Dass sich so viele Menschen bei Demonstrationen engagieren, ist schon alleine ein positives Zeichen. Noch vor kurzem haben wir die schlechten Wahlbeteiligungen und das dürftige politische Interesse beklagt. Wer etwas von Demokratie hält, sollte froh sein, dass jetzt so viele Menschen politisches Interesse entwickeln und auf die Straße gehen. Diese Menschen in die antidemokratische oder in die rechte Ecke zu schieben, ist alleine wegen ihrer Bereitschaft zur Demonstration nicht angebracht. Bei prinzipiell positiver Bewertung der neuen Bewegungen bleibt trotzdem die Frage, wohin sich jene, die sich Querdenker oder Demokratischer Widerstand oder sonst etwas nennen, bewegen wollen. Welche inhaltlichen, programmatischen Vorstellungen werden verfolgt? Welche Werte sollen die andere, die neue Gesellschaft prägen? Albrecht Müller.
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Vordergründig gut klingende Aussagen wie „weder links noch rechts“ reichen nicht. Das ist ein dürftiges Programm. Ich würde schon gerne wissen,
- ob für „Jeder ist seines Glückes Schmied“ oder
- ob für „Solidarität“ und ein „enges soziales Netz“ demonstriert wird,
- ob für Egoismus oder
- ob für Mitgefühl,
- ob beispielsweise für Leiharbeit oder
- für unbefristete sichere Arbeitsverhältnisse
demonstriert wird.
Wenn die Demonstranten sich darauf verständigen würden, die von ihnen angestrebte Gesellschaft solle von Solidarität geprägt sein, und wenn anerkannt würde, dass viele Menschen tatsächlich der sozialen Sicherheit, also der gemeinschaftlich organisierten Sicherheit gegen das Risiko, krank, pflegebedürftig, arbeitslos oder eben alt zu werden, bedürfen, dann könnten viele Menschen zustimmen und diese neue Bewegung wäre schon von vornherein des Verdachts enthoben, „rechtsoffen“ zu sein. Rechts sind die Neoliberalen, rechts sind jene, die glauben, jeder sei seines Glückes Schmied.
Es ist vor, auf und nach den Demonstrationen viel von Freiheit die Rede. Freiheit ist in der Tat ein recht hoch zu bewertendes Gut. Aber das ist eben nicht alles. Darauf alleine kann man eine Gesellschaft nicht aufbauen.
Für einen älteren Menschen schwingt beim Gebrauch des Wortes „Freiheit“ zudem ziemlich viel Gruseliges mit. „Freiheit statt Sozialismus“ hieß die Parole der CDU und CSU in schlimmen Auseinandersetzungen der Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts.
Tausendfach „Freiheit“ haben die anonymen Propagandisten des Widerstands 1972 gegen die Friedenspolitik und die damalige soziale Reformpolitik geschrien und in zahllosen Anzeigen in die Zeitungen eingerückt. Hier zwei Beispiele von Dutzenden, mit denen der schöne Begriff „Freiheit“ benutzt und missbraucht worden ist:
Die Hintermänner und Hinterfrauen der damaligen Propaganda sind heute an der Macht. Heute wird gegen diese mit dem Ruf nach Freiheit demonstriert. Das ist schon seltsam.
In welche Richtung soll das Querdenken gehen?
Die Menschen, die zum Beispiel am 1. August in Berlin demonstriert haben und am 29. August erneut in Berlin demonstrieren werden, und jene, die dazu einladen, müssten erkennen lassen, in welche Richtung das Querdenken gehen soll. Die Welt besteht nicht nur aus Corona und dem Lockdown. Ist für sie die extrem ungerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen ein Problem? Ist für sie die Militarisierung der Politik und der neue Konflikt mit Russland und China ein Problem? Halten sie unsere Abhängigkeit von den USA noch für erträglich? Wie stehen Sie zu Hartz IV? Und zur Macht der internationalen Finanzkonzerne? Usw. usw. Wenn sie wenigstens erkennen ließen, an welchen Werten sie sich orientieren wollen, dann würde es ihnen auch viel leichter fallen, sich dem Vorwurf, rechts oder esoterisch oder nationalistisch zu sein, zu entziehen.
Uli Gellermann hat am 16. August einen interessanten, für unser Thema einschlägigen Artikel geschrieben. Er fordert ein neues „Grundgesetz von unten“. In seinem Text bietet er noch keine umfassende inhaltliche Orientierung. Aber er macht eine Aussage darüber, wie der Wille des Volkes von unten gebildet werden solle. Gellermann verlangt von einer neuen Verfassung, dass die Herrschaftsverhältnisse der Medien radikal verändert werden müssen. Der private Besitz „an wesentlichen Medien“ müsse ebenso verschwinden wie die Parteienherrschaft bei den öffentlich-rechtlichen Medien.
Das sind zwei klare programmatische Aussagen für einen wichtigen Bereich, nämlich dafür, wie die demokratische Willensbildung wiederhergestellt werden soll. Immerhin. Ob die Gesellschaft des „neuen Grundgesetzes von unten“ von Solidarität oder von Egoismus bestimmt sein soll, ob Spekulanten und super-große Vermögen wie bisher begünstigt sein sollen, geht aus seinem Text nicht hervor. Immerhin aber ein Ansatz.
P. S.: Zum besseren Verständnis der Anregung, die Demonstrationen inhaltlich zu positionieren, weise ich auf 2 Videos mit Thorsten Schulte hin. Er nennt sich selbst Silberjunge und deutet mit diesem Namen schon darauf hin, dass er die Spekulation mit Edelmetallen für ein ehrenwertes Unterfangen und für einen legitimen Teil einer neuen, erstrebenswerten Gesellschaft hält. Das kann man so sehen. Aus meiner Sicht ist der Neubeginn schon verkorkst, wenn man mit solchen Leuten unterwegs ist. Schulte war einmal CDU, dann 2017 AfD-Befürworter und bei der Demonstration am 1. August in Berlin mit dabei. So jemand diskreditiert aus meiner Sicht die große Zahl der demonstrierenden Menschen. Eine solche Gefahr könnte man verringern, wenn man inhaltlich eindeutiger wäre.
Hier die Videos: