regenwald-NGOs als „parasitäres Krebsgeschwür“. General Mourão wiederum beschuldigte das INPE der Verbreitung „negativer Daten über den Amazonas“, als ob die Waldzerstörung nicht auch von anderen Satelliten auf der Welt verfolgt werden könne.

Drei Wochen später, zum 75. Gründungs-Jahrestag der UNO, behauptete Bolsonaro in der Eröffnungsrede, Brasilien sei „Opfer einer brutalen Desinformationskampagne“, wogegen er eine lächerliche Verschwörungstheorie in Szene setzte: Nicht etwa die Großgrundbesitzer und Landräuber, sondern die indianischen Gemeinden und Caboclos (Mischlinge) hätten die Brände verursacht. Jamil Chade, Genfer Korrespondent der Tageszeitung Folha de S. Paulo, bezeichnete Bolsonaros Ansprache als „Parade eines Scharlatans, Illusionsverkäufers und Betrügers“. Organisationen wie das brasilianische Observatório do Clima beschrieben die Ansprache als „inszenierten Wahnwitz“ und Global Justice unterstellte Bolsonaro die „Kriminalisierungs-Absicht von Menschenrechts- und Umweltschützern“. Einem Bericht von El País (14.10.2010) zufolge, geht die Paranoia gegen Umweltschützer so weit, dass das Bolsonaro-Regime vier Spione zur Bespitzelung von NGOs in den Madrider Klimagipfel vom vergangenen Dezember 2019 eingeschleust habe.

Kapitalflucht, Vertragskündigung, Import- und Investitions-Boykotte: Bleibt es bei bloßen Ermahnungen?

Wegen der erratischen Wirtschaftspolitik von Bolsonaros Wirtschaftsminister Paulo Guedes zogen von Januar 2019 bis Mai 2020 internationale Anleger nicht weniger als 50,9 Milliarden US-Dollar aus Brasilien ab. In vielfachen Formen nahm der internationale Druck auf Bolsonaro allerdings nach dem verheerenden Umgang mit der Covid-19-Pandemie und der Umwelt zu.

Im Mai verbreiteten große britische Einzelhandelsketten – wie Tesco, Asda, Weitrose, J Sainsbury und Marks & Spencers – einen Offenen Brief an das brasilianische Parlament mit ihrer Kritik am Regierungserlass Bolsonaros, der die illegale Besetzung und Abholzung von 570.000 Quadratkilometern Regenwald genehmigte. Auch Teile der deutschen Supermarktketten Lidl, Aldi und der Rewe-Gruppe schlossen sich der Initiative an, die zwar diplomatisch formuliert, im Fall anhaltender Regenwaldzerstörung den Boykott von brasilianischen Agrarprodukten aber nicht ausschließt.

Ende Juni zogen unter Führung des norwegischen Storebrand-Fonds 43 Investment-Konzerne nach und forderten von der Bolsonaro-Regierung in einem Offenen Brief „ein klares Bekenntnis zum Ende der Entwaldung und zum Schutz der Rechte indigener Völker“. Die Fonds stehen unter Druck ihrer umweltkorrekten Klientel, von der sie 5,3 Billionen US-Dollar verwalten. Vom Autor befragt, ob es bei Drohungen bleiben wird oder die Fonds es mit dem Investitionsboykott ernst meinen, antwortete Storebrand-CEO Jan Erik Saugestad, „wir schätzen den Dialog mit der Bolsonaro-Regierung, hoffen jedoch, dass sie mit konkreten Ergebnissen vor Ort dazu beiträgt“.

Ende August sandte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel Warnsignale nach Brasilia. Sie habe „erhebliche Zweifel“ daran, ob das 2019 unterzeichnete Freihandelsabkommen der EU mit dem südamerikanischen Handelsblock Mercosur wegen der zunehmenden Entwaldung im Amazonasgebiet förderungswürdig sei. Umgekehrte, begründete Zweifel bestehen indes aus der Perspektive des Entwicklungseffekts des Abkommens für Südamerika, dessen Ziele neue Regelungen in Bezug auf Dienstleistungen, öffentliche Auftragsvergaben, Auslandsinvestitionen und geistiges Eigentum ins Spiel bringen. Wie dem auch sei, die zunächst taktierende Kanzlerin schlug sich auf die Seite Emmanuel Macrons, der während des 2019er G-20-Gipfels Bolsonaro beschuldigte, ihn über die Waldrodungen belogen zu haben, daraufhin die Ratifizierung des Vertrages verweigerte und widerliche Bemerkungen Bolsonaros über seine Ehefrau in den sozialen Netzwerken einstecken musste.

