Da die Rücklagen der gesetzlichen Krankenkassen im Wahljahr weitgehend aufgebraucht werden, „drohen 2022 drastische Erhöhungen und unpopuläre Spargesetze“, so Kritiker. Außerdem beteiligen sich private Krankenversicherer nicht angemessen an den Corona-Kosten. Von Hermann Zoller.
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„Warum der Gesundheitsminister nicht auf die Idee kommt, den allgemeinen Beitragssatz zu erhöhen, liegt auf der Hand. Im kommenden Wahljahr wäre dies für ihn schädlich.“
So kommentiert Roland Sing, Landesvorsitzender des Sozialverbandes VdK Baden-Württemberg, die Vorgehensweise von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in der aktuellen Entwicklung der Finanzierung der Krankenversicherung.
Der Hintergrund ist ein bisschen kompliziert, für die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherungen aber folgenreich. Am 13. Oktober 2020 hat der GKV-Schätzerkreis – bestehend aus Experten des Bundesgesundheitsministeriums, des Bundesamtes für Soziale Sicherung und des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) – beraten. Dabei kam es nicht zu einer einheitlichen Bewertung von Ausgabenentwicklungen im laufenden und im nächsten Jahr.
Das Bundesgesundheitsministerium geht für 2020 von Ausgaben in einer Höhe von 257,8 Milliarden Euro aus, der GKV erwartet hingegen 258,6 Milliarden Euro. Für 2021 zeigt sich ein ähnliches Bild: Bundesgesundheitsministerium: 274,9 Milliarden Euro – GKV 276,6 Milliarden Euro.
Aus diesen Schätzergebnissen ergibt sich für 2021 eine Erhöhung des durchschnittlichen Zusatzbeitragssatzes um 0,2 bzw. 0,3 Prozentpunkte auf 1,3 bzw. 1,4 Prozentpunkte. Das Bundesgesundheitsministerium wird am 1. November 2020 den durchschnittlichen Zusatzbeitrag für 2021 bekanntgeben. (Der Zusatzbeitrag wurde zum 1. Januar 2015 in der gesetzlichen Krankenversicherung eingeführt. Begründet wurde er damit, den Krankenkassen zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen und den Wettbewerb zwischen den Kassen zu fördern.)
AOK: Bundesregierung bricht Versprechen
Die Diagnose der AOK spricht eine klare Sprache. Jens Martin Hoyer, stellvertretender Vorsitzender des AOK-Bundesverbandes, erklärt:
„Die Bundesregierung hatte zugesagt, die Sozialversicherungsbeiträge zu stabilisieren und die Finanzierungsverantwortung für die 2021 entstehende Lücke in der GKV über einen erhöhten Bundeszuschuss vollständig zu übernehmen. Der zugesagte Steuerzuschuss von fünf Milliarden Euro reicht aber gerade mal für knapp ein Drittel des Fehlbetrags. Die anderen zwei Drittel, elf Milliarden Euro, sollen doch die Beitragszahler aufbringen, indem der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz angehoben und die Kassenrücklagen in einer Größenordnung von rund acht Milliarden Euro angezapft werden. Davon trägt die AOK-Gemeinschaft den Löwenanteil, was eine massive Wettbewerbsverzerrung darstellt. Damit sollen im Wahljahr Beitragssatzanhebungen verhindert werden. Das dürfte mit den geplanten Maßnahmen aber kaum gelingen.“
Und das zeigt der Blick über das Jahr hinaus auch, so Hoyer:
„Da die Rücklagen der Kassen weitgehend im Wahljahr aufgebraucht werden, drohen 2022 drastische Erhöhungen und unpopuläre Spargesetze.“
Gesundheitssystem nicht an Gewinnen ausrichten
Vor dem Hintergrund der aktuellen Finanzlage der GKV warnt Roland Sing, Landes- vorsitzender des Sozialverbandes VdK Baden-Württemberg, in einer Stellungnahme für die NachDenkSeiten:
„Deutschland darf sein Gesundheitssystem nicht kaputtsparen. Wir brauchen ein Gesundheitssystem, das an den Bedarfen der Menschen und nicht an Gewinnen und ökonomischer Effizienz ausgerichtet ist. Privatisierung und ökonomischer Druck haben die Situation vor allem für diejenigen deutlich verschlechtert, die in der Pandemie als ‚systemrelevant‘ gelten.
Die Krankenhausplanung muss sowohl die regelmäßige Versorgung der Bevölkerung als auch Reservekapazitäten für den Fall einer Pandemie einplanen.
Wettbewerb widerspricht der Logik der Daseinsvorsorge, daher brauchen wir keinen Krankenkassenwettbewerb, sondern ein solidarisches System, das die Gesundheit der Patientinnen und Patienten als oberstes Ziel hat.
Dies gilt auch und gerade für die Finanzierung der durch Covid-19 verursachten Mehrkosten in der Krankenversicherung. Die gesetzlichen Krankenkassen haben schnell und unkompliziert wirksame Maßnahmen ergriffen, um die Versorgung während der Corona-Hochphase und die Zeit danach sicherzustellen. Das war vorbildlich. Dies alles hat große finanzielle Aufwendungen verursacht und wir alle sind uns sicherlich einig, dass sich an dieser gesamtgesellschaftlichen Herausforderung auch alle Akteure im Gesundheitswesen beteiligen müssen.“
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Das geht so ...
Die private Krankenversicherung an Corona nicht angemessen beteiligt
Umso „unverständlicher“ findet Roland Sing, dass sich die „hochgelobte“ private Krankenversicherung weder an den zusätzlichen Schutzausrüstungen in den Krankenhäusern noch am bundeseinheitlichen Ausgleich für vorgehaltene Intensivbetten oder an der Corona-Prämie für Pflegekräfte in den Pflegeheimen „adäquat beteiligt“ habe:
„1,5 Milliarden Euro zahlte die gesetzliche Krankenversicherung für das Vorhalten von Intensivbetten, mit keinem Cent beteiligte sich die Private Krankenversicherung. 130 Millionen Euro und 870 Millionen Euro brachte die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung für die Pflegeprämie auf, keinen einzigen Euro trug die Private Krankenversicherung dazu bei.
Und auch die Kosten der Testungen der Reiserückkehrer und die durch die Gesundheitsämter veranlassten Tests wurden bis zum heutigen Tage ausschließlich durch die gesetzlichen Krankenkassen getragen, auch dann, wenn privatversicherte Personen getestet wurden.“
Und Roland Sing rechnet weiter vor:
„50,5 Millionen Euro sind im Übrigen für 1 Millionen Test aufzubringen. Sie werden der gesetzlichen Krankenversicherung letztendlich mehrere Milliarden Euro abverlangen.
Es ist für uns einfach nicht nachvollziehbar, dass die gesetzlich Versicherten, die im Übrigen auch Steuerzahler sind, die Gesamtlast und selbst die Leistungen für Privatversicherte und Personen ohne Krankenversicherung alleine finanzieren müssen.
Das ist falsch, unsolidarisch und frisst auch den Gesundheitsfonds, der zu Jahresanfang noch hohe Rücklagen aufweisen konnte, vollständig auf.“
Zwar habe der Deutsche Bundestag zwischenzeitlich beschlossen, dass der Pflege-Bonus nun auch an Pflegekräfte in Krankenhäusern gezahlt werden soll und „hier – man höre und staune – erstmals auch die Private Krankenversicherung – wenigstens mit einem Minimalanteil von 7 Millionen Euro – an dieser zusätzlichen Leistung beteiligt wird“. Der Löwenanteil in Höhe von 93 Millionen werde allerdings erneut aus der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds und somit aus den Beitragsgeldern der gesetzlich Versicherten bezahlt. Sing kritisiert weiter:
„Vor diesem Hintergrund prognostizierten die Experten des BMG und des Bundesamtes für soziale Sicherung einen Fehlbetrag für die gesetzlichen Krankenkassen in Höhe von 16 Milliarden Euro. Dieser solle nach dem Willen der Bundesregierung über die Anhebung des durchschnittlichen Zusatzbeitrags um 0,2 Prozentpunkte auf dann 1,3 %, die einmalige Steigerung des Bundeszuschusses um fünf Milliarden € für Corona bedingte Mehrausgaben und Mindereinnahmen sowie die kassenindividuellen Rücklagen in Höhe von rd. 8 Milliarden Euro ausgeglichen werden. Der Bundeszuschuss aus Steuermitteln in Höhe von 5 Milliarden € deckt aber nur ein Drittel des Fehlbetrags. Die Beitragszahler sollen also zwei Drittel aufbringen. Ein unglaublicher Vorgang!“
Warum der Gesundheitsminister nicht auf die Idee kommt, den allgemeinen Beitragssatz zu erhöhen, liegt für Roland Sing auf der Hand:
„Im kommenden Wahljahr wäre dies für ihn schädlich. Bei der Erhöhung der Zusatzbeiträge wird er auf die gesetzlichen Krankenkassen verweisen und auf deren Unfähigkeit, mit dem Geld richtig zu wirtschaften. Die Nichtbeteiligung der privaten Krankenversicherung passt im Übrigen auch ins politische Konzept des Herrn Ministers Spahn!“
Titelbild: Alexandros Michailidis / Shutterstock