Mit dem historischen Corona-Rettungspaket der Bundesregierung vom Mai sollen mit über 1,1 Billionen Euro Menschen und Unternehmen vor den Auswirkungen der Pandemie geschützt werden, „insbesondere … große Unternehmen“. Auch die TUI AG, der größte Touristikkonzern der Welt, erhält Milliarden an Staatshilfen und streicht als Dankeschön Tausende Stellen. Der heutige TUI-Konzern hieß vor 2002 noch Preussag und stellte als deutsches Industrie-Urgestein etwa Splitterbomben für die Nazis her – und baute in den 1980ern die irakischen Giftgaskapazitäten auf. Wollen wir anno 2020 wirklich einen Konzern retten, der eine Mitschuld trägt an Saddams mörderischem Giftgas-Genozid in Irakisch-Kurdistan vor 30 Jahren? Von Jakob Reimann.
Ende Mai stellte die Bundesregierung der Öffentlichkeit ihr Corona-Rettungspaket vor, „das größte Hilfspaket in der Geschichte der Bundesrepublik“, wie es auf den Seiten des Bundesfinanzministeriums heißt. Insgesamt betragen die „haushaltswirksamen Maßnahmen“ 353,3 Milliarden Euro sowie weitere 819,7 Milliarden Euro an Garantien – 1,173 Billionen Euro also, um Beschäftigte, Selbstständige und Unternehmen zu retten. „Die Bundesregierung geht entschlossen, kraftvoll und zielgerichtet voran, um Deutschland zu schützen“, hieß es. Zur Finanzierung werden neue Kredite in Höhe von rund 156 Milliarden Euro aufgenommen – der Heilige Gral namens Schwarze Null ist passé.
Leere Worte der Bundesregierung
Das historische Maßnahmenpaket enthielt Pöstchen zur Unterstützung etwa von Familien, Krankenhäusern, Ärztinnen und Ärzten, Kulturschaffenden sowie ein 50-Milliarden-Soforthilfepaket für kleine Unternehmen, Selbstständige und Freiberufler. Doch der Löwenanteil des historischen Rettungspakets verbirgt sich im zweiten Teil des Programms, jenem zur Rettung von Unternehmen, „insbesondere … große Unternehmen“: 100 Milliarden Euro an direkten Krediten für notleidende Unternehmen wurden lockergemacht, weitere 100 Milliarden für Beteiligungen an KfW-Programmen und noch einmal 400 Milliarden mehr für Unternehmensbürgschaften. Kritikerinnen und Kritiker warnten als Folge der staatlichen Unternehmensrettungen bereits vor zu viel – oder überhaupt irgendwelchen – staatlichen Eingriffen in die Unternehmenspolitik, während besonders markthörige Stimmen gar das „weitere Abgleiten in planwirtschaftliche Strukturen“ drohen sahen, samt „weiteren Einschränkungen … wie sie den ehemaligen sozialistischen Planwirtschaften inhärent waren“.
Zwar hatte Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) anfangs noch gedroht, der Staat werde Unternehmen notfalls teilweise oder ganz übernehmen, doch blieb wie zu erwarten der Einfluss des Staates auf gerettete Unternehmen überschaubar. So konnte die Bundesregierung etwa nach langem Hin und Her bei der Lufthansa-Rettung und einem stolzen Rettungspaket in Höhe von neun Milliarden Euro Deutschlands größter Airline gerade einmal ein paar Start- und Landezeiten in Frankfurt und München abringen, um sie an Konkurrenten zu verteilen – kaum mehr als ein „Feigenblatt-Eingriff“. Es wäre anmaßend zu behaupten, die Merkel-Regierung hätte auch nur ein zaghaftes Interesse daran, die Rettung von Unternehmen, deren Geschäftsmodelle bekanntlich auf der Zerstörung der Umwelt fußen, etwa an umweltpolitische oder gar arbeitsrechtliche Auflagen zu knüpfen. Als Dankeschön für die steuergeldliche Rettung wird Lufthansa die Belegschaft um bis zu 20 Prozent reduzieren und der verbleibenden die Gehälter um bis zu 45 Prozent zusammenstreichen. Anfang Juli sahen wir im Imbiss am Brandenburger Tor sitzend Tausende Pilotinnen und Flugbegleiter lautstark auf der UFO-Demo an uns vorbeiziehen – doch zugehört wurde ihnen nicht.
