Donald Trump will den ersten Impfstoff gegen Covid-19 bereits auf Biegen und Brechen vor den Präsidentschaftswahlen am 3. November in den USA zulassen. In Europa ist man nur unwesentlich zurückhaltender und sieht immer noch die erste Jahreshälfte 2021 als Deadline. Das ist erstaunlich, sind die ohnehin bereits massiv verkürzten klinischen Studien der Impfstoffkandidaten, um die es hier geht, doch erst zwischen Oktober 2021 und März 2023 beendet. Möglich werden frühere Termine nur durch „Notfallzulassungen“, die jeglichen Gedanken an die Sicherheit der Impfprogramme ad absurdum führen. Und selbst wenn man sämtliche Risiken und Nebenwirkungen außer Acht lässt, wird die Impfung nicht das leisten, was man sich in der Öffentlichkeit von ihr vielleicht verspricht. Das Narrativ „Bald haben wir einen Impfstoff und dann kehrt das normale Leben zurück“ ist eine Lüge. Daher sollten wir endlich eine Debatte führen, wie wir mit Corona zur Normalität zurückfinden. Von Jens Berger.
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Wer auf die baldige Verfügbarkeit eines auch nur halbwegs auf Sicherheit geprüften Impfstoffs spekuliert, sollte lieber keinen Blick auf die Übersichtsseite der aussichtsreichsten Impfstoffkandidaten werfen, die von der WHO geführt wird. Dort sind zehn Impfstoffkandidaten zu finden, die bereits in der sogenannten dritten klinischen Testphase sind, also an einer größeren Zahl von Probanden geprüft werden, um im Idealfall auch seltene Risiken und Nebenwirkungen und Spätfolgen zu dokumentieren. Schaut man sich die Studiendesigns der zehn Kandidaten an, so stößt man unweigerlich auf folgende Zeitangaben, an denen die klinischen Daten aller Probanden vorliegen sollen und damit die dritte Testphase beendet werden kann:
- AstraZeneca (Oxford, Großbritannien/Schweden): Oktober 2021
- Biontech/Pfizer (Deutschland/USA): 11. Dezember 2022
- CanSino (China): 30. Januar 2022
- Gamaleya (Russland): 1. Mai 2021
- Janssen (Johnson&Johnson, Belgien/USA): 10. März 2023
- Moderna (USA): 27. Oktober 2022
- Novoavax (USA): noch keine Angabe
- Sinovac (China): Oktober 2021
- Sinopharm (China, zwei Kandidaten): 15. Juli 2021
Überflüssig zu erwähnen, dass diese Daten nicht zu den von den Regierungen kommunizierten Terminen passen, an denen ein Impfstoff zur Verfügung stehen soll. Schaut man sich die Studieninformationen bei den nationalen Aufsichtsbehörden an, vertieft sich die Diskrepanz noch weiter. So sind beispielsweise ganze 237 der 243 von Johnson&Johnson genannten Studienstandorte in der Übersicht mit dem Vermerken „not yet recruting“ oder „withdrawn“ bezeichnet. An diesen Standorten hat man demnach heute noch gar nicht mit der Rekrutierung von Probanden begonnen oder die Studie wurde bereits wieder abgeblasen. Nur an sechs Krankenhäusern findet die klinische Erprobungsphase III bereits statt. Dennoch zählt der Impfstoffkandidat von Johnson&Johnson zu den immer wieder genannten Anwärtern, die bereits zur US-Präsidentschaftswahl oder zumindest kurz danach in den USA zugelassen werden sollen. Offiziell endet die dritte Testphase dieses Kandidaten am 10. März 2023 – also nicht in vier Wochen, sondern in zweieinhalb Jahren und diese Testphase ist bereits durch Sonderregelungen verkürzt oder „teleskopiert“, wie es in der Fachsprache so schön heißt.
