Nach den Präsidentschaftswahlen vom Sonntag erlebt der unabhängige Staat Belarus seine bisher schwerste politische Krise: Auf der einen Seite Proteste wegen vermuteter Wahlfälschung, auf der anderen Seite harte Reaktionen der Polizei. Die zugespitzte Situation erinnert an den Maidan in Kiew 2013. Aus Moskau berichtet Ulrich Heyden.
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Seit Sonntag gibt es Proteste gegen vermutete Wahlfälschungen bei der Präsidentschaftswahl in Minsk. Tausende von Festnahmen. Zahlreiche verhaftete Journalisten, darunter auch viele von russischen oppositionellen und regierungsnahen Medien. Die Polizei schießt mit Gummigeschossen. Es gibt einen ersten Toten. Der russische Außenminister Sergej Lawrow forderte die Freilassung verhafteter Journalisten.
Der Versuch, einen Maidan im Keim zu ersticken
Es hat in Minsk schon häufig Demonstrationen der Opposition gegeben, die von der Polizei drangsaliert wurden. Aber noch nie waren die eingesetzten Mittel so hart wie in den vergangenen Tagen (Videos der Opposition aus Minsk finden sich etwa hier). Offenbar will Präsident Aleksandr Lukaschenko jedes Aufkommen von „befreiten Zonen“ – wie sie während des Maidan im Dezember 2013 in Kiew entstanden – von Anfang an unterbinden. Das Internet wurde abgestellt, ist jetzt aber wieder in Betrieb. Lukaschenko behauptete, die Abstellung des Internets sei eine Provokation des Auslands.
Zwei Seiten stehen sich unversöhnlich gegenüber. Der amtierende Präsident von Weißrussland reklamiert den Sieg bei den Präsidentschaftswahlen für sich. Die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja, die sich nach der Verhaftung ihres Mannes zur Kandidatur entschlossen hatte, erklärte, sie habe 80 Prozent der Stimmen bekommen. Die zentrale Wahlkommission dagegen gab bekannt, dass Lukaschenko 80 Prozent und Tichanowskaja 9,9 Prozent der Stimmen bekommen hätten.
Unabhängige Beobachter von der OSZE oder aus Russland waren nicht zu den Wahlen eingeladen worden. Dass beide Kandidaten behaupten, sie hätten jeweils 80 Prozent bekommen, wirkt überzogen. Zu viele haben ihren Protest gegen den Langzeitherrscher Lukaschenko in diesen Tagen landesweit ausgedrückt. Vieles spricht dafür, dass bei der Stimmen-Auszählung zugunsten von Lukaschenko von Amts wegen nachgeholfen wurde, der Amtsinhaber die Wahlen aber auch ohne diese Hilfe gewonnen hätte.
Das offiziell angegebene Wahlergebnis der Oppositionskandidatin Tichanowskaja scheint dagegen zu niedrig. Auch dieses Ergebnis ist wohl bei der Auszählung „nachbearbeitet“ worden.
Doch letztlich sind das alles nur Vermutungen. Auch die von der Opposition präsentierten Kopien von Wahlprotokollen, die hohe Ergebnisse für Tichanowskaja ausweisen, sind nur ein kleiner Ausschnitt der landesweiten Wahl. Ihre Echtheit ist schwer zu überprüfen.
Eine wirklich unabhängige Wahlbeobachtung und unabhängige Exit-Polls hat es nicht gegeben.
Für was steht die Oppositionelle Tichanowskaja?
Swetlana Tichanowskaja trat zur Wahl an, nachdem ihr Mann Sergej verhaftet worden war. Die 38-Jährige war in einer ökologischen Gruppe aktiv und arbeitete als Übersetzerin und Hausfrau. Bis zu ihrer Kandidatur war sie so gut wie unbekannt.
Bei einem Fernsehauftritt im Wahlkampf versprach sie höhere Renten und Löhne, mehr Mitbestimmung der Bürger, eine Modernisierung und Privatisierung der Ausbildung an den Schulen und die Unterstützung von Geschäftsleuten. Außerdem erklärte sie, sie werde – wenn gewählt – sechs Monate nach der Wahl neue, faire Präsidentschaftswahlen durchzuführen. Ein klares politisches Profil und eine politische Vergangenheit hat die Kandidatin nicht.
Die Menschen, die für Tichanowskaja stimmten, stimmten vor allem gegen Lukaschenko, der seit 26 Jahren im Amt ist und jegliche Opposition unterdrückt. Seine Politik der sozialen Stabilität und der Erhaltung sowjetischer Wirtschaftsstrukturen hat den Weißrussen zwar fast drei Jahrzehnte lang Stabilität und sozialen Basis-Schutz gebracht. Doch der Jugend in den Großstädten ist das nicht genug. Sie fordert eine demokratische Kultur.