Gewinne werden privatisiert, Verluste sozialisiert
Uns soll im Folgenden die Rettung der TUI AG interessieren – dem größten Touristikkonzern der Welt mit einer Belegschaft von rund 70.000 Mitarbeitern, 10.000 davon in Deutschland, und einem Jahresumsatz von rund 19 Milliarden Euro (Geschäftsjahr 2018/2019). Aufgrund des Corona-bedingten Lockdowns brachen TUI wie mehr oder weniger der gesamten Touristikbranche weltweit die Einnahmen weg und der Konzern erhielt im April die erste staatliche Rettung in Höhe von 1,8 Milliarden Euro. Ungeachtet dieser Finanzspritze verkündete der Vorstand kurze Zeit später, weltweit 8.000 Stellen zu streichen, in Deutschland wurden große Teile der Belegschaft in Kurzarbeit geschickt. Mitte August dann die Ankündigung, dass weitere 1,2 Milliarden Euro an Staatshilfen fließen werden, die sich damit auf stolze drei Milliarden summieren. Doch die Lage der Belegschaft bleibt weiter düster: Die 8.000 Stellen werden trotzdem gestrichen, auch werden einige Standorte der TUIfly geschlossen, wodurch die Streichung weiterer 900 Vollzeitstellen droht.
Kritik am TUI-Vorstand kommt vollkommen zu recht vonseiten der Gewerkschaften. Während TUI in den Boom-Jahren darauf verzichtete, in Antizipation der nächsten Krise ausreichend Rücklagen zu bilden, wurden alljährlich saftige Dividenden an Aktionäre ausgeschüttet: allein in den letzten vier Jahren insgesamt 1,71 Milliarden Euro (vom Autor berechnet nach den Jahresabschlussberichten 2016, 2017, 2018, und 2019). Wie schon der alte Bärtige aus Trier wusste, erleben wir bei TUI einmal mehr das klassische Motiv des Kapitalismus in Reinstform: Gewinne werden privatisiert, Verluste sozialisiert.
Doch ich will hier noch auf etwas anderes hinaus. Denn TUI ist mir vor Jahren bei Recherchen zu einem gänzlich anderen Thema ins Visier geraten.
Saddams Giftgas-Genozid in Kurdistan
Zwischen 1980 und 1988 wütete zwischen Irak und Iran der Erste Golfkrieg – der opferreichste Krieg zwischen zwei Entwicklungsländern aller Zeiten, mit einigen Hunderttausend bis weit über einer Million Toten, etwa Dreiviertel davon auf iranischer Seite. Saddam nutzte den Krieg, um parallel auch die Rebellion der Kurdinnen und Kurden im Nordirak niederzuschlagen. Dieser als Genozid eingestufte Krieg gegen die eigene Bevölkerung gipfelte 1987/88 in der mörderischen Al-Anfal-Kampagne, der laut Human Rights Watch bis zu 100.000 Menschen zum Opfer fielen, während kurdische Behörden die Zahl von 182.000 Opfern nennen. Im Zuge der „Arabisierung Kurdistans“ tilgte Saddam insgesamt 90 Prozent aller kurdischen Dörfer von der Landkarte, 4.000 an der Zahl, und setzte bei seinen ethnischen Säuberungen oftmals international geächtetes Giftgas ein. Am 16. März 1988 verübte Saddams Armee in Halabja an der irakisch-iranischen Grenze das bis zum heutigen Tage verheerendste Giftgasmassaker an Zivilisten in der Geschichte: Bis zu 5.000 Menschen starben direkt am Gas, bis zu 10.000 wurden verletzt, Dreiviertel der Opfer waren Frauen und Kinder, Tausende weitere starben an Folgekrankheiten, Neugeborene erlitten schwerste Missbildungen.