Brasilianische Generäle, wie Geheimdienstchef Augusto Heleno, reagierten auf Merkels Zweifel mit der Androhung von „Gegenmaßnahmen“. Zum Beispiel mit einem eventuellen Boykott europäischer Ausfuhren. Sollte er deutsche Exporte nach Brasilien gemeint haben, so machen diese mit rund 10 Milliarden Euro (2019) gerade einmal lächerliche 0,07 Prozent der deutschen Gesamtausfuhren aus. Der außenpolitisch verwirrte „Bolsonarismo“ macht sich also lächerlich.

Im Fall von Trumps Wahlniederlage: Bannon, die Bolsonaros und die Bekämpfung des Rechtsstaates

Die großmäuligen Zampano-Auftritte Bolsonaros setzen indes auf ihren letzten einflussreichen Förderer: die Regierung Donald Trump. Der ehemalige Fallschirmjäger und brasilianische Regierungschef hat sich dem New Yorker Milliardär mehrfach als freiwilliger Untertan angeboten, in dem Video „I love you!“ gar seine emotionale Zuwendung erklärt. Seit Mitte 2019 unterstützt Bolsonaro Donald Trumps Wiederwahl-Ambitionen. Auf Twitter betreibt Bolsonaros Sohn und Parlamentarier Eduardo Bolsonaro seit Monaten Werbung mit der Losung „Trump 2020“. „We’ve seen this playbook before. It’s disgraceful and unacceptable. The Bolsonaro family needs to stay OUT of the U.S. Election“, schoss der demokratische Vorsitzende des Unterausschusses für Auswärtige Angelegenheiten, Eliot Engel, zurück.

Die Bolsonaros fühlen sich Trump, aber auch seinem gefeuerten und jüngst wegen schweren Betruges verhafteten Wahlstrategen von 2016 und politischen Beraters, Steve Bannon, verpflichtet. Der ehemalige Herausgeber der rechtsradikalen Postille Breitbart und Aktieninhaber von Cambridge Analytica diente nämlich auch als Wahlberater Bolsonaros, dessen Söhnen er die Inszenierung von hanebüchenen Fake News auf WhatsApp und Facebook beibrachte, womit Bolsonaro Ende 2018 die Präsidentschaftswahl gegen die Arbeiterpartei (PT) gewann. Die rechtsradikale, digitale Miliz etablierte sich nach Bolsonaros Amtsübernahme als das sogenannte „Hass-Kabinett“, das nach wie vor gegen die demokratische Opposition, die Linke, den Obersten Gerichtshof und jede Form von Gelegenheitsfeinden mit skrupellosen Lügen und Attacken agitiert.

Nach Gründung seiner rechtsradikalen Bewegung „The Movement“ nominierte Bannon Eduardo Bolsonaro zu seinem südamerikanischen Vertreter und übte Einfluss auf die jüngste UN-Ansprache von Bolsonaro Senior aus. Mit The Movement profilierte sich Bannon zum weltweiten Wortführer des globalen neofaschistischen Diskurses der „Antipolitik“, für den „minimalen Staat“ und der Wissenschaftsfeindlichkeit. Der Diskurs beherrscht vollends die brasilianische Außenpolitik, deren Minister Ernesto Araújo ein Anhänger von Verschwörungstheorien wie der „flachen Erdscheibe“ und Covid-19-Leugner ist.

Joe Biden erklärte zwar in seiner ersten Debatte mit Donald Trump, falls er zum US-Präsidenten gewählt werde und Bolsonaro die Amazonas-Brände nicht verhindere, müsse er mit Sanktionen rechnen und bot zum Schutz des Bioms 20 Milliarden US-Dollar an. Doch diese Drohung gehört offenbar zum Repertoire der Rhetorik. Eine Biden-Regierung wird zwar eine Annäherung an die Umwelt-Positionen der EU suchen, die das Bolsonaro-Regime noch weiter in die Enge treiben kann. Doch mit ihm brechen dürften die rechten Biden-Demokraten nicht. Sie brauchen Bolsonaro im Kampf gegen die Wirtschaftshegemonie Chinas in Lateinamerika und gegen die strategischen Partnerschaften bestimmter Regierungen mit Russland.

Umgekehrt stünden mit einem Biden-Sieg Bolsonaro zwei Alternativen zur Verfügung: Entweder er teilt einen distanzierten, aber pragmatischen Biden-Kurs oder er radikalisiert den neofaschistischen Diskurs und wird zum weltweiten Paria verdammt. Letztere Option könnte von Bolsonaros Sohn Eduardo favorisiert werden, der schon einmal prahlte, „wir sind nicht allein auf der Welt“. Doch dieser Entschluss hängt auch davon ab, ob Steve Bannon im Fall einer Wahlniederlage Donald Trumps noch die Glaubwürdigkeit für die Wiederaufnahme des medialen Partisanenkriegs gegen die Demokraten und für die „Eroberung der EU“ besitzt.

Titelbild: © Metropoles

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