Wirtschaftskrise verschärft politische Krise
Die Proteststimmung in Minsk wird angeheizt durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung. Wahlsieger Lukaschenko erklärte am Mittwoch, auf den Straßen von Minsk seien in den letzten drei Tagen nur „vorbestrafte Kriminelle“ und „Arbeitslose“ unterwegs gewesen. Er warf den Demonstranten „bourgeoisen Lebenswandel“ vor und forderte sie auf, sich schleunigst eine Arbeit zu suchen. Welche Konsequenzen die Nichtaufnahme einer Arbeit hat, sagte der Präsident nicht. Mit derartigen Ausfällen gegen Demonstranten hofft Lukaschenko offenbar, bei der arbeitenden Bevölkerung Punkte zu sammeln.
Aleksandr Lukaschenko hat in Weißrussland eine Art Mini-Sowjetunion geschaffen. In den 1990er Jahren gab es in Weißrussland keine Privatisierung der Schlüsselindustrien wie in allen anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Der weißrussische Staat sorgte für die regelmäßige Zahlung von Löhnen und Renten, was in den meisten ehemaligen Republiken der Sowjetunion in den 1990er Jahren und auch später keine Selbstverständlichkeit war. In Weißrussland gibt es heute keine massiven sozialen Unterschiede und keine Superreichen wie in Russland. Lukaschenko stellte sich als jemand dar, der „das Beste, was es in der Sowjetunion gab“, erhält.
Die wirtschaftliche Entwicklung in Weißrussland hat in den letzten Jahren jedoch einen Einbruch erlitten. Die Wirtschaften von Weißrussland und Russland sind eng verbunden und der Konjunktureinbruch in Russland durch den gesunkenen Gas- und Ölpreis sowie die Corona-Krise verminderten die Absatzchancen für weißrussische Industrieprodukte in Russland. Die Hälfte des weißrussischen Exports geht nach Russland.
Zusätzlich problematisch für Weißrussland wurde, dass man sich mit Russland seit 2019 nur noch fallweise auf Preise für Öl- und Gaslieferungen aus Russland einigen konnte. Weißrussland fühlt sich benachteiligt gegenüber Öl- und Gaskunden in Russland und Deutschland. Weißrussland kauft nun vermehrt Öl aus dritten Ländern ein, zuletzt aus Aserbeidschan.
Erinnerungen an den Maidan in Kiew
Die zugespitzte Situation in Weißrussland erinnert an den Maidan in Kiew. 2013/2014 in Kiew scheute sich der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch und seine Präsidialadministration, die Opposition mit Polizeigewalt aus der Innenstadt zu verdrängen. Man fürchtete negative Reaktionen europäischer Politiker. So entstand in der Innenstadt von Kiew 2013 eine nicht genehmigte Zeltstadt der Opposition, mit Ordnerdiensten und täglichen Trainingsstunden im Straßenkampf. Das Zeltlager existierte ungehindert bis zum Staatsstreich der ukrainischen Nationalisten im Februar 2014.
In der Ukraine gab es 2013 berechtigte Kritik an der Macht. Aber diese berechtigte Kritik wurde in der Ukraine von Oligarchen und deren Medien hochgepuscht sowie massiv von westlichen Mächten und Stiftungen finanziert, medial unterstützt und in eine anti-russische Richtung gelenkt.
Ob es auch in Weißrussland den Versuch gibt, berechtigte Kritik und zivilen Protest in einen Staatsstreich umzulenken, lässt sich bisher noch nicht sicher sagen. Das russische Fernsehen berichtete am Mittwoch, in Minsk seien „Koordinatoren“ der Proteste festgenommen worden. Bei einem Mann aus Minsk seien 10.000 Dollar sichergestellt worden, wie in diesem Video berichtet wird. Die Frau des Verhafteten erklärte aber, ihr Mann sei Kleinunternehmer. Er habe ein Auto verkauft.
Ein anderer weißrussischer Aktivist mit Wohnsitz in Polen soll von einem Hotel „Belarus“ aus die Proteste in Minsk gelenkt haben. Er habe drei Untergebene gehabt, die „Hundertschaften“ von Demonstranten gelenkt haben sollen.
Nationalismus hat in Weißrussland bisher nur eine schwache Basis
In der Ukraine wurde die Protestbewegung 2013/14 durch Radikal-Nationalisten aus der Westukraine angeheizt. Diese Nationalisten sehen sich unverblümt als historische Nachfahren der „Ukrainischen Aufstandsarmee“, welche mit der Hitler-Wehrmacht gegen die Sowjetunion kollaborierte. Die heutigen ukrainischen Nationalisten machten Moskau für eine angebliche Unterdrückung der ukrainischen Kultur während der Sowjetzeit und den gezielten Völkermord am ukrainischen Volk während der Hungerkatastrophe 1932 verantwortlich.
Für Weißrussland fehlt eine solche Erzählung, die sich eignet, Millionen Menschen mit dem Gift des Nationalismus zu infizieren. 85 Prozent der Bevölkerung von Belarus sind Weißrussen und sieben Prozent Russen. Allerdings geht aus einer 2009 veröffentlichten offiziellen Statistik hervor, dass von den acht Millionen Weißrussen 5,5 Millionen zuhause Russisch sprechen.
Auch in Weißrussland gibt es seit den 1990er Jahren eine nationalistische Bewegung. Doch sie wurde mit repressiven Methoden kleingehalten. In den letzten Jahren werden staatliche Einrichtungen in Weißrussland selbst aktiv bei der Stärkung der weißrussischen Kultur und Sprache. Offenbar will man nichts anbrennen lassen.
Weitestgehender Schutz der russischen Sprache außerhalb Russlands
Während man in der Ukraine schon in den 1990er Jahren begann, die russische Sprache aus Schulen und Universitäten zu verdrängen, wurde in Weißrussland 1995 ein Referendum abgehalten, bei dem die Menschen dafür stimmten, dass Russisch neben Weißrussisch den Status einer zweiten offiziellen Sprache bekommt. Dies war der weitestgehende Schutz der russischen Sprache, der nach 1991 außerhalb der Russischen Föderation in einer ehemaligen Sowjetrepublik gesetzlich verankert wurde. Mit dem Referendum konnten Provokationen weißrussischer Nationalisten auf dem Gebiet der Sprachenpolitik zwar nicht vollständig gestoppt, jedoch weitgehend gebremst werden.
Lukaschenko – das Hindernis auf dem Weg nach Europa
Die Opposition in Weißrussland sieht in Lukaschenko ein von Moskau aufgebautes und bis heute unterstütztes Hindernis für Belarus auf dem Weg nach Europa. Das konservative Weltbild von Lukaschenko bietet den jungen Europa-orientierten Oppositionellen in Weißrussland ausreichend Anlass für bissige Kritik. In Videos der Opposition wird Lukaschenko wegen seiner patriarchalen Äußerungen angeprangert. Lukaschenko erklärte, Frauen seien dazu da, „die Welt zu verschönern“. Die wichtigste Aufgabe der Frauen sei es, „Kinder zu kriegen“. Frauen seien für das Präsidentenamt „nicht geeignet“.
Die seit Jahren laufenden Verhandlungen zwischen Russland und Weißrussland über die Bildung eines Union-Staates richten sich nach Meinung der weißrussischen Opposition gegen die Souveränität des Landes. Maria Kolesnikowa, Musikerin und Beraterin der Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja, erklärte im Interview mit dem Portal Meduza, „die mögliche Integration mit Russland, die Angst vor dem Verlust der Souveränität“ habe die Protestbewegung angetrieben. „Man wollte eine erste Road-map (zur Integration) unterzeichnen, welche kein Weißrusse jemals mit eigenen Augen gesehen hat. Und sie waren unzufrieden, dass eine wichtige Frage über die Unabhängigkeit von Weißrussland möglicherweise ohne sie entschieden wird.“
Wie verhält sich Russland?
Die russischen Medien haben über die Präsidentschafts-Kandidaten der Opposition neutral und fair berichtet. Man wollte wohl vermeiden, dass Russland der Einmischung in den weißrussischen Wahlkampf beschuldigt wird.
Am Morgen nach der Wahl gratulierte Wladimir Putin dann dem weißrussischen Wahlsieger und erklärte, er hoffe, dass die wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern vertieft wird. Weißrussland ist Mitglied der „Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit“ (ODKB), einem Verteidigungsbündnis, zu dem auch Russland, Armenien, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan gehören. Weißrussland ist für Russland als Schutzschild an der Grenze zu Nato-Staaten besonders wichtig.
Für den Kreml ist Lukaschenko, trotz seines diktatorischen Stils und seines oft frechen Auftretens gegenüber Russland, immer noch der bessere Präsident in Minsk. Die weißrussischen Oppositionsführer – so befürchtet man in Moskau – führen Belarus in den Westen, weg „vom natürlichen Partner“ Russland.
Die Nachrichten aus Weißrussland sind seit Wochen überraschend und teilweise kaum zu glauben. Vieles wird man erst später entschlüsseln können. Zu hart wird hinter den Kulissen gekämpft. Auch die Ukraine, Polen und Litauen – und wieder einmal die USA – versuchen am Stuhl vom Lukaschenko zu sägen.
Eine Provokation des ukrainischen Geheimdienstes?
Die bisher phantastischste Geschichte aus Weißrussland, die noch einer völligen Aufklärung bedarf, ist die von den 33 Mitarbeitern der privaten russischen Sicherheitsfirma Wagner, die nach Aussage des weißrussischen Geheimdienstes zur Destabilisierung des Landes nach Weißrussland geschickt wurden und am 29. Juli nicht weit von Minsk in einem Pensionat verhaftet wurden. Ein Wagner-Mann wurde angeblich im Süden Weißrusslands verhaftet.
Es dauerte geschlagene sechs Tage, bis die russische Zeitung „Komsomolskaja Prawda“ aufdeckte, dass die 33 Wagner-Leute in eine Falle des ukrainischen Geheimdienstes SBU gelaufen waren. Helfer des SBU hätten die Wagner-Leute nach Weißrussland gelockt. Von dort – so hatten ihnen Helfer des SBU versprochen – sollten sie zum Schutz von Öl-Anlagen nach Havