Bei den russischen Regionalwahlen wurden nur Gouverneure gewählt, die der Partei Einiges Russland angehören oder vom Kreml unterstützt werden. Navalny-Anhänger und Linke sprachen von Wahlfälschungen. Die Wahl gilt als Test für die Duma-Wahlen 2021. Aus Moskau berichtet Ulrich Heyden.
Vom 11. bis 13. September waren die Bewohner verschiedener Regionen Russlands aufgerufen, 18 Gouverneure und die Vertreter für verschiedene Stadt- und Gebietsparlamente zu wählen. Gewählt wurde an drei Tagen, um die Ansteckungsgefahr durch die Corona-Pandemie zu minimieren, wie es offiziell hieß.
Und worüber berichtete die ARD-Tagesschau, Deutschlands wichtigste Nachrichtensendung? Sie berichtete nur über die Wahlergebnisse der Navalny-Anhänger. Ihre Erfolge wurden als Siegesmeldung präsentiert. Über die anderen Kandidaten und Parteien erfährt man nichts.
„Navalnys Team feiert Erfolge“, titelte die ARD-Tagesschau online. Anlass für die Freude: In der sibirischen Stadt Tomsk, wo Aleksej Navalny angeblich vergiftet wurde, waren die Navalny-Anhänger, Ksenija Fadejewa und Andrej Fatejew, in das Stadtparlament gewählt geworden.
Niederlage von „Einiges Russland“ in drei Städten
Und nicht nur das. In drei Städten verlor die Kreml-nahe Partei „Einiges Russland“ die Mehrheit im Stadtrat. „Einiges Russland“ ist im Stadtrat von Tomsk nach dieser Wahl nur noch mit elf statt mit 25 Abgeordneten vertreten.
In Nowosibirsk, der drittgrößten Stadt Russlands, verlor Einiges Russland die absolute Mehrheit im Stadtrat und ist statt mit 28 nur noch mit 23 Abgeordneten vertreten. In den Stadtrat wurde der Navalny-Anhänger Sergej Bojko gewählt.
Die Navalny-Anhänger rechnen sich noch einen dritten Erfolg an. Bei den Wahlen zum Stadtparlament in der südöstlich von Moskau gelegenen Stadt Tambow errang die linksnationale Partei Rodina (Heimat) 25 von 36 Sitzen. Die Navalny-Anhänger hatten – gemäß ihrer Devise „klug wählen“ – zur Wahl von „Rodina“ aufgerufen.
Der Leiter der Partei Rodina, der Duma-Abgeordnete Aleksej Schurawljow, war außer sich über diese Unterstützung. „Daran zu denken, dass unsere Parteifreunde sich zeitweise mit offenen Feinden Russland solidarisieren, ist natürlich die Spitze der Idiotie. Und unsere Kandidaten brauchen nicht die Unterstützung des prowestlichen, liberalen Sumpfes.“
Navalny-Devise: „Hauptsache, das Machtmonopol brechen“
Die Navalny-Anhänger feierten die drei Niederlagen der „Einheitsrussen“ als Sieg ihrer Taktik „kluges Wählen“. Nach dieser Taktik ruft man zur Wahl von Kandidaten oder Parteien auf, die in der Lage sind, das Machtmonopol von Einiges Russland zu brechen. Wenn keine Navalny-Anhänger kandidieren oder nicht zur Wahl zugelassen wurden, wie in Tambow, dann ruft man zur Wahl von Kommunisten, Liberaldemokraten und Unabhängigen auf.
Doch ob der Wählerschwund von Einiges Russland in Tomsk und Nowosibirsk mit dem Navalny-Aufruf „klug zu wählen“ zusammenhängt, ist gar nicht bewiesen. Auch dass die Taktik bei den Duma-Wahlen 2021 zum Erfolg führt, darf bezweifelt werden. Denn bei den Duma-Wahlen geht es auch um außen- und verteidigungspolitische Fragen, wo Navalny nicht punkten kann.
Ohne die Linken können die Navalny-Anhänger politisch nichts ausrichten
Im Youtube-Kanal „Navalny live“ erklärte Navalny-Anhänger Wladimir Milow, man habe bei den Regionalwahlen sogar zur Wahl von Leuten aufgerufen, die für Novorossija, also eine Abspaltung der Ostukraine, sind. Einige dieser Leute – so erklärte Milow – seien sehr gute Kommunalpolitiker, da sie sich den „Mafia-Methoden“ der Partei Einiges Russland widersetzen.