Die EU ist da übrigens keineswegs besser. Erst vor drei Wochen schloss die EU-Kommission einen Vertrag mit den beiden Pharmakonzernen Sanofi (Frankreich) und GlaxoSmithKline (Großbritannien) über die Lieferung von 300 Millionen Impfdosen ab. Angepeilt ist dabei das zweite Halbjahr 2021. Das ist mehr als sportlich, hat der Sanofi-Kandidat doch noch nicht einmal die zweite Testphase bestanden und demnach die dritte Testphase überhaupt noch nicht begonnen. Weitere 400 Millionen Impfdosen sind bereits bei AstraZeneca (Großbritannien/Schweden) bestellt. Deren dritte Testphase geht – zumindest für die britischen Behörden – jedoch bis zum Oktober 2021. In den USA ist die dritte Testphase seit dem 7. September auf unbestimmte Zeit ausgesetzt, nachdem AstraZeneca nach langem Hin und Her und unter Ausschluss der Öffentlichkeit eingestehen musste, dass es bei der dritten Phase bereits zwei schwere – höchstwahrscheinlich mit der Impfung in Zusammenhang stehende – Zwischenfälle gab. Die Rede ist von „transverser Myelitis“, einer neurologischen Autoimmunerkrankung, die zu einer dauerhaften Querschnittslähmung führen kann und als „seltene Nebenwirkung“ viraler Infekte oder eben Impfungen mit Viren bekannt ist. Normalerweise tritt diese sehr seltene Erkrankung laut der Fachliteratur[1] pro Jahr weniger als fünfmal unter einer Million Menschen auf. Wenn sie nun bereits bei zwei von 16.000 Probanden des AstraZeneca-Impfstoffs aufgetreten ist, ist dies eine „sehr beunruhigende Nachricht“, wie es das US-amerikanische National Institutes of Health ausdrückt. In Europa sieht man das weniger beunruhigend und hat AstraZeneca die Fortsetzung der Studie nach einer Bedenkzeit von zwei Tagen gestattet; schließlich hat man den Impfstoff nicht nur bereits bestellt, AstraZeneca ist für Großbritannien und die EU auch der auserkorene Kandidat, der als erster auf den Markt kommen soll.
Sowohl für die USA als auch für die EU muss spätestens an dieser Stelle jedoch die Frage beantwortet werden, wie es denn überhaupt sein kann, dass ein Impfstoff lange vor der Komplettierung der klinischen Tests überhaupt bereits eine Zulassung bekommen und der Allgemeinheit verabreicht werden kann. Die Antwort ist ebenso simpel wie erschreckend. Möglich machen dies sogenannte „Notfallzulassungen“. In den USA spricht man von einer „Emergency Use Authorization“, in der EU heißt dies „Conditional Marketing Authorisation“. Gemeint ist das Gleiche – wenn es sich entweder um eine sehr seltene oder aber sehr gefährliche Krankheit handelt, kann auch dann eine provisorische Zulassung erteilt werden, wenn die dritte klinische Testphase erfolgversprechend, aber noch nicht beendet ist. Sicherlich kann man nun vortrefflich darüber debattieren, ob Covid-19 diese Kriterien erfüllt. Interessanter sind jedoch die Kriterien, die die Zulassungsbehörden als „erfolgversprechend“ festgelegt haben. Feste Kriterien gibt es hier nämlich nicht und der Ermessensspielraum ist genau so groß wie der politische Druck auf die Zulassungsbehörden.
Pfizer hat sich für seinen gemeinsam mit dem deutschen Biotechunternehmen Biontec entwickelten Impfstoffkandidaten beispielsweise das Ziel gesetzt, bereits nach 32 – auch milden – Covid-19-Fällen unter den Probanden eine Zwischenprüfung anzustellen. Wenn dann sechs Erkrankungen auf Geimpfte und der Rest auf die Kontrollgruppe fällt, die ein Placebo bekommen hat, so soll dies laut Pfizer der Beleg für die Wirksamkeit des Impfstoffs sein und eine Notfallzulassung rechtfertigen. 32 womöglich noch nicht einmal schwere Erkrankungen unter 44.000 Probanden der dritten Testphase sollen demnach ausreichen, um eine Notfallzulassung zu bekommen. Und dass es so kommen wird, ist sehr wahrscheinlich. Am gleichen Tag, an dem Donald Trump einen Impfstoff noch für dieses Jahr angekündigt hat, hat die US-Gesundheitsbehörde CDC den Bundesstaaten bereits konkrete Anleitungen für die Verabreichung des Impfstoffs für Ende Oktober/Anfang November an bestimmte Bevölkerungsgruppen geschickt. Klar, dass die offiziellen Studiendaten inkl. Laufzeit dann nur Makulatur sind. Wie die europäischen Behörden bei der Festlegung der Kriterien für ihre Notfallzulassung konkret verfahren werden, ist übrigens noch nicht entschieden. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass sie hier große Sorgfalt walten lassen, wenn in den USA bereits geimpft wird und der politische Druck – vor allem durch die Unzufriedenheit der Wähler mit den Maßnahmen – immer größer wird.
