„Es gibt immer noch Menschen, die keinerlei Vorstellung davon haben, was es bedeutet, mit Hartz-IV-Leistungen auskommen zu müssen“, sagt Andreas Aust vom Paritätischen Gesamtverband in Berlin. Im NachDenkSeiten-Interview geht der Referent für Sozialpolitik auf die aktuelle Situation der Hartz-IV-Bezieher ein und verdeutlicht: Die von der Bundesregierung angedachte Erhöhung der Hartz-IV-Sätze um 14 Euro reicht nicht aus, um die Armutssituation der Leistungsbezieher zu überwinden. Anlass für das Interview ist eine neue Untersuchung des Paritätischen, die einmal mehr aufzeigt, dass Mangelerfahrungen in den Hartz-Sätzen fest verankert sind. Von Marcus Klöckner.
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Herr Aust, vermutlich wird es eine Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze um 14 Euro geben. Ist damit die Armut in Deutschland abgeschafft?
Ob es zu dieser Erhöhung kommt, steht noch nicht fest. Das Kabinett hat sich zwar auf eine Erhöhung der Regelbedarfe um 14 Euro für einen Erwachsenen verständigt. Das parlamentarische Verfahren steht allerdings noch aus. Damit werden die Leistungen für Erwachsene geringfügig höher ausfallen, als durch die Anpassung an die jährliche Lohn- und Preisentwicklung sowieso notwendig gewesen wäre.
Diese Erhöhung würde also nicht ausreichen.
Nein, für eine effektive Armutsbekämpfung ist das zu wenig. Hartz IV und Armut wird ja auch umgangssprachlich geradezu synonym verwendet. Wir haben uns aber in unserer Expertise „Arm, abgehängt, ausgegrenzt. Eine Untersuchung zu Mangellagen eines Lebens mit Hartz IV“ den Sachverhalt einmal genauer angeschaut. Die durchschnittlichen Hartz-IV-Leistungen, die ein Single-Erwachsener bekommt – also Regelbedarfe sowie Wohn- und Heizkosten – lagen 2018 bei etwa 770 Euro. Die Armutsschwelle nach dem Mikrozensus lag dagegen bei 1.035 Euro. Damit gibt es eine gewaltige Diskrepanz zwischen durchschnittlichen Leistungen und Armutsschwelle, in der Armutsforschung spricht man diesbezüglich von einer Armutslücke. Diese Armutslücke betrug 2018 265 Euro. Durch die Neuermittlung der Regelbedarfe zum 1.1.2021 wird sich diese gewaltige Lücke nicht schließen. Und wir haben auch herausgearbeitet: Die Kluft wird im Laufe der Zeit auch noch größer. Dies haben wir durch einen Vergleich der beiden Zeitpunkte 2010 und 2018 zeigen können. Die Armutslücke betrug 2010 noch 192 Euro. Zugespitzt: Die Leistungsberechtigten werden weiter abgehängt.
In einer aktuellen Studie kommt der Paritätische zu dem Ergebnis, dass insbesondere alleinstehende Erwachsene mit Hartz IV in einer akuten Mangellage leben. Wie kommt das? Was haben sie konkret untersucht? Woran fehlt es?
In unserer Expertise war das zentrale Anliegen, die miserablen Lebensbedingungen unter Hartz IV deutlich zu machen. Dafür haben wir drei zentrale Fragen untersucht: Schützt Hartz IV gegen Armut? Kann man sich von Hartz IV angemessen ernähren? Und in welchen Aspekten leiden die Betroffenen unter materiellen Entbehrungen? Auf die enorme Armutslücke habe ich bereits hingewiesen. Unsere Ergebnisse zeigen aber auch, dass die Leistungen nicht für eine auskömmliche Ernährung reichen. Ein Warenkorb, der für eine Ernährung nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung notwendig wäre, ist mit Hartz IV nicht zu finanzieren. Dies hat eine Studie für Deutschland, auf die wir uns hier beziehen, deutlich gemacht. Zu demselben Ergebnis kommt jüngst auch das Gutachten „Für eine nachhaltigere Ernährung“ des Wissenschaftlichen Beirats bei dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. Schließlich haben wir Daten aus dem Sozioökonomischen Panel des DIW ausgewertet, um zu analysieren, an welchen elementaren Gütern und Diensten es Hartz-IV-beziehenden Haushalten fehlt. Ergebnis: Es fehlt – nicht unerwartet – elementar an Geld. Jede unerwartete Ausgabe wächst sich schnell zu einem Problem aus und führt schnell in die Verschuldung. In der Folge wird insbesondere an der sozialen, kulturellen und politischen Teilhabe gespart. Freunde im öffentlichen Raum zu treffen oder etwa zum Essen einzuladen, kostet regelmäßig Geld, das nicht vorhanden ist. Hartz IV bedeutet damit konkret Armut, eine mangelhafte Ernährung sowie Vereinsamung und soziale Isolation.
