Teil 2: Jair Bolsonaros programmierter Corona-Genozid der indigenen Völker
Selbst konservative brasilianische Medien sprechen es offen aus: Die vom Bolsonaro-Regime programmierte Massenansteckung der Bevölkerung, mit 3,3 Millionen Covid-19-Infizierten und 105.000 Toten (Stand: 13. August), ist ein Genozid. Von den Großstädten hat die Pandemie sich schlagartig auf indigenes Land, insbesondere nach Amazonien, ausgebreitet. Einer nach dem anderen fallen namhafte ältere Häuptlinge des indigenen Widerstands – wie Paulinho Payakan, Aritana Yawalapiti oder João Luís Nazareno Lima vom historischen Stamm der Taurepang – dem Virus zum Opfer, das, nach dem Stand vom 13. August, 24.942 ihrer Stammesmitglieder ansteckte und 669 von ihnen tötete. Von Frederico Füllgraf.
Lesen Sie bitte hierzu auch noch einmal den 1. Teil der Reportage.
Raonis Hilferuf
Der legendäre, 90-jährige Häuptling Raoni Metuktire wurde im Juli auf die Intensiv-Station eingeliefert, hatte Glück und erholte sich bis Ende des Monats. Raoni empfing in den 1980er Jahren den britischen Rockmusiker Sting in Amazonien und folgte ihm auf Europa-Solidaritäts-Tour. Nach rund 30 Jahren trafen sie sich im Mai 2017 in São Paulo wieder, als der Indianer-Häuptling schwere Vorwürfe gegen die De-facto-Regierung Michel Temer vortrug. Im Mai 2019 wurde Raoni vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron im Élysée-Palais und von Papst Franziskus im Vatikan empfangen. Im darauffolgenden August 2019 reiste Raoni ein zweites Mal nach Frankreich, um den Staatschefs der G7 eine Petition zur Rettung der vom Bolsonaro-Regime bedrohten indigenen Völker und Amazoniens auszuhändigen.
Was bewegt Raoni Metuktire?
Drei Wochen lang reiste der Häuptling durch Europa, marschierte mit jungen Menschen für das Klima, wurde von Staatsoberhäuptern empfangen und traf sich mit dem Papst. Seine Botschaft lautete: Amazonien, das sich über neun Länder erstreckt, wird von 390 Völkern mit gesonderter kultureller Identität und Sprache bewohnt und beherbergt mindestens noch 120 freie Dörfer, die sich für die freiwillige Isolation von der weißen Gesellschaft entschieden haben. Dieses Gebiet, das von rund 34 Millionen Menschen bewohnt wird, birgt 20 Prozent des nicht gefrorenen Süßwassers, 34 Prozent der Primärwälder und 30 bis 50 Prozent der Tier- und Pflanzen-Arten des Planeten.
Doch diese lebenserhaltende Pracht ist seit der Machtübernahme durch Jair Bolsonaro am 1. Januar 2019 in ihren Grundfesten bedroht. Ein Grund, weshalb der Papst bereits Anfang 2018, während seines Besuches in Peru, eine Panamazonische Bischofssynode unter der Devise „Amazonas: Neue Wege für die Kirche und für die Ökologie“ für den kommenden 6. bis 27. Oktober 2020 nach Rom einberufen hat und zu deren Vorbereitung Raoni in einer Audienz empfing. Bolsonaro hasst den Papst, ebenso wie Sting und seinen Rainforest Fund.
Indes glauben mehrere Verbündete der Indigenen und Amazoniens wie der in Paris lebende brasilianische Starfotograf und Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Sebastião Salgado, es könnte bis Oktober zu spät sein.
Der internationale Aufruf Sebastião Salgados
Mit der institutionellen Unterstützung der Organisation für Kultur der Vereinten Nationen/Unesco startete Salgado im vergangenen Mai eine Petition auf dem Avaaz-Portal mit dem Ziel, das Bolsonaro-Regime unter Druck zu setzen und es dazu zu zwingen, die indigenen Gemeinden vor dem Corona-Virus zu schützen. In dem Bittgesuch wird Bolsonaro, aber auch die Präsidenten des Parlaments und des Obersten Gerichtshofs, dazu aufgefordert, „Sofortmaßnahmen zum Schutz der indigenen Bevölkerung des Landes vor diesem verheerenden Virus zu ergreifen“.
