Am 17. September 2010, also vor zehn Jahren, erschien Wolfgang Herrndorfs Roman Tschick. Ich war im Herbst 2010 in einer Marburger Buchhandlung und hörte zufällig das Gespräch zwischen einem Buchhändler und einem Kunden mit. Der Buchhändler hatte Tschick von der Buchmesse mitgebracht und es sofort „verschlungen“, wie er sagte. Er sprach derart enthusiastisch von diesem Buch, dass ich mich anstecken ließ und wenig später mit einem Exemplar in der Hand zur Kasse schritt. „Gute Wahl“, sagte derselbe Buchhändler, „viel Spaß bei der Lektüre.“ Den hatte ich dann auch. Eine Hommage von Götz Eisenberg.
„Gute Jugend geht allemal den Melodien aus ihren Träumen und Büchern nach, hofft, sie zu finden, kennt das heiße, dunkle Irren durch Feld und Stadt, wartet auf die Freiheit, die vor ihr liegt.“
(Ernst Bloch)
Adriana Altaras sprach einmal im Fernsehen mit Peter Voß über Schullektüren, die häufig von den Schülern noch gar nicht verstanden werden könnten und ihnen deswegen die Lust am Lesen guter Bücher austrieben. Um die Leselust nicht weiter zu ersticken, sondern eher zu wecken, „sollte man Tschick lesen“, sagte sie. Und das war ein guter Hinweis. Ich habe das Buch in den Lesekreislauf des Gefängnisses eingespeist, in dem ich damals arbeitete. Es war ständig ausgeliehen, wurde oft unter der Hand weitergegeben und geriet mehrfach außer Kontrolle. Ich bat den Rowohlt-Verlag um Unterstützung und sie schickten uns mehrfach Pakete voller Exemplare von Tschick. Es galt in der Sprache der Gefangenen als „echter Kracher“, Begriffe wie „Vollpfosten“ wanderten aus dem Buch in den Sprachschatz der Gefangenen ein.
Wolfgang Herrndorfs Roman Tschick hat sich unterdessen in Deutschland millionenfach verkauft und erschien in 25 Ländern. Er hat seinem todkranken Autor, der lange Jahre von der Hand in den Mund gelebt hatte, zu einem späten Geldsegen verholfen, an dem er seine Freunde, die ihn getragen haben, teilhaben ließ. Es waren die Leser, die diesen Erfolg möglich gemacht haben, nicht die Werbung, nicht die Kritik, die das Buch zunächst ignorierte. „Drei Wochen ist ‚Tschick‘ raus, und in keiner Buchmessenbeilage und keiner Zeitung“, notierte Herrndorf ein wenig enttäuscht im Oktober 2010 in sein Tagebuch. Unterdessen ist Tschick von Fatih Akin verfilmt worden, zahlreiche Theater brachten Bühnenfassungen heraus und spielten diese oft über Jahre vor vollen Rängen. Die Verfilmung kann als gelungen gelten, ist aber kein Ersatz für die Lektüre des Buches. Die Lektüre gebiert ihre eigenen Bilder und lässt je eigene Filme entstehen, deren Regisseure wir selber sind. Insofern ist der Film zugleich ein Verlust an eigener Phantasietätigkeit. Das Mädchen Isa ist die anarchischste Figur im Buch und greift mächtig in die Phantasie der Jungs und auch der Leserinnen und Leser. Im Film ist sie eine Nummer zu glatt und hübsch. Es geht nichts über das eigene Kopfkino! Vor allem ist mir ein vages Gefühl in Erinnerung geblieben: Der Film kann der Versuchung nicht widerstehen, das rare Glück der Nicht-Sexualität, das die Akteure im Roman umgibt, in Sexualität zu überführen. Die Hauptfiguren leben (noch) in einem Zustand der fließenden und neugierigen Unentschiedenheit. Alles ist noch unfixiert wie Quecksilber. Aus der ungerichteten und prinzipienlosen Lustsuche der Kindheit wird irgendwann erwachsene Sexualität. „König Sex“, wie Michel Foucault das genannt hat, besteigt den Thron, und es gibt plötzlich nichts Harmloses mehr. Der Roman bewegt sich im Stadium der Sehnsucht, die in alle Richtungen gehen kann. Genau darin besteht sein großer Reiz.
Auch an der Schule ist Tschick angekommen und wird per Lehrplan den Schülern aufs Auge gedrückt und von oben als Pflichtlektüre verabreicht. Ein schwerer Schlag für ein Buch und normalerweise der Garant dafür, dass ein Buch seine Sprengkraft einbüßt und zum Klassiker entschärft wird. Tschick hat das Zeug dazu, diesem Schicksal zu entgehen und seine Strahlkraft auf Schüler und Jugendliche zu behalten. „Eigentlich hasse ich es, Bücher zu lesen“, schrieb eine Schülerin an Herrndorf, „aber das hier hat mir Spaß gemacht. Das ist das Beste, was ich gelesen habe, aber ich habe eh nur 2 gelesen. Das andere war aber scheiße.“ Es muss also etwas Besonderes dran sein an diesem Buch. Was ist das Geheimnis der Faszination, die von Tschick ausgeht? Oder vorsichtiger: Worin könnte das Geheimnis bestehen? Der Roman führt uns vor Augen: Nur als Außenseiter kann man Erfahrungen machen, die der Mühe wert sind. Nur außerhalb, jenseits oder unterhalb der Normalität der bürgerlichen Lebensordnung, nur wenn man sich der Normalität verweigert, kann sich Lebendigkeit entfalten. Der Roman verhält sich den verqueren Lebensäußerungen der beiden Hauptfiguren gegenüber gänzlich unpädagogisch, folgt ihnen einfach und beschreibt, was ihnen auf ihrer Reise begegnet. Tschick zeigt: Freiheit beginnt mit der Bereitschaft, Chancen zu nutzen, Winke der Götter wahrzunehmen und auf sie einzugehen. Die Abenteuer finden nicht zu Hause in der elterlichen Villa oder auf der Party von Tatjana Cosic statt, sondern gleich hinter der nächsten Ecke und auf der Reise in die Walachei, in einem geklauten Lada und auf der Müllkippe – im gesellschaftlichen Abseits. Dort trifft man auf ein Mädchen wie Isa, die zwar nicht so gut riecht und aussieht wie Tatjana, dafür aber Sachen weiß, von denen die beiden Jungs keine Ahnung haben und die für ein Leben an den Rändern wichtig sind. Man sieht: Die Reise in einem geklauten Lada und der Besuch einer Müllkippe beleben den Blick von unten und weiten den Horizont. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass man sein Handy wegschmeißt. Viele Jugendliche balancieren auf dem schmalen Grat zwischen Abenteuer und Delikt. Dazu, dass die meisten von ihnen nicht dauerhaft auf die Seite der Delinquenz abstürzen, tragen Bücher wie Tschick das Ihre bei, weil sie sich den schweifenden jugendlichen Suchbewegungen gegenüber nicht mit erhobenem Zeigefinger nähern.
Eine meiner Lieblingspassagen in Tschick ist folgende: Der „Russe“ Tschichatschow, genannt Tschick, wird vom Deutschlehrer aufgefordert, seine Interpretation einer berühmten Keuner-Geschichte von Brecht vorzutragen. „Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: ‚Sie haben sich gar nicht verändert.‘ ‚Oh!‘ sagte Herr K. und erbleichte.“ Der Lehrer war fest davon überzeugt, dass nun nichts käme, aber weit gefehlt. Tschick kramt sein Heft hervor und beginnt zu lesen. Tschicks Interpretation soll hier nicht verraten werden, aber sie ist derart originell, dass ich sie bis heute nicht vergessen habe. Sie sprengt den Rahmen braver germanistischer und kulturkritischer Deutungen.
Gegenwärtig fällt auf Kindheit und Jugend der Kälteschatten einer forcierten Leistungskonkurrenz. Das Rattenrennen um bessere Chancen am schrumpfenden Arbeitsmarkt beginnt bereits im Kindergarten und in der Grundschule und wird mit dem Turbo-Abitur und den reformierten Studiengängen an der Universität fortgesetzt. Die Spielräume für kindlich-jugendliches Probehandeln schwinden. Jugend wird an die Leine der Nützlichkeit gelegt und so zu etwas, das junge Leute selten haben. Die Träume nach vorwärts werden von den Smartphones und Facebook in Beschlag genommen und so ins herrschende System zurückbetrogen. Dennoch bildet sich unterhalb der Anpassung ein Schwarzmarkt von Sehnsuchts- und Ausbruchsphantasien. Die jugendliche Faszination von dem Roman Tschick wird von diesen Phantasien genährt.
Das mit der Verweigerung der Normalität gilt übrigens auch für die Linke und deren Vorstellung, erst müsse Ordnung herrschen, bevor Revolution sein darf. Herbert Marcuse hat daran erinnert: „Eine Revolution, die nicht ein wenig Abenteuerlichkeit enthält, ist nichts wert. Alles andere ist Ordnung, Gewerkschaft, Sozialdemokratie, Establishment. Das Abenteuer geht immer darüber hinaus.“ Nur wenn das Projekt der Veränderung der Gesellschaft wieder etwas Abenteuerliches bekommt wie bei Max Hoelz, B. Traven oder Che Guevara, werden wir Menschen hinter dem Ofen hervorlocken und für das Projekt der Veränderung der Gesellschaft gewinnen und begeistern können.
Die Faszination bei den zahlreichen erwachsenen Lesern von Tschick mag daher rühren, dass wir uns an eigene pubertäre Such- und Fluchtbewegungen erinnert fühlen. Allzu viel ist uns auf dem Weg ins Erwachsenenalter abgestorben. Erwachsenwerden bedeutet in dieser Kultur, dass wir das Kind in uns zum Verschwinden bringen und uns auf eine Identität festlegen müssen. „Eines Tages schwindet unser Vertrauen in das Verschiedene, das wir sind; das offene Gelände, unser Atlantis, versinkt“, schrieb Peter Brückner in seinem autobiographischen Buch Das Abseits als sicherer Ort. Die Verregelung der Sinne geht mit ihrer Reduzierung auf den einen Sinn des Habens einher, der typischen Deformation in der warenerzeugenden Gesellschaft. Kapitalismus funktioniert nur, weil er das Habenwollen als Ersatzbefriedigung für all die Sachen kultiviert, die wir uns eigentlich wünschen: Nähe zu und Solidarität mit den anderen, eine sinnhafte Tätigkeit und die Gelegenheit, sich weiterzuentwickeln und zu wachsen. Tschick erinnert uns unaufdringlich an Zeiten, da der Horizont weit und unsere Zukunft offen war.
„Wolfgang Herrndorf hat sich am Montag, den 26. August 2013 gegen 23.15 Uhr am Ufer des Hohenzollernkanals erschossen.“ So lautet der letzte Eintrag in seinem Tagebuch „Arbeit und Struktur“. Dort hatte er am 17. 9. 2011 18:29 notiert: „Ich schlafe mit der Waffe in der Faust, ein sicherer Halt, als habe jemand einen Griff an die Realität geschraubt.“ Ein Jammer, dass wir diesen begnadeten Autor so früh verloren haben.
Götz Eisenberg veröffentlicht fortlaufend Texte, die unter dem Titel Durchhalteprosa bei der GEW Ansbach erscheinen.
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