30 Jahre „Brutkastenlüge“: Imperialer Machtanspruch und demokratische Öffentlichkeit

30 Jahre „Brutkastenlüge“: Imperialer Machtanspruch und demokratische Öffentlichkeit

30 Jahre „Brutkastenlüge“: Imperialer Machtanspruch und demokratische Öffentlichkeit

Ein Artikel von Reinhard Straumann

Wie gelingt es Regierungen demokratischer Staaten, Kriege zu führen, die von den Bevölkerungen abgelehnt werden? Die 1990 im Vorfeld des Irak-Kriegs aufgetischte „Brutkastenlüge“ steht exemplarisch dafür, wie Regierungen versuchen, Kriege gegen den Willen der Bürger zu legitimieren. Der Mechanismus hat Tradition. Von Reinhard Straumann.

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Vor 30 Jahren, am 10. Oktober 1990, trat eine junge Kuwaiterin in Washington vor das Menschenrechtskomitee des Kongresses und machte eine Aussage. Zum Schutz seiner Familie wurde das 15-jährige Mädchen nur mit seinem Vornamen vorgestellt, Nayirah. Unter Tränen erzählte die Teenagerin, wie sie zwei Monate zuvor, als Praktikantin in der Klinik al-Addan in Kuwait, miterlebt habe, wie irakische Soldaten die Neugeborenenabteilung gestürmt und die Brutkästen entwendet hätten. Die Frühgeborenen warfen sie achtlos auf den Boden und ließen sie sterben, 312 an der Zahl.

Obwohl das Menschenrechtskomitee kein offizieller Ausschuss ist und dort niemand unter Eid steht, verursachte der Auftritt Nayirahs riesiges Aufsehen. Amnesty International berichtete darüber am 19. Dezember 1990. US-Präsident George Bush (Senior) erzählte die Story nachweislich zehn Mal. Sie wurde dem UN-Sicherheitsrat aufgetischt und im Kongress kolportiert, als dieser im Januar 1991 dem Krieg gegen den Irak zustimmte, der im August Kuwait überfallen und dessen Ölfelder besetzt hatte. Die Abstimmungen für den Krieg waren knapp; 250 zu 183 im Repräsentantenhaus und 52 zu 47 im Senat. Angesichts dieser engen Stimmendifferenz ist denkbar, dass Nayirahs Schilderung den Ausschlag gegeben hatte. Ganz gewiss aber hatte sie die öffentliche Meinung gekippt. Jetzt verstanden die Menschen, weshalb die USA Saddam Hussein jahrelang unterstützt hatten – und nun doch gegen ihn Krieg führten. Jetzt konnte die Regierung den militärischen Kampf um das Öl im mittleren Osten aufnehmen und gleichzeitig die Mär von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten aufrechterhalten.

PR-Kampagnen für den Krieg

Ohne Zustimmung der Öffentlichkeit tun sich auch US-amerikanische Regierungen schwer, Krieg in einem Drittstaat zu führen. Also tut sie gut daran, mittels propagandistischer Maßnahmen für die gewünschte öffentliche Meinung zu sorgen. Im Falle Nayirahs war jede Silbe ihrer Schilderung erfunden und erlogen. Sie war in Tat und Wahrheit niemand anders als die Tochter des kuwaitischen Botschafters in den USA, Saud Nasir al-Sabah, Mitglied der Königsfamilie, und hatte keine Sekunde als Praktikantin in der Geburtsklinik gearbeitet. Die ganze Geschichte war von der damals weltgrößten PR-Agentur Hill&Knowlton ersonnen, die von der kuwaitischen Exilregierung für 10,8 Millionen Dollar beauftragt war, die öffentliche Meinung für den Krieg einzunehmen. Ungesichert ist, ob auch die US-amerikanische Regierung über das Vorgehen informiert war.

Die sogenannte „Brutkastenlüge“ ist seither der Vergesslichkeit der Menschen überlassen worden. Denn sie führt direkt ins Zentrum einer Problematik, über welche man in den USA und in der NATO diskret hinwegsieht: in das Spannungsverhältnis von demokratischer Öffentlichkeit und imperialen Ansprüchen. Sie ist ein besonders krasses Beispiel dafür, wie im Sicherheitsrat der UNO mit dem Gewaltverzichtsgebot umgesprungen wird. Während die Menschen sich dagegen verwahren, „der Krieg sei der Vater aller Dinge“ (Heraklit, 500 v. Chr.), so ist er für den „militärisch-industriellen Komplex“ (Eisenhower) der Vater aller Geschäfte. Er ist unverzichtbar.

Die Geschichte von Nayirah steht exemplarisch dafür, wie Regierungen Krieg legitimieren, obwohl die Menschen ihn ablehnen, die die Regierungen wählen. Der Mechanismus hat Tradition. War es im Ersten Weltkrieg noch die Torheit der deutschen Admiralität gewesen, die den englischen Dampfer Lusitania torpedieren ließ (der 1200 Passagiere, darunter viele Amerikaner, und eine Waffenlieferung für Großbritannien an Bord hatte) und so den von der Industrie und den Banken längst geforderten Kriegseintritt der USA forcierte, so war es im Zweiten Weltkrieg bereits komplizierter: Wiederum drängte das Großkapital auf die Kriegsteilnahme, aber wiederum zauderte die Öffentlichkeit. Erst der japanische Angriff auf Pearl Harbour im Dezember 1941 bewirkte den Meinungsumschwung. Dabei blieb dem US-amerikanischen Publikum vorenthalten, dass die US-Regierung den Erstschlag der Japaner durch ein radikales Ölembargo und das Einfrieren von Auslandsguthaben bewusst provoziert hatte und sogar dessen bevorstehendes Datum kannte. Es wäre ein Leichtes gewesen, die 3000 Menschen zu retten, die dem Angriff zum Opfer fallen sollten – stattdessen rettete man die Flugzeugträger, die man aus der Gefahrenzone aufs offene Meer abzog. Man brauchte sie ja noch.

Die Nachkriegszeit mit dem Kalten Krieg, den Stellvertreterkonflikten und dem immer enthemmteren Turbokapitalismus trug eine gesteigerte Amoralität in die Kriegsanlasslüge. Richtungsweisend war 1954 der Putsch in Guatemala, wo der sozialdemokratische Präsident Jacobo Arbenz eine Bodenreform plante, um die Campesions vor der Ausbeutung durch die United Fruit Company zu schützen. Wesentliche Aktienpakete der Gesellschaft befanden sich in den Händen der Brüder Dulles, des CIA-Direktors Allen Dulles und des Außenministers John Foster Dulles. Dementsprechend rigoros ging die CIA vor. Erstmals bediente sie sich der wissenschaftlichen Propagandaforschung, indem man den PR-Spezialisten Edward Bernays (ein Neffe von Sigmund Freud) beauftragte, die Öffentlichkeit auf einen Militärputsch in Guatemala vorzubereiten.

Das Muster der Kriegspropaganda

Das Muster bewährte sich. Nach der kubanischen Revolution durch Fidel Castro 1959 legte eine Expertenkommission unter dem Vorsitz von General Lemnitzer, dem obersten Generalstabschef, Präsident Kennedy eine Reihe von Vorschlägen vor, wie die öffentliche Meinung manipuliert werden könnte, damit eine militärische Intervention der USA in Kuba durchführbar würde. Das Papier mit dem Namen „Operation Northwoods“, das 40 Jahre unter Verschluss blieb, aber heute im “National Security Archive” der Universität Washington einsehbar ist, enthält u.a. folgende Ideen: Zerstörung einer US-amerikanischen Militärbasis mit anschließender Beschuldigung der kubanischen Armee, Abschuss eines US-Militärjets durch Flugzeuge vom Typ eines russischen Kampffliegers, fingierte Terroraktion mittels Versenkens eines Schiffs mit Exilkubanern, Abschuss einer zivilen Chartermaschine durch ein kubanisches Flugzeug. Kennedy war besonnen genug, die Aktion abzulehnen und sämtliche Vorschläge zurückzuweisen. Aber schon zwei Jahre danach hatte Präsident Johnson keine Skrupel, mit dem frei erfundenen Tonkin-Zwischenfall – angeblicher Beschuss des US-Zerstörers Maddox im Golf von Tonkin – die Zustimmung des Kongresses einzuholen, um die Bombardierungen Nordvietnams zu legitimieren.

Seit der Revolution im Iran 1979 ist der Mittlere Osten in den Fokus der US-amerikanischen Außenpolitik gerückt. Nach dem Zusammenbruch des Regimes von Schah Reza Pahlavi und dem (illegalen) Kriegseintritt der Sowjetunion in Afghanistan gingen die USA in die Offensive. Präsident Jimmy Carter verkündete der Welt:

„Jeder Versuch einer anderen Macht, Kontrolle über den Persischen Golf zu gewinnen, wird von uns als Angriff auf die Lebensinteressen der USA angesehen. Ein solcher Angriff wird mit allen erforderlichen Mitteln, einschließlich militärischer Gewalt, zurückgeschlagen werden.“

Seither gebärden sich die USA so, wie wenn die Carter-Doktrin Usurpation in Recht verwandelt hätte. Die Regierungsmannschaft um US-Präsident George W. Bush (Junior), Vizepräsident Dick Cheney und Kriegsminister Donald Rumsfeld belog 2003 die Weltöffentlichkeit, dass sich die Balken bogen. Nichts, aber auch gar nichts war dran, als US-Außenminister Colin Powell dem Sicherheitsrat vortrug, der Irak arbeite an der Herstellung von Massenvernichtungswaffen. Mit der „Koalition der Willigen“ entkoppelten sich Bush und der Premierminister Großbritanniens, Tony Blair, vom „alten Europa“ und eröffneten den Krieg, der eine Million Menschen das Leben kostete und den Ausverkauf des Irak zur Folge hatte.

Demokratien und der „militärisch-industrielle Komplex“

Gewiss, die USA sind nicht die einzige Nation, die sich die Kriegsanlasslüge zuschulden kommen ließ. Hitlers „Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen“ ist nur ein Beleg für eine Vielzahl von Propagandalügen, die im Vorfeld der Kriege dazu gehören wie das Elend, das sie hinterlassen. Die Regierungen aller Länder geben ihren Geheimdiensten das Gefühl, über dem Recht und den Verfassungen zu stehen. Aber in Demokratien ist es besonders schwierig, die Wählerinnen und Wähler hinter die aggressiven Absichten ihrer Regierungen zu bringen. Deshalb hat unter den Supermächten keine andere Nation die Kriegsanlasslüge so oft benutzt wie die USA. Dass Saddam Hussein ein menschenverachtender Mörder und Kriegsverbrecher war, ist unbestritten. Dass aber eine Million Menschen mit ihm sterben mussten, um den USA die Kontrolle über den Mittleren Osten zu sichern, ist ein gigantisches Kriegsverbrechen, das bislang vor keinem Tribunal verfolgt wurde.

Der Zerfall einer Nation beginnt mit dem Zerfall ihrer moralischen Werte; es erging dem Imperium Romanum nicht anders als heute den USA. Dass sie unter US-Präsident Donald Trump (anscheinend) ihrem Untergang entgegentaumeln, ist ein Prozess, der längst vor dem Egomanen im Weißen Haus begonnen hat. Der Sündenfall war, dass sich eine Demokratie vollständig den Interessen des „militärisch-industriellen Komplexes“ unterordnete (heute müsste man wohl sagen: den Interessen des „militärisch-digitalen Komplexes“). Die wirtschaftliche Elite der USA widersetzt sich heute Trump nur halbherzig, weil sie sich selbst jahrzehntelang hat korrumpieren lassen. Uns Europäern kann nur helfen, in der Politik, der Wirtschaft und der Publizistik einen eigenen Weg zu finden. Das „alte Europa“ müsste endlich den Mut finden, sich von all den aufgetischten Lügen zu distanzieren, anstatt sie einfach abzunicken.

Über den Autor:

Reinhard Straumann, Dr. phil., Historiker, Publizist, geboren 1953, lebt in Reinach (bei Basel) in der Schweiz. Straumann publiziert auch auf der Webseite www.politischebildung.net.


Literaturhinweise: Chomsky Noam, «Der gescheiterte Staat», Clark Ramsey [ehem. US-Justizminister], «Wüstensturm. US-Kriegsverbrechen am Golf»; Ganser Daniele, «Illegale Kriege»; Cull/Culbert/Welch, «Propaganda and Mass Persuasion».


Titelbild: mark reinstein / shutterstock.com

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