In einem auf Instagram veröffentlichten Video verknüpft der Fotograf die Gesundheitsrisiken der Ureinwohner mit den kriminellen Aktionen der Entwaldung und der großflächigen Brandstiftung im Amazonasgebiet und warnt: „Brasilianische Indianer sind seit mehr als 500 Jahren Opfer von Epidemien, aber jetzt kommt zu dieser Bedrohung die staatlich verordnete Überwachungslockerung hinzu, die die Invasion des illegalen Bergbaus, der Holzfäller und Viehzüchter und die Brandstiftung fördert, die in den letzten Wochen zugenommen haben“. Die erbetenen 300.000 Unterschriften waren nach wenigen Tagen komplett. Es unterschrieben internationale Stars wie das brasilianische Model Gisele Bündchen, die Liedermacher Chico Buarque, Gilberto Gil, Caetano Veloso, Paul McCartney und Madonna, die Schauspieler Brad Pitt und Meryl Streep, der chinesische Künstler Ai Weiwei und der spanische Starregisseur Pedro Almodovar, doch das scherte Bolsonaro einen feuchten Kehricht.
Der programmierte Überfall auf die indianischen Territorien
Statt Hilfeleistung setzte Bolsonaro die militärische Sabotage in Szene. In einem der wenigen Fälle, in denen der zum Hauptmann beförderte Unteroffizier und zum Parlamentarier mutierte Jair Bolsonaro in seiner Zeit als Bundesabgeordneter die Tribüne der Kammer betrat, erklärte er: „Wenn ich dort (im Präsidentenamt) ankomme, wird es keinen Zentimeter mehr Land geben, das für indigene Völker vermessen wurde“. Der faschistische Militär ist vor anderthalb Jahren „dort angekommen“ und in seiner Amtszeit als Präsident Brasiliens übertreffen seine Handlungen das Versprechen. „Bald ist es sehr wahrscheinlich, dass es auf Kilometern von Boden keine Ureinwohner mehr gibt“, kommentierte die Wochenzeitschrift Isto É.
Im Wahlkampf von 2018 versprach Bolsonaro noch einmal, die Vergabe von Staatsland an Indigene zu stoppen. Das Anrecht der Indigenen auf ihre Siedlungsgebiete wird jedoch von der Verfassung von 1988 festgeschrieben, womit der autoritäre Staatschef Verfassungsbruch begeht.
Während seines ersten Treffens mit US-Präsident Donald Trump Anfang April 2019 ging Bolsonaro einen Schritt weiter und verkündete eine „Partnerschaft mit den USA zur Erkundung Amazoniens“ mit der Überprüfung des indigenen Anrechts auf ihre Stammesgebiete.
Wer Bolsonaro aufmerksam beobachtet, erkennt allerdings seine sadistischen Züge, darunter seinen Hang zu Rachehandlungen und Hinterlist. So geschehen mit der systematischen Demontage des Umweltministeriums und der institutionellen Umweltpolitik, nun gefolgt von der Zerstörung der Indianerschutz-Behörde FUNAI. Diese begann unter anderem im November 2019, als zum Beispiel FUNAI-Mitarbeitern Reisen in Indianer-Territorien untersagt wurden, wodurch tausende Indigene von Unterstützung und Schutz regelrecht abgeschnitten und dadurch boykottiert wurden.
Kaum aus den USA zurückgekehrt, befahl Bolsonaro Mitte April 2019 in direkter Verletzung des Vertrages mit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), der die Mitsprache der betroffenen indigenen Gemeinden vorschreibt, die Öffnung – man lese: das Überrennen – der indianischen Stammes-Territorien durch einheimische Goldsucher und internationale Bergbau-Unternehmen.