Zwar war die irakische Wirtschaft unter Saddam streitbar die fortschrittlichste in der arabischen Welt, doch fehlte auch hier zunächst das technische Knowhow zur unabhängigen Produktion der eingesetzten Giftgase. 1975 beauftragte Bagdad die US-amerikanische Chemieingenieursfirma Pfaudler Inc. mit der Errichtung eines fortschrittlichen Pestizidwerks, um im „biblischen Garten Eden“ die Nahrungsmittelproduktion anzukurbeln, so das irakische Narrativ damals. Pfaudler lieferte zwar die Baupläne für das geplante Werk, doch riefen die nachträglich geforderten Spezifikationen vonseiten der irakischen Chemiker große Skepsis bei den Ingenieuren hervor: Die Anlage sollte derart ausgelegt werden, dass insgesamt 1.200 Tonnen vier äußerst potenter „Pestizide“ produziert werden könnten; darunter auch das Nervengift Amiton, das in etwa so tödlich ist wie Sarin und das den Vorläufer zweier vielfach potenterer Kampfstoffe darstellt: des britischen VX sowie der russischen Nowitschoks. Den Pfaudler-Vertretern wurde die Sache zu heiß und sie ließen das Geschäft platzen; ebenso ein Jahr später die britische Imperial Chemical Industries und eine ungenannte italienische Firma.
Anders die deutsche Chemieindustrie mit ihrer langen und tödlichen Giftgaserfahrung – mit den Elendsgräben im Ersten und den Kammern der Nazis im Zweiten Weltkrieg als barbarischste Eckpfeiler ihrer Historie. Nein, die deutsche Industrie hatte nie Skrupel.
Deutsche Firmen bauen Saddams Chemiewaffen
Das irakische Chemiewaffenprogramm hatte den Decknamen „Project 922“ und nahm in den frühen 1980ern in einem 150 Quadratkilometer großen Wüstenareal 60 Kilometer nordwestlich von Bagdad seine großindustrielle Produktion auf. Bis 1981 wurde zunächst Senfgas produziert, ab 1984 dann auch Nervengifte wie Tabun und Sarin und ab 1986 das extrem tödliche VX. 2004 deklassifizierte die CIA einen Bericht zum Project 922, in dem heißt es: „Westdeutsche Unternehmen kontrollierten unter Zuhilfenahme ostdeutscher Baupläne die Errichtung der damals modernsten und am besten designten Chemiewaffenanlage der Welt“. Saddam genau wie die deutschen Firmen deklarierten die Anlagen zwar stets als Pestizidfabriken, doch hält der CIA-Bericht unzweideutig fest, dass deren „einziger Zweck die sichere, effiziente Massenproduktion von chemisch-biologischen Waffen“ war.
Um dem drohenden Überfall der USA und Großbritanniens doch noch zu entgehen, veröffentlichte die irakische Regierung 2002 einen umfassenden Bericht, in dem sie sämtliche Informationen über ihr einstiges Chemiewaffenprogramm offenlegte. In dem beschämenden 12.000-Seiten-Bericht ist insgesamt die Rede von 150 ausländischen Firmen, die ab 1975 in den Aufbau der irakischen Massenvernichtungswaffen involviert waren. Darunter finden sich einige Schweizer Firmen, chinesische, singapurische, spanische, italienische, niederländische, zehn französische und 24 US-amerikanische – doch mit 86 Firmen steht Deutschland „unangefochten an Platz eins der Waffenlieferanten“, wie der SPIEGEL damals schrieb. Einige weltweit renommierte deutsche Firmen, die demnach am Aufbau der irakischen Giftgaskapazitäten beteiligt waren, sind unter anderem Hoechst (heute Teil von Sanofi-Aventis), Schott Glas und der Stahlproduzent Klöckner. Doch waren es maßgeblich drei deutsche Konzerne, die Saddams Giftgasfabriken in die irakische Wüste setzten: die Baufirma Heberger, der Laborausrüster Karl Kolb GmbH sowie der Mischkonzern Preussag AG.
