Bleibt Ostdeutschland ein Niedriglohnland?

Ein Artikel von Karl Mai

Ostdeutschland ist auch im 20. Jahr der Vereinigung als generelles Niedriglohngebiet einzuordnen, wie die jüngsten Daten der Bundesstatistik zeigen. Zwar gibt es im Westen auch regionale bzw. branchentypische Niedriglöhne, aber die faktischen und tariflichen Unterschiede sind im Durchschnitt in den neuen Bundesländern (NBL) am stärksten ausgeprägt. Die Rangfolge der ostdeutschen Bundesländer in den effektiven Brutto-Stundenlöhnen offenbart eine dramatische Bilanz nach zwanzig Jahren bundesdeutscher Lohn- und Einkommensentwicklung. Von Karl Mai

Tabelle: Brutto-Stundenlöhne in den NBL (in Euro)

Bundesland: (in Euro) Deutschland=100
Brandenburg 15,62 80,5
Sachsen 15,08 77,9
Mecklenburg-V. 14,83 76,4
Thüringen 14,83 76,4
Sachsen-Anhalt 14,62 75,3
Deutschland 19,41 100
Nur Info: Berlin 18,74 96,5

(Quelle: Nach „Mitteldeutsche Zeitung“ vom 12.08.2010, S. 1 nach Daten der Bundesstatistik)

Hierin spiegeln sich u. a. die tariflichen Abstufungen der Normalarbeitsverhältnisse sowie die „prekären Arbeitsverhältnisse“ (befristete und Billiglohnarbeit, Zeitarbeit).

Das Schlusslicht der gesamt- und ostdeutschen Entwicklung bildet Sachsen-Anhalt, was auch durch die weiter stark rückläufige Wohnbevölkerung infolge Abwanderung verständlicher wird. Hier wurden in der Zeitarbeitsbranche Lohnhöhen von 6 bis 6,50 Euro etabliert

Wie ist der Hintergrund dieser Entwicklung? Ist er weitgehend krisenabhängig oder strukturell bestimmt? Wie war im Jahre 2009 die Lage der Industrie und auf dem Arbeitsmarkt?
Wie sieht man in der Forschung die Ausgangslage für eine weitere Angleichung Ost an West?

Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) hat jetzt umfangreiche Daten in einem aktuellen „Konjunkturbericht“ für die Neuen Bundesländer (ohne Berlin) vorgelegt, die vor allem wegen der Rückschau und der Erwartungen hinsichtlich des „20. Jahrestages der Vereinigung“ von Interesse sind. [1] Hierzu eine knappe Auswahl zum erreichten Stand im Jahre 2009.

Die konjunkturellen Rückschläge der ostdeutschen Wirtschaft im Durchschnitt des Jahres 2009 waren mit -3,5 % des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) zwar geringer als in den alten Bundesländern mit -5,2%. Dennoch war damit „der innerhalb von drei Kalenderjahren im vergangenen Aufschwung erzielte Zuwachs verloren, und die Wirtschaft befand sich im Tiefpunkt der Krise auf dem Stand von Ende 2005.“ (S. 298; 320)
Damit ist klar: in den Jahren 2006 bis 2009 gab es kumulativ kein reales Wirtschaftswachstum in den NBL: Zuwächse und Rückschläge gleichen sich aus.

Am stärksten brachen 2009 die Bruttowertschöpfungen (BWS) der NBL im Verarbeitenden Gewerbe und im Bergbau (einschl. Steine und Erden) ein, die um -15,0% bzw. -17,5% zurück fielen und damit zum gesamten Rückgang der realen BWS von -4,2% wesentlich beitrugen. (S. 326) Bemerkenswert ist der Rückschlag im Bergbau (einschl. Steine und Erden), weil er hier schon an einen 2008 vorangegangenen Einbruch von -32,0% anknüpfte und danach weiter nahtlos um 17,5% absank.

Tabelle: Umsatzveränderungen der ostdeutschen Industrie nach Absatzrichtungen in Prozent gegenüber dem Vorjahr

  2007 2008 2009
Inland 9,4 4,7 -12,9
Ausland 13,7 2,1 -19,5
Gesamt 11,2 3,9 -14,9

(Quelle: IWH, WiWa, Heft 7/2010, S. 314 (Auszug))

Danach ging der Export ins Ausland mit ca. -1/5 stärker zurück als der Umsatz im Inland. Der Rückgang des Exports ins Ausland erwies sich 2009 größer als der Zuwachs in den beiden Vorjahren zusammengenommen.

Über die Gründe für die vergleichsweise zu Westdeutschland geringeren konjunkturellen Einbußen der NBL sagt das IWH aus:

„Anders als für die Industrieunternehmen in Westdeutschland, die fast durchweg am stärksten unter der Konjunkturschwäche im Ausland litten, war für die Stärke des Rückschlages in Ostdeutschland in einigen strukturbestimmenden Branchen der Nachfrageeinbruch in Deutschland ausschlaggebend … Mit der Ausrichtung auf den Inlandsmarkt … konnte damit der Kriseneinbruch in den Neuen Bundesländern nicht vermieden werden, da die Übertragung konjunktureller Schocks infolge der überregionalen Produktionsverflechtungen über die innerdeutschen Grenzen wirkte.“ (S. 314)

Dies wirkte sich z. B. in folgenden Brachen besonders aus: Rückgang im Jahre 2009 gegenüber dem Vorjahr in Prozent der Produktion (NBL mit Berlin):
Maschinenbau -31,6%, Elektrische Ausrüstungen -19,4%, Textilindustrie -17,0%, Kraftfahrzeugbau -14,7%, Metallindustrie -13,8%, Chemische Industrie – 11,6%.
Der Export der ostdeutschen Industrie sank 2009 um -19,5% und damit auf ein niedrigeres Niveau als 2007.

Während das „Produzierende Gewerbe“ und die gewerblichen Dienstleistungsbereiche fast durchweg Rückschläge zu verzeichnen hatten, bildeten die „Häuslichen Dienste“ mit +5,6% Zuwachs der BWS eine auffällige Ausnahme.
Der „Private Konsum“ stieg gleichfalls wieder geringfügig an (+0,1%), nachdem er in den Jahren 2007 und 2008 um -1,5% abgesunken war.

Die Bruttoinvestitionen in „Neue Ausrüstungen“ gingen 2009 um -13.5% zurück, womit der in den Jahren 2007 und 2008 erreichte Zuwachs wieder aufgehoben wurde. Absolut fielen die Bruttoinvestitionen bei den „Neuen Ausrüstungen“ sogar vor den Stand des Jahres 2006 zurück.
Die „neuen Ausrüstungen“ an den gesamten Investitionen fielen demgemäß im Jahre 2009 auf anteilig 8,3% und erreichten damit einen relativen Tiefpunkt in der Entwicklung seit dem Jahre 2004. (S. 327; lfd. Preise)
Das IWH schlussfolgert: „Alles in allem besteht nach wie vor eine Investitionslücke gegenüber den Alten Bundesländern.“ (S. 305)
Diese Investitionslücke lässt für die nächsten Jahre nicht erwarten, dass sich das Wachstumstempo der NBL dem der ABL ausreichend annähert.

Die Lohnstückkosten der NBL stiegen im Jahre 2009 immerhin um +12,0 % im „Verarbeitenden Gewerbe“ an, bei allen Unternehmen nur um +5,6%. (S. 310) Damit verschlechterte sich die Rentabilität in der Wirtschaft spürbar, wodurch auch die originären Steuereinnahmen rückläufig werden mussten. Bereits im Jahre 2008, d. h. mit Beginn der Krise, war die Kapitalproduktivität um -1,2% zurückgegangen. (S. 301) (Daten für 2009 liegen nicht vor.)

Obwohl die gesamte Inlandsverwendung des BIP im Jahre 2009 gegenüber 2008 um -1,4% zurückging, stieg ihr Anteil am BIP in diesem Zeitraum um +2,2% an – eine Folge des fast gleich hoch bleibenden „Privaten Konsums“ und leicht ansteigenden Staatskonsums von +0,5% bei rückläufigem BIP-Wachstums. Die zwangsläufige negative Kompensation trugen die gesamten „Anlageninvestitionen“ (einschl. Bau) mit einem -7,8%gen Rückgang.

Die Bevölkerung der NBL (ohne Berlin) ging im Jahre 2009 um -108 Tausend Personen zurück, darunter Erwerbsfähige um -174 Tausend, während die Personen im Rentenalter um +44 Tausend zunahmen. Das Arbeitskräftepotenzial sank um -122 Tausend Personen.
Die Zahl der Erwerbstätigen sank 2009 um -26 Tausend, darunter die Zahl der Arbeitnehmer um -21 Tausend. Das geleistete Arbeitsvolumen fiel 2009 um -230 Mio. Stunden oder auf 97,29 % gegenüber dem Vorjahr. In Unterbeschäftigung verharrten 1,2 Mio. Personen.
Die Zahl der Selbständigen (und mithelfenden Familienangehörigen) verringerte sich um –5 Tausend im Jahre 2009.

„Im Krisenjahre 2009 hat sich das Leistungsbilanzdefizit Ostdeutschlands nach 14 Jahren Rückgang in Folge vorübergehend erhöht. Die Produktion war kräftiger gesunken als die Binnennachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern zusammengenommen.“ (S. 325) Die Masseneinkommen hatten sich 2009 um 1,8% erhöht, darunter die Monetären Sozialleistungen um 4,6%. Die Bruttolöhne und -gehälter stagnierten nominell. (S. 308)
Die Krise brachte für die NBL eine konjunkturelle Erhöhung des regionalen Leistungsbilanzdefizits und damit einen Rückschlag in der Transferabhängigkeit.

Die Pro-Kopf-Größen im Ost-West-Vergleich lagen 2009 beim BIP pro Einwohner mit 70,5% des Westniveaus, beim BIP je Erwerbstätigen mit 79,7% und beim BIP je Arbeitsstunde mit 76,6% deutlich zurück. „Der Rückstand des Ostens beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf verharrt bei knapp 30%,“ kommentiert das IWH abschließend. (S. 325)

Die krisenbehaftete Bilanz der NBL vor dem 20. Jahr der Vereinigung kann nicht schön gerechnet werden, um der Politik zu schmeicheln. „Das schwächere Produktionswachstum im Osten bremst jedoch zunächst die weitere Annäherung der Pro-Kopf-Größen an das Westniveau… Die Wachstumsschwäche wird auch nicht aufgewogen von der stärker sinkenden Einwohnerzahl im Osten“, resümiert das IWH. (Hervorhebung von K.M.)

Literatur:

IWH-Konjunkturbericht, „Wirtschaft im Wandel“, Heft 7/2010
www.iwh-halle.de


[«1] Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), „Wirtschaft im Wandel“, Heft 7/2010

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