Ein Jahr später, im Mai 2020, nutzte der Indianerfeind Bolsonaro die Covid-19-Pandemie, um den verhassten Bewohnern Amazoniens noch grauenvoller in den Rücken zu fallen. Er legte tatsächlich Veto gegen das Covid-19-Nothilfsprogramm ein, das zuvor von beiden Kammern des brasilianischen Parlaments verabschiedet worden war. Kaum zu glauben, doch mit dem verlogenen Argument der „fehlenden Haushaltsprognose“ strich der Militär relevante Covid-19-Bekämpfungs-Maßnahmen in indigenen Gebieten, wie die Verpflichtung zur Trinkwasser-Versorgung, die kostenlose Verteilung von Grundnahrungsmittelkörben, von Hygiene-, Reinigungs- und Desinfektionsmaterialien, die Gewährleistung der Notversorgung mit Krankenhausbetten und der Intensivpflege, die Verpflichtung der Regierung zur Versorgung mit Beatmungsgeräten und Geräten für die Blut-Sauerstoffversorgung sowie die Internet-Installation zur Beschleunigung von Erste-Hilfe-Maßnahmen in den Indianerdörfern.
General Mourão, die Verschwörungstheorien der Militärs und ihr „Integrations“-Druck
Wie die NachDenkSeiten in Teil 1 der Amazonien-Reportage berichteten, ist Bolsonaros Vize, General Hamilton Mourão, längst der De-facto-Chef der Amazonien-Politik. Im Januar 2020 erließ Bolsonaro ein Dekret zur Wiederbelebung des 1995 geschaffenen „Amazonien-Rates“ unter Vorsitz General Mourãos, von dem nicht nur sämtliche Gouverneure der Region, sondern vor allem die Indianerbehörde FUNAI und die Umweltbehörde IBAMA ausgeschlossen wurden. Kaum war der Beschluss gefasst, besetzte Mourão den Rat mit 19 Heeres- und Luftwaffenoffizieren. Aufgabe des Rates sei, so der General, „die Koordinierung und Überwachung der öffentlichen Politik im brasilianischen Amazonas“, insbesondere von „Maßnahmen zur Verhütung, Kontrolle und Unterdrückung illegaler Handlungen”. Mit anderen Worten: Amazonien steht unter der Herrschaft der Militärs.
Dieser Herrschaft geht jedoch eine jahrzehntelange Vorgeschichte voraus, die Ricardo Cavalcanti-Schiel – promovierter Anthropologe des brasilianischen Nationalmuseums (UFRJ), derzeit im Dienst der École des Hautes Études en Sciences Sociales und des Laboratoire d’Anthropologie Sociale des Collège de France – in einer Studie aus dem Jahr 2009 darlegte, in der die nachstehenden Episoden den Leser dabei unterstützen, den Hintergrund der gegenwärtigen Militarisierung Amazoniens nachzuvollziehen.
Am 16. April 2008 gab der Militärkommandeur des Amazonas und gegenwärtige Geheimdienstchef Bolsonaros, General Augusto Heleno Ribeiro Pereira, seinen Kommandoposten ab, um als Redner an einem vom Militärclub in Rio de Janeiro geförderten Seminar mit dem seltsamen und ungewöhnlich alarmistischen Titel „Brasilien, Bedrohung seiner Souveränität“ aufzutreten. Sorgfältig als Kontrapunkt zu Stimmen mit nationalistischem Unterton, aber auch gegen sehr konservative Wortmeldungen programmiert – wie zum Beispiel der des Juristen Ives Gandra Martins – standen die brasilianische Indianer-Politik im Amazonasgebiet und die Vermessung indigener Gebiete an der nordöstlichen Grenze des Bundesstaates Roraima im Mittelpunkt der Debatte.
Die durchschlagenden, kritischen Aussagen General Helenos gegen die offizielle Indianer-Politik der Regierung Luis Inácio Lula da Silva waren eine Wiederholung seiner eine Woche zuvor auf einer Veranstaltung des Industrieverbandes des Bundesstaates São Paulo (Fiesp) formulierten Attacke. Er fühlte sich denn auch vom Obersten Gerichtshof (STF) bestärkt, der gerade den Rausschmiss von (weißen) Nicht-Indianern aus dem von Präsident Lula in Roraima eingeweihten Indianer-Schutzgebiet Raposa-Serra do Sol mit einer überraschenden Verfügung unterbrach und Wellen kontroverser Positionen in den brasilianischen Medien schlug.
Einige Wochen vor den bombastischen Erklärungen General Helenos hatte sich die Armee geweigert, Nicht-Indianer aus dem Raposa-Serra-do-Sol-Reservat auszuweisen, eine Operation, die schließlich der Bundespolizei zugeschoben und von einer konzertierten politischen Kampagne des von den Militärs kontrollierten Brasilianischen Zentrums für strategische Studien (Cebres) begleitet wurde; eine sorgfältige Orchestrierung, die als „Startrampe“ für die Rhetorik gegen die staatliche Indianerschutz-Politik des Militärkommandanten des Amazonas dienen sollte.
Laut Schiele diente General Helenos Brandrede schließlich als „diskursiver Anker“ für den Alarmismus des Clube Militar von pensionierten Hardliner-Generälen, dem sich eine schnell entfaltende und aufgeblähte Rhetorik einer angeblichen, unmittelbaren Bedrohung der nationalen Sicherheit durch eine sogenannte „ethnische Balkanisierung“ anschloss. Diese „Balkanisierung“ werde mit der Instrumentalisierung indigener Völker durch internationale NGOs gesteuert, so die Paranoia der olivgrünen Kommandeure, und „könnte” zu einer gefährlichen Kaskade von „Sezessions“-Prozessen im Staatsgebiet, insbesondere in den amazonischen Grenzgebieten führen. Doch schien die „amazonische Gefahr“ eines gewissen „grünen Aktivismus“ gerade vergessen, flammte bald der militärische Diskurs von der „Gefahr des rothäutigen Aktivismus“ auf.
Diese Mischung aus internationaler Verschwörung durch das angebliche „Einsickern von NGO-Aktivisten“ (Sting, Greenpeace, WWF, u.a.) sowie der angeblichen „Instrumentalisierung einer ethnischen“ Plattform (durch die „kommunistisch unterwanderte“ katholische Kirche) ist seit geraumer Zeit – so Schiele – der ideologische Schmelztiegel ultranationalistischer Militärs im Bund mit Reserve-Offizieren, die mal geräuschvoll, mal insgeheim daran arbeiteten, aktive Kommandeure anzulocken und ein Netzwerk in der Zivilgesellschaft mit dem Ziel aufzubauen, die „internationale Gier nach Amazonien“ anzuklagen.
Doch seit der Untersuchung des Anthropologen sind 11 Jahre vergangen, sowohl die ideologische Ausrichtung als auch die politischen Devisen haben sich nach der Machtübernahme durch Jair Bolsonaro geändert. Anstelle der „Ultranationalisten“ treten jetzt weitgehend faschistische „Globalismus“-Kritiker auf, allerdings und paradoxerweise mit zutiefst US-freundlicher Ausrichtung, wie Bolsonaros Angebot an Donald Trump und die gegenwärtige Amazonas-Politik General Hamilton Mourãos deutlich machen.
Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Klagen vor dem Haager Strafgerichtshof
Am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) wurden mittlerweile drei Klagen gegen Jair Bolsonaro wegen schwerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit protokolliert. Alle drei berufen sich auf solide juristische Argumente gegen das zum Genozid anstiftende Vorgehen Bolsonaros im Rahmen der Covid-19-Pandemie in Brasilien.
Der IStGH unternahm im Mai den ersten Schritt, um ein Verfahren gegen Bolsonaro einzuleiten. Das Gericht kündigte an, die Klage der Demokratischen Partei der Arbeit (PDT) zu prüfen, was jedoch noch nicht bedeutet, dass eine Untersuchung eingeleitet wird, sondern nur, dass die vorgebrachten Fakten analysiert werden. In ihrer Klage listet die Partei eine Reihe von Episoden auf, in denen Bolsonaro nicht nur die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation und des brasilianischen Gesundheitsministeriums aufs Gröbste ignorierte, sondern auch zu Demonstrationen für einen Militärputsch aufrief, Erklärungen gegen soziale Isolation abgab, Maßnahmen des brasilianischen Gesundheitsministeriums offen sabotierte und das lebensgefährliche Malaria-Medikament Hydroxichloroquin ohne ärztlichen Rückhalt propagierte. Ähnlich lautende Klagen wurden von brasilianischen Menschenrechts- und Juristenvereinigungen und Verbänden der Afrobrasilianer in Den Haag eingereicht.
Wenngleich juristisch kaum widerlegbar und anfechtbar, bleibt abzuwarten, ob der IStGH den ausreichenden Mut zu einem internationalen Urteil besitzt, dass das Fortbestehen des sich zunehmend faschistisch gerierenden Regimes in Brasilia bedrohen könnte.
Titelbild: Zaruba Ondrej/shutterstock.com