30 Jahre nach dem Halabja-Massaker reichten 2018 Überlebende – vertreten durch ein internationales Anwaltsteam, geführt von der US-amerikanischen Kanzlei MM~Law LLC – beim Zivilgericht in Halabja Klage ein. In der Klageschrift geht es nicht um die politisch Verantwortlichen, sondern um die Verantwortung der Konzerne und ihrer Führungsriegen, allen voran die der deutschen Konzerne – und allen voran Preussag, gegen die die Vorwürfe in der 84-seitigen Schrift akribisch aufgelistet werden. So soll Preussag, neben Planung und Einrichtung der Labore und der jahrelangen Lieferung wichtiger Grundchemikalien, den juristischen Kopf von Saddams Chemiewaffenprogramm als firmeneigenen Rechtsberater angestellt haben. Nachdem die Bundesregierung 1984 auf Druck der USA chemisch-industrielle Ausfuhren in den Irak stärker regulierte, soll sich Preussag weiter der aktiven Verschwörung mit dem Saddam-Regime schuldig gemacht haben, indem es zur Umgehung der Exportregularien ein europaweites Liefernetzwerk aus Strohfirmen aufbaute oder systematisch Exportdokumente frisierte: So verbargen sich etwa hinter einer Lieferung von „Feuerlöschern“ Bombenhülsen zur Befüllung mit Senf- oder Nervengas.
Der gewiss verstörendste Punkt der Halabja-Anklageschrift: Die beiden Firmen Heberger und Karl Kolb sollen in der Samarra-Forschungsstätte zwei sogenannte „Inhalationskammern“ eingerichtet haben, in der „Giftgas zunächst an Hunden, dann Eseln und schließlich an iranischen Kriegsgefangenen getestet“ wurde. Und Preussag soll dafür die passenden Verbrennungsöfen bereitgestellt haben, „für Tierkadaver bis zur Größe eines Esels“, so hieß es. Gaskammern und Verbrennungsöfen für Tierkadaver in einer Pestizidfabrik also – die Bundesregierung und die Köpfe der deutschen Industrie stellten sich dumm und wollten von nichts gewusst haben, während der SPIEGEL 1992 den deutschen Ingenieur Fritz-Willi Dörflein zitierte, der 1983 in der Muthanna-Fabrik vor Ort war: „Jeder hat gewußt, um was es ging.“ Auf die Frage, was in der Fabrik denn produziert würde, hat laut Dörflein ein irakischer Arbeiter geantwortet: „Wir stellen Mittel gegen Ungeziefer her – gegen Wanzen, Flöhe, Heuschrecken, Perser, Israelis.“
TUI und das Giftgas
Der Traditionskonzern Preussag – die deutsche Speerspitze bei der Errichtung von Saddams Chemiewaffenprogramm – wurde in den 1920ern gegründet und verdingte sich in unterschiedlichsten Branchen, etwa mit Ölbohrungen, Schiffsbau, Stahl, Uranabbau oder auch mit Splitterbomben und Granathülsen für die Nazis. Laut Firmenprofil war Preussag in den frühen 1990ern einer der drei größten Metallfirmen der Welt und der drittgrößte deutsche Konzern überhaupt. Doch Ende der 1990er änderte Preussag seine Konzernausrichtung und schluckte eine Vielzahl europäischer Touristikunternehmen wie Hapag Lloyd oder die britische Thomson Travel Group und wurde so zum größten Touristikkonzern Europas, später der Welt. 2002 folgten dann schließlich die Auflösung des Traditionsnamens und die Umbenennung in eines der akquirierten Fundstücke. Sie ahnen es: TUI.
Ein Schelm, der einen Zusammenhang konstruieren wollte, dass das Abstreifen des Alten und die Umbenennung zum Neuen 2002 just in dem Jahr erfolgten, als sich der Überfall auf den Irak ankündigte und die ganze TUI-Saddam-Connection dem Konzern um die Ohren zu fliegen drohte. So sprechen etwa auch die Halabja-Überlebenden in ihrer oben erwähnten Klage beim Halabja-Zivilgericht konsequent von TUI, nicht von Preussag, um so keinen Zweifel an der Kontinuität der Konzernstrukturen aufkommen zu lassen.
Und so wurde Preussag innerhalb weniger Jahre vom Industrieriesen, der Bomben für die Nazis und Giftgas für Saddam herstellte, zum größten Touristikkonzern der Welt. Vom „schwerindustriellen Arm des NS-Apparates“, wie die Alliierten Preussag bezeichneten, zum Reiseunternehmen mit dem roten Smiley-Logo – und der Konzern mit seiner blutverschmierten Vergangenheit wird heute mit drei Milliarden Euro Steuergeldern vor dem Ruin gerettet. Manche Geschichten sind so absurd, dass nur der vollständig moralbefreite Kapitalismus sie schreiben kann.
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