Die Taktik, mit Linken und Kommunisten gegen Putin anzutreten, ist nicht neu. Sie wurde bereits 2006 von dem ehemaligen Schachweltmeister Garri Kasparow entwickelt, der damals die Organisation „Anderes Russland“ gründete und zusammen mit der „Linken Front“ Straßendemonstrationen unter dem Motto „Marsch der Nichteinverstandenen“ organisierte.
Schon damals erkannten führende Liberale, dass sie in den Weiten Russlands nicht verankert sind und ohne die Linken „gegen das Regime“ nichts zu machen ist. Einen Höhepunkt erlebte das Bündnis von Linken und Liberalen 2012, als es auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz nach mutmaßlichen Wahlfälschungen während der Duma-Wahl 2011 zu Großkundgebungen kam. Auf der Bühne standen alle Putin-Gegner traut vereint, liberale Schriftsteller, russische Nationalisten und Vertreter der „Linken Front“.
„Die Einheitsrussen sollen schaukeln“
„Wir müssen die Einheitsrussen vom Postament, vom Hocker stoßen, damit sie schaukeln“, erklärte Wladimir Milow während seiner Sendung im youtube-Kanal „Navalny Live“.
Die Bilder, die dieser Navalny-Anhänger benutzt, appellieren an niederste Instinkte. „Damit sie schaukeln“ – erinnert an Erhängte, denen man den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Erstaunlich, aber wahr: Wladimir Milow war 2002 fünf Monate lang stellvertretender russischer Energieminister. Er gehörte selbst zur Macht, die er jetzt mit übelstem Populismus bekämpft.
Die lange Wahlzeit von drei Tagen sei genutzt worden, um die Wahlergebnisse zu fälschen, meinte Wladimir Milow. Als Beweis ließ er in seiner Sendung drei Fotos aus Wahllokalen in Krasnodar, St. Petersburg und Rostow am Don einblenden. Die Fotos zeigten Safes, in denen die Wahlzettel aufbewahrt wurden. Bei allen drei Safes waren die Siegel verletzt. Die Safes seien aufgebrochen worden, erklärte Milow. In den Safes hätten sich die abgegebenen Wahlzettel vom Vortag befunden.
Milow wusste auch zu berichten, dass Mitarbeiter von Rüstungsbetrieben „unter Kontrolle“ in ihrem Betrieb wählen mussten. Einzelheiten konnte er nicht mitteilen.
Die Leiterin der Zentralen Wahlkommission, Ella Panfilowa, erklärte, es habe bei der Wahl keine ernsthaften Zwischenfälle gegeben. Es habe aber Fälle gegeben, „wo Journalisten selbst Fakes über Wahlfälschungen produziert haben“.
Kritik am Wahlverlauf auch von Linken
Heftige Kritik am Ablauf der Regionalwahlen kam nicht nur von Navalny-Anhängern, sondern auch von russischen Linken. Die Linken kritisierten, angesichts einer steigenden Unzufriedenheit über sinkende Einkommen sei es unmöglich, dass 13 von 18 Gouverneuren mehr als 70 Prozent der Stimmen und sechs Gouverneure sogar mehr als 80 Prozent der Stimmen bekommen haben.
Die Zeitung Kommersant machte auf die Merkwürdigkeit aufmerksam, dass im Gebiet Tambow der Gouverneur Aleksandr Nikitin – er ist Mitglied der Partei Einiges Russland – mit 79 Prozent der Stimmen gewählt wurde, Einiges Russland bei den Wahlen zum Stadtparlament von Tambow aber nur 23 Prozent der Stimmen erhielt und damit die absolute Mehrheit verlor. 25 von 36 Abgeordnetensitzen im Stadtparlament von Tambow gingen an die linksnationale Partei Rodina (Heimat).
Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) hatte ihre Anhänger dazu aufgerufen, nur am dritten Tag der Wahl die Stimme abzugeben. Dies wurde damit begründet, dass man nicht genug Wahlbeobachter habe, um den Wahlverlauf drei Tage lang zu überwachen.
Nach Ermittlungen der Wahlbeobachtungsorganisation Golos wählten 50 Prozent der Wähler am Freitag und Sonnabend. Der stellvertretende ZK-Vorsitzende der KPRF, Juri Afonin, erklärte gegenüber der Zeitung Kommersant, die Stimmen, die am Freitag und Sonnabend abgegeben wurden, seien eine „Fiktion“. Sie seien zustande gekommen, weil die Verwaltungen Wähler mobilisierten.
Der bekannte linke Wirtschaftswissenschaftler Michail Deljagin meinte, er habe „niemanden getroffen“, der die guten Ergebnisse von „Einiges Russland“ für echt hält.
Der Soziologe Boris Kagarlitzky erklärte, die Gouverneure hätten sich Wahlergebnisse von 80 Prozent „organisiert“. „Man kann ironisieren und sagen, je unpopulärer die Macht, desto höher sind ihre Wahlergebnisse.“ Man müsse feststellen, dass mit dieser Regionalwahl die Möglichkeiten für die „gemäßigte Opposition und sogar für die Oppositions-Parteien in der Duma, sich am politischen Leben zu beteiligen, beendet wurden.“
Latente Protestbereitschaft
Dass die Partei Einiges Russland in Nowosibirsk und Tomsk eine Niederlage einstecken musste, ist für die Navalny-Anhänger der erste Erfolg in der russischen Provinz. Diesen Erfolg wollen sie ausbauen. Doch die Chancen stehen nicht gut. Nach einer im Dezember 2019 durchgeführten Umfrage vom Lewada-Meinungsforschungsinstitut, dass vom Kreml unabhängig ist, werden bei der nächsten Präsidentschaftswahl nur zwei Prozent für Navalny stimmen, aber 53 Prozent für Putin.
Die aktive Protestbereitschaft der Russen ist nach wie vor gering, obwohl der Lebensstandard seit 2013 sinkt. Die Proteste in der sibirischen Stadt Chabarowsk, wo seit der Absetzung des Gouverneurs Sergej Furgal im Juli immer noch Demonstrationen gegen den „Willkürakt des Kreml“ stattfinden, haben in anderen Städten Russlands keine Nachahmer gefunden. Möglicherweise wirkt abschreckend, dass Massenunruhen in der Ukraine nicht zu mehr Wohlstand, sondern zu massiver Verarmung führten.
Allerdings gibt es eine latente Protestbereitschaft im Land. Laut einer im Juli durchgeführten Umfrage des vom Kreml unabhängigen Levada-Meinungsforschungsinstituts erklärten 65 Prozent der Befragten, sie würden „wahrscheinlich nicht“ an großen Demonstrationen gegen das Absinken des Lebensstandards teilnehmen. 29 Prozent der Befragten würden „wahrscheinlich teilnehmen“. 26 Prozent der Befragten verfolgen die Proteste in Chabarowsk „aufmerksam“. 84 Prozent haben von den Protesten in Chabarowsk gehört. Immerhin 45 Prozent derjenigen, die von den Protesten in Chabarowsk gehört haben, sagen, dass sie die Proteste „positiv“ beurteilen.
Anti-Korruptions-Kampf als Mittel zu einem anderen Zweck
Ohne eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Aleksej Navalny und seinen Anhängern wird der Kreml den selbsternannten Anti-Korruptions-Kämpfer nicht stoppen können. Putin hat zwar in den letzten drei Jahren zahlreiche Gouverneure und andere hohe Beamte wegen Korruption entlassen. Die Abschreckungswirkung war aber gering. Fast wöchentlich gibt es neue Korruptionsfälle hoher Beamter.
Solange Arbeit und Auskommen der Menschen gesichert sind, kann Navalny mit dem Thema Korruption kaum Punkte sammeln. Doch da die Einkommen der einfachen Russen seit 2013 sinken, fällt der Populismus des selbsternannten Anti-Korruptions-Kämpfers auf fruchtbaren Boden.
Viele, vor allem junge Russen, verstehen nicht, dass das Thema Korruption für Navalny nur ein Mittel zum Zweck ist. Ihm geht es um die Entmachtung der Partei Einiges Russland und den Sturz von Putin. Navalny fordert nicht kostenlose Bildung und Gesundheitsversorgung und eine Erhöhung der Steuern für Millionäre. So weit geht seine Volksnähe nicht.
Von Ulrich Heyden und Ute Weinmann erschien 2009 „Opposition gegen das System Putin. Herrschaft und Widerstand im modernen Russland“, Rotpunktverlag Zürich.
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