Corona und die Einsamkeit in den Pflegeheimen – ein lesenswerter Brief

Corona und die Einsamkeit in den Pflegeheimen – ein lesenswerter Brief

Corona und die Einsamkeit in den Pflegeheimen – ein lesenswerter Brief

Ein Artikel von: Redaktion

Am vergangenen Sonntag erinnerte Albrecht Müller in seinem Artikel „Der Corona-Tod ist ein einsamer Tod” anlässlich des Vorschlags des Bundespräsidenten Steinmeier, eine Gedenkfeier für die „Corona-Opfer“ zu veranstalten, an die Isolation alter Menschen durch die Maßnahmen von Bund und Ländern. Dazu leitete uns unser Leser und Gastautor Claus Völker einen Brief zu dieser Thematik weiter, den er wenige Stunden zuvor an verschiedene Politiker verschickt hatte. Wir von den NachDenkSeiten halten diesen Brief für sehr lesenswert und wollen ihn gerne unseren Lesern zur Lektüre empfehlen.

5. September 2020

Sehr geehrte Damen und Herren,

seit vielen Wochen muss man sich in den meisten bayerischen Pflegeheimen vor jedem Besuch eines Angehörigen rechtzeitig anmelden. Im Heim meiner 96jährigen, inzwischen dementiell veränderten Mutter, ist zudem die Besucherzahl auf drei festgelegte Personen limitiert, d.h. jeweils darf nur eine der drei Personen im Wechsel zu Besuch kommen, nicht gemeinsam.

Ist man mal für eine Anmeldung des Besuches etwas zu spät dran, kann es einem passieren, dass man den Angehörigen, z.B. am Wochenende, nicht mehr besuchen darf. Die Besuchstermine seien bereits vergeben. Begründet wird diese Haltung damit, die Kapazitäten seien erschöpft, weil immer eine Betreuungsassistentin bei der Ankunft und beim Weggehen den Besucher begleiten müsse. Und man könne sich ja nicht zerteilen. Spontane Besuche, weil man gerade etwas Zeit hat, sind derzeit sowieso unmöglich.

Hierfür habe ich nur teilweise Verständnis. Zwar verstehe ich, dass Träger und Einrichtung Sorge haben, die von ihnen im Hygienekonzept getroffenen Vorsichtsmaßnahmen könnten nicht ausreichend sein, um den Vorgaben der Staatsregierung Genüge zu tun. Die Entscheidung über Ausmaß und Inhalt von Hygienekonzepten und Maßnahmen liegt offenbar allein bei der Einrichtungsleitung. Staatliche Stellen beziehen sich darauf, solche Entscheidungen müssten vor Ort im Sinne einer individuellen Lösung getroffen werden.

Angst und übervorsichtiges Handeln bestimmen demzufolge die von den Einrichtungen getroffenen Regelungen. Sollte das Virus bei einem Bewohner festgestellt werden, könnte man bei zu laschen Regelungen an den Pranger gestellt werden.

Manche Einrichtungen sind noch rigider in ihren „Hygienekonzepten“ und Besuchs- bzw. Ausgangsregelungen. Von verschiedenen Angehörigen habe ich erfahren, dass es sogar Heime gibt, die für die Bewohner eine Ausgangssperre ausgesprochen haben.

Inzwischen sind den Bewohnern, von Besuchsterminen mit den jeweiligen Angehörigen abgesehen, keine anderen Kontakte mehr möglich. Nur diejenigen Bewohner, die die Einrichtung (mit oder ohne Hilfe von Angehörigen) verlassen können, haben diese Möglichkeit. Und das sogar unbeschränkt. Sie haben auch die Möglichkeit, mit zig anderen Personen in Berührung zu kommen, die unkontrolliert miteinander umgehen. Dies konterkariert die harschen Besuchsregelungen komplett.

Die meisten Bewohner eines Heimes aber sitzen isoliert im Gemeinschaftsraum oder in ihren Zimmern und sind, von den ihnen zukommenden individuellen Pflegehandlungen abgesehen, häufig sich selbst überlassen. Wie sollten auch Programme durchgeführt werden, wenn die hierfür zuständigen Betreuungskräfte mit der Regelung des Besucherverkehrs beschäftigt sind?

Kontakte von Besuchern sind, wie beschrieben, nur mit dem direkten Angehörigen im Heim zulässig. Man hat, wenn überhaupt, kaum mehr Zeit und Möglichkeit, sich mit anderen Bewohnern zu unterhalten, auch wenn man aufgrund der Besuchsaufenthalte vor der Coronazeit diese Kontakte immer auch gesucht und gepflegt hat. Verständnis von den Bewohnern, mit denen man kaum mehr ein Wort wechseln kann, ist nicht zu erwarten, da die dementielle Entwicklung bzw. allein die Begleiterscheinungen von Isolierung der Betroffenen ein Verstehen verhindert. Ich z.B. werde von dem einen oder anderen Bewohner bereits vorwurfsvoll angesehen bzw. aus Enttäuschung über beendete Kontakte ignoriert.

Ich habe, wenn ich Politikern zuhöre oder die Corona Berichterstattung in den Medien verfolge, nicht den Eindruck, man hätte schon mal darüber nachgedacht oder gar realisiert, was in den betroffenen Menschen vorgeht und was mit ihnen passiert. Ob es ihnen wichtiger ist, ein halbes Jahr länger in ihrer gegenwärtigen Vereinsamung zu verbringen, dafür vermeintlich ohne Gefahr, angesteckt zu werden? Oder würden sie lieber, im Bewusstsein eines nicht mehr fernen Todeszeitpunkts, die Gefährdung durch ein zusätzliches Virus akzeptieren, dafür aber die letzte Zeit ihres Lebens zufrieden und in Kontakt mit der Außenwelt verbringen?

Leben im Heim gleicht inzwischen teilweise einer Verwahrung, die nach den Heimgesetzen der Länder, in Bayern also nach dem PfleWoqG, nicht geduldet werden darf. Ein Heim lebt von seiner Integration in der Gesellschaft, von seiner Öffnung für alle Außenstehenden, die die pflegebedürftigen Menschen nicht allein und isoliert lassen wollen.

Das Heim ist kein Lebensort mehr (wie einmal eine sehr gute Broschüre des Sozialministeriums aus den 90er Jahren betitelt war). Die Lebendigkeit, die durch Kontakte aller Art, durch Kommunikation, durch Scherzen und Lachen, aber auch nonverbal durch Berührungen, Handhalten oder Armstreicheln zwischen Besuchern und Bewohnern möglich sein sollte, wird durch m.E. völlig überzogene und angstbesetzte Maßnahmen verhindert.

Die strikte Absonderung und Bevormundung der Bewohner, die allenthalben vorherrschen, spotten den Forderungen des Art. 1 Abs. 1 Ziffer 2 PfleWoqG bezüglich Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. Das Wort Würde in Ziffer 1 will ich gar nicht erst zitieren. All dies hat schon längst nichts mehr mit der sog. Lebensqualität zu tun, die nach Art. 1 Abs. 1 Ziffer 2 PfleWoqG zu wahren und zu fördern ist.

Die genannten Grundsätze des Art. 1 PfleWoqG verdeutlichen die Zielsetzung des Gesetzes und richten sich auch an Politik und staatliche Stellen selbst. Sie richten sich also nicht nur an Träger und Leitungen von Heimen, die die in Art. 3 PfleWoqG genannten Qualitätsanforderungen zu erfüllen haben und entsprechend, bei Nichterfüllung, von den Aufsichtsbehörden hierzu anzuhalten sind.

Die gegenwärtigen Regelungen erfolgen unter der von Politik und staatlichen Stellen propagierten Maßgabe, der Schutz des Lebens müsse Vorrang vor allen sonstigen Gütern haben.

Der Schutz des Lebens darf sich jedoch nicht nur auf die Verhinderung von Infektionen beziehen. Der Erhalt von Lebensmut und Lebensfreude, also der psychische Gesundheitszustand eines Menschen, ist als gleichrangig zu betrachten. Andernfalls würde man den Menschen als rein physisch funktionierendes Wesen ansehen, abwerten und in seiner Würde verletzen. Nicht wenigen Menschen stellt sich inzwischen die Frage, wann der Schutz vor Infektion in Inhumanität umschlägt und eher schadet.

Die Verantwortung darf m.E. nicht einfach „nach unten“ auf Heimträger und Leitungen abgewälzt werden, wenn der Staat schon derartige Prämissen durch eine Flut von Allgemeinverfügungen und Handlungsanleitungen der Ministerien setzt. Hier haben die staatlichen Stellen endlich Farbe zu bekennen und nicht gebetsmühlenartig auf den nur vor Ort zu beurteilenden Einzelfall abzustellen. Auch die Annahme, die Heimaufsichten als Kontrollorgane wären in der Lage, für ein einheitliches und maßvolles Vorgehen zu sorgen, ist verfehlt. Die Exekutive braucht hierzu nämlich die Rückendeckung der Politik – weniger markige Worte und dafür einen klaren Rahmen und unmissverständliche Vorgaben, die nicht vor Ort endlos ausgedehnt werden können und dürfen.

Abstandsregelungen und Maskenschutz, Desinfizieren der Hände sowie von Besuchern selbst auszufüllende Anwesenheitszettel wie in Gaststätten auch, müssten bei Besuchsregelungen eigentlich ausreichen. Hierzu muss nicht noch eigens Personal abgestellt werden. Und wenn, dann könnten Ehrenamtliche für derart administrative Abläufe geworben werden. Es würden sich vermutlich ausreichend Menschen hierfür finden, wenn das Heim sich vor der Coronazeit einen einigermaßen vernünftigen Ruf erworben und selbst für die Öffnung der Einrichtung in die Gesellschaft gesorgt hat.

Das Verständnis der betroffenen Menschen, Bewohner wie Angehörigen, aber auch der in Pflege und Betreuung Beschäftigten, für die Art der Regelungen, schwindet immer mehr. Ich habe kaum jemanden getroffen, der die Gefahr für Pflegeheime unterschätzen würde. Doch die Menschen erwarten endlich eine Politik, die von Augenmaß geprägt ist und den ansonsten so gerne zitierten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch im Falle der Besuchsregelungen in Heimen beachtet.

Ich bitte Sie daher dringend, sich für eine weitere Öffnung der Altenpflegeheime im Interesse der dort lebenden Menschen einzusetzen.

Mit freundlichen Grüßen
Claus Völker

Titelbild: De Visu/shutterstock.com

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