Über die Risiken und Nebenwirkungen oder gar Untersuchungen von Spätfolgen muss man bei derart kleinen Stichproben und kurzen Zeiträumen freilich erst gar nicht reden. Die werden dann am Ende des Studienzeitraums veröffentlicht, wenn viele Tausend oder gar Millionen Menschen bereits auf Basis der „Notfallzulassung“ geimpft wurden. Stellt sich der Impfstoff dann als unsicher heraus, wird die Notfallzulassung halt widerrufen und die Geimpften müssen zusehen, wo sie bleiben. Das ist unverantwortlich.
Es wäre übrigens falsch, hier nur die USA und die EU auf die Anklagebank zu setzen. In Russland und China sind derartige „Notfallzulassungen“ bereits erteilt worden – jeweils zu einem Zeitpunkt, an dem die dritte klinische Testphase entweder in einem sehr frühen Stadium war (China) oder noch nicht einmal begonnen wurde (Russland). In China wurden auf Basis der dortigen Notfallzulassung übrigens bereits rund 400.000 Menschen geimpft – Ärzte, Soldaten, Polizisten, Wissenschaftler, Parteifunktionäre … eine begleitende wissenschaftliche Dokumentation möglicher Nebenwirkungen und Spätfolgen findet nicht statt. Auch in Russland sollen Freiwillige aus besonderen Bereichen – z.B. Lehrer, Ärzte, Krankenschwestern – abseits der klinischen Testphasen die Möglichkeit haben, sich mit dem russischen Impfstoff „Sputnik V“ impfen zu lassen – ob und wie viele Freiwillige dieses Angebot angenommen haben, ist jedoch nicht bekannt. Es wäre jedoch heuchlerisch, nun mit ausgestrecktem Finger China und Russland zu kritisieren, zeichnen sich in den USA und in der EU doch exakt die gleichen Entwicklungen ab. China und Russland waren lediglich etwas eiliger.
Man sollte auch nicht dem Denkfehler verfallen und die Verfügbarkeit eines Impfstoffs mit einer angestrebten Massenimmunität durch die Impfung gleichsetzen. Selbst wenn man – optimistisch, aber komplett realitätsfern – mal unterstellt, dass der Impfstoff wirklich die Geimpften sowohl immun als auch nicht-infektiös macht, so wäre es ein sehr langer Weg von den ersten Impfungen für besondere Personengruppen wie den Risikogruppen oder Mitarbeitern des Gesundheitssystems bis zu einer weitreichenden Impfung der Bevölkerung – zumal nicht davon auszugehen ist, dass sich genügend Menschen überhaupt impfen lassen wollen. Bei den Ärzten und Krankenschwestern in meinem persönlichen Umfeld hält sich die Bereitschaft für einen unter diesen Umständen entwickelten Impfstoff beispielsweise – vornehm ausgedrückt – in überschaubaren Grenzen. Hierbei handelt es sich übrigens keineswegs um generelle Impfgegner. Nimmt man nun noch hinzu, dass die angestrebten Mengen auch erst einmal produziert werden müssen und die logistischen und administrativen Fragen auch nicht gerade problemlos sind, kann die Zeitspanne zwischen der Notfallzulassung und einer weitreichenden Immunität auch mehrere Jahre dauern. Wollen wir solange unsere Kinder mit Masken in die Schule schicken, den Kulturbereich ausbluten und den Tourismus vor die Hunde gehen lassen? Aber dies sind ohnehin nur theoretische Gedankenspiele, da die zu erwartenden ersten Impfstoffe gar nicht das halten dürften, was man sich von ihnen verspricht.
Was kann man von diesen ersten Impfstoffen denn überhaupt erwarten? Wer nun denkt, die Impfung würde Infektionen verhindern oder verhindern, dass die Geimpften selbst infektiös werden, der hat sich leider getäuscht. Dies wird bereits bei den Zielvorgaben durch die WHO deutlich – die sieht es nämlich bereits als Erfolg, wenn der Impfstoff 50 Prozent der Menschen vor einer Erkrankung (nicht Infektion!) schützt. Dabei wird ein „Konfidenzintervall“ gestattet, dass nach unten bis 30 Prozent reicht. Nach WHO-Vorgaben könnten also zwei von drei Geimpften dennoch erkranken. Ein Kommentar des angesehenen Wissenschaftsmagazins „The Lancet“ bringt die unbequemen Fragen auf den Punkt. So hätten Primatentests ergeben, dass die „erfolgreichen“ Impfstoffkandidaten zwar die Virenlast in den unteren Atemwegen minimieren, aber keine Immunität in den oberen Atemwegen herstellen. Dadurch lassen sich zwar schwerere Krankheitsverläufe verhindern, da die Infektion selbst aber über die oberen Atemwege stattfindet, sind die Geimpften nach wie vor infektiös und können Nicht-Geimpfte anstecken. Wer seitens der Politik also suggeriert, dass die Maßnahmen ein Ende finden könnten, wenn die Impfung erst einmal zur Verfügung steht, ist entweder schlecht informiert oder er lügt. Denn an der „Lockdown-Logik“ ändert die Impfung per se nichts.
Sogar der Schutz vor Erkrankungen ist alles andere als sicher. So weisen die Lancet-Autoren darauf hin, dass das körpereigene Immunsystem bei „normalen“ Corona-Infektionen auch nur weniger als ein Jahr lang Immunität aufbaut. Mit Sars-CoV-2 vergleichbare Viren, wie MERS-CoV treten bei ihren Wirtstieren, den Dromedaren, auch häufig nach überstandener Erkrankung ein weiteres Mal auf. Ob das auf Sars-CoV-2 und den Menschen übertragbar ist, ist unbekannt, diesbezügliche Studien kann es ohnehin erst im nächsten Jahr geben, da es Sars-CoV-2 ja noch gar nicht so lange gibt. Im ungünstigsten Fall verhindert die Impfung also weder die Verbreitung des Virus, noch macht sie den Geimpften auf längere Sicht gegen die Krankheit immun. Bessere Impfstoffe der nächsten oder übernächsten Generation könnten dies freilich gewährleisten – aber ob und wann solche Impfstoffe jemals zur Verfügung stehen, ist unmöglich, seriös zu beantworten.
Diese Gedanken zeigen, wie töricht es ist, alles auf einen Impfstoff zu setzen. Wir werden wohl, wie es der Virologe Hendrick Streeck ausdrückt, lernen müssen, mit dem Virus zu leben. Und warum soll das nicht ohne große Einschnitte gelingen? Corona ist kein Killervirus und nach jetzigen wissenschaftlichen Erkenntnissen für einen Großteil der Bevölkerung auch nicht besonders gefährlich. Spitzenwissenschaftler aus Harvard, Oxford und Stanford gehen bereits einen Schritt weiter und raten dazu, nicht die Allgemeinheit durch Maßnahmen zu schädigen, sondern die Risikogruppen gezielt zu schützen und mittel- bis langfristig auf eine Herdenimmunität zu setzen. Dies muss als Diskussionsansatz ernstgenommen werden, denn die bisherige Strategie der schädlichen Maßnahmen bis zum Eintreffen eines Impfstoffs ist – wie man sieht – ein Holzweg mit nicht zu beziffernden Risiken, Nebenwirkungen und bereits jetzt sichtbaren Kollateralschäden.
Titelbild: Screenshot Tagesschau
[«1] Mumenthaler M, Mattle H (2011-01-01). Neurology. Thieme. ISBN 978-1-60406-135-2