Bekämen alleinstehende Hartz-IV-Empfänger also 14 Euro mehr, wären sie immer noch arm?
Die Armut bleibt dann bestehen, sie wird ganz und gar nicht abgeschafft. Aber so war Hartz IV ja auch immer gedacht.
Wie meinen Sie das?
Es war eine politisch bewusste Entscheidung bei der Einführung von Hartz IV, dass die Leistungen möglichst niedrig gehalten werden. Ausdrückliches Ziel war die Beförderung von schlecht bezahlter Arbeit. Damit für die Leistungsberechtigten jede noch so schlecht bezahlte Arbeit attraktiv erscheint, wurde das Leben mit Hartz-IV-Leistungen möglichst unangenehm ausgestaltet. Auskömmliche Sozialleistungen galten den damals wesentlichen politischen Akteuren als Fehlanreiz oder wie es hieß, als „Hängematte“, die die Betroffenen faul und träge mache. Das ist alles hinlänglich bekannt und diskutiert. Leider ist dieses Denken noch immer nicht wirklich überwunden.
Wie sind Sie bei Ihrer Studie weiter vorgegangen?
Wir haben uns zunächst gefragt, welche Aspekte eines Lebens unter Hartz-IV-Bedingungen wollen wir untersuchen. Dann haben wir geschaut, welche Daten und Informationsquellen stehen uns zur Verfügung. Wir haben schließlich öffentliche Daten der Bundesagentur für Arbeit und des Statistischen Bundesamtes ebenso herangezogen wie eigene Auswertungen des SOEP – einer großen repräsentativen Haushaltsbefragung des DIW. Schließlich haben wir andere einschlägige Studien aufgearbeitet und die Ergebnisse eingebaut in die Expertise.
Wie sehen denn die konkreten Zahlen aus? Was steht einem alleinstehenden Hartz-IV-Empfänger zur Verfügung, um sich zu ernähren oder kulturell am Leben teilhaben zu können?
Aktuell erhält eine alleinstehende Erwachsene 432 Euro (2020). Dieses Budget muss für einen Monat für den kompletten Konsum reichen. Rechnerisch sind dabei für die Ernährung 150 Euro für Essen und Trinken vorgesehen. Dies entspricht etwa 5 Euro für alle Mahlzeiten am Tag.
Wie kann man damit klarkommen?
Für viele Menschen im Leistungsbezug ist dies nur möglich, weil sie auch auf die ergänzenden Angebote der Tafeln zurückgreifen. Nach den Angaben der Tafeln nutzen mittlerweile mehr als 1,5 Mio. Menschen diese Unterstützung. Ohne diese ehrenamtlich erbrachten Leistungen wäre die Not noch deutlich größer.
Im Bereich der sozialen und kulturellen Teilhabe sieht es noch schlimmer aus. Für Beherbergung und Gaststätten sind für einen Monat etwas mehr als 10 Euro vorgesehen; für Bildung ist es kaum mehr als ein Euro. Die Verweigerung von sozialer Teilhabe ist dabei teilweise offizielles Programm der Regierung. So heißt es in Bezug auf außerhäusige Verpflegung – also etwa einen Kaffee, ein Eis für die Kinder im Sommer oder auch mal eine Pizza – wörtlich in dem Gesetzentwurf, dass diese Ausgaben nicht zum „physischen Existenzminimum“ gehören und daher für Hartz-IV-Leistungsberechtigte nicht relevant seien. Soziale Teilhabe, die sich hier beispielsweise darin äußert, mit Freunden oder Familie einmal zusammen auszugehen, wird damit verweigert. So geht die Bundesregierung mit einer Vielzahl von Ausgaben um. Sie deklariert diese schlicht als nicht regelbedarfsrelevant: keine Blumen, keine Reisen, keine Haustiere – um einige Beispiele zu nennen. Durch dieses Vorgehen kürzt die Regierung den Regelsatz um etwa 160 Euro.
Nun, wir wollen aber nicht verschweigen, dass die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf endlich die Kosten für eine Handynutzung als gesellschaftlich normal anerkannt hat und erstmals diese Ausgaben als „regelbedarfsrelevant“ anerkennt. Dieser kleine Fortschritt macht aber im Gesamtergebnis keinen großen Unterschied.
Im Grunde genommen sind Ihre Ergebnisse aber nicht überraschend.
Für diejenigen, die sich mit dem Thema beschäftigen, sind die Ergebnisse keine Überraschung. Es ist auch nicht die erste Expertise zu dem Thema. Für die betroffenen Menschen sind die Ergebnisse erst recht keine Überraschung. Es gibt aber immer auch noch Menschen, die keinerlei Vorstellung davon haben, was es bedeutet, mit Hartz-IV-Leistungen auskommen zu müssen. Auch bei den politischen Akteuren fehlt es an Einsicht. Es geht bei der Expertise im Kern darum zu zeigen, dass höhere Leistungen unabdingbar notwendig sind. Dafür wollen wir werben und Handlungsdruck erzeugen.
Wie hoch müsste der Hartz-IV-Satz sein?
Der DGB, die Wohlfahrts- und Sozialverbände sind ebenso wie die Betroffenenorganisationen allesamt der Überzeugung, dass die Regelbedarfe viel zu niedrig ausfallen. Wir haben bereits im Vorfeld der Ermittlung in einem gemeinsamen Schreiben an das zuständige Ministerium die unzureichenden Leistungen angeprangert und konkrete Vorschläge unterbreitet. Leider war bereits darauf die Reaktion des Ministeriums ernüchternd abweisend.
Als Paritätischer Gesamtverband haben wir jüngst nachgerechnet und sind auf eine Summe von 644 Euro für eine alleinlebende Erwachsene gekommen, die wir unter Berücksichtigung aller Kritikpunkte für sachgerecht halten. Dazu kommen die Ausgaben für Strom und teure Haushaltsgeräte, die wir zukünftig nicht weiter über den Regelbedarf finanzieren wollen. Strom muss in der Höhe bezahlt werden, wie tatsächlich Kosten entstehen – dann wird es in Zukunft auch keine existenziell bedrohlichen Stromsperren mehr geben. Die Anschaffung von sog. „weißer Ware“ muss – wie früher – als Zuschuss finanziert werden, wenn der Bedarf anfällt.
Mit einem Hartz-IV-Regelsatz in dieser Größenordnung könnte Armut nachhaltig bekämpft werden. Die durchschnittlichen Leistungen würden in der Summe die Armutsschwelle erreichen. Das wäre ein wichtiger Schritt hin zu einer gerechteren Gesellschaft.
Gab es Reaktionen von politischer Seite auf die Forderung, Hartz IV auf 644 Euro zu erhöhen?
Die konkrete Forderung ist ja noch ziemlich frisch. Aber die allgemeine politische Lage ist relativ klar und leider wenig ermutigend. Die Bundesregierung hält die Regelbedarfe für ausreichend. Die Gelegenheit, nennenswerte Verbesserungen einzuleiten, hat sie verstreichen lassen. Auf der Seite der Opposition sehen wir Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke im Grundsatz an unserer Seite. Von diesen beiden Parteien gibt es vergleichbare Kritik an den unzureichenden Leistungen und die Forderung nach spürbaren Verbesserungen.
Die Diskussion um eine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze auf eine Summe, die den Betroffenen wirklich hilft, gibt es schon lange.
Die Diskussion gibt es schon lange. Sie begleitet uns seit der Einführung von Hartz IV. Sie wird uns auch in Zukunft weiter begleiten. Solange die Verhältnisse so sind, werden wir sie weiter kritisieren.
Selbst jetzt in der Pandemie tut sich die Politik schwer damit, den Armen zu helfen, oder?
In der Tat war diese Erfahrung ernüchternd. Die Pandemie hat ja auf der einen Seite dafür gesorgt, dass alte Glaubenssätze neoliberaler Politik verworfen oder zumindest ausgesetzt wurden. Zur Bekämpfung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie und des Lockdowns wurde eine massive Staatsverschuldung in Kauf genommen. Es wurde ein beachtliches Konjunkturpaket aufgelegt. Diese Entscheidungen sind im Grundsatz zu begrüßen. Allerdings ist es doch auf der anderen Seite sehr ernüchternd zu erleben, dass bei diesen Maßnahmen die Anliegen der ärmsten Menschen in diesem Land wieder nicht oder nur minimal berücksichtigt wurden. Der Paritätische hat sich mit zahlreichen anderen Akteuren dafür eingesetzt, dass zur Kompensation der besonderen Krisenbelastungen auch die Regelbedarfe zumindest vorübergehend um 100 Euro erhöht werden sollten. Leider sind wir damit nicht auf offene Ohren gestoßen.
Was würden Sie jenen Politikern sagen, die dagegen sind, Hartz IV so anzuheben, dass Armut wirksam bekämpft ist?
Ich würde darauf hinweisen, dass es zu den dringendsten Aufgaben eines Sozialstaates gehört, soziale Ungleichheiten auszugleichen und Armut zu bekämpfen. Dies ist unabdingbar, wenn eine gerechte Gesellschaft etabliert werden soll. Die Anhebung der Regelbedarfe ist dafür ein schnell wirksames und effizientes Instrument. Diese Maßnahme sollte Teil eines umfassenden Programms gegen soziale Ungleichheit sein.
Ein zentrales Argument für eine gerechtere Gesellschaft findet sich in einem Buch von Wilkinson und Pickett: Eine gerechte Gesellschaft ist besser für alle. Und gerecht ist eine Gesellschaft nur, wenn die Einkommensunterschiede nicht zu groß werden und niemand in Angst vor Armut oder sozialer Ausgrenzung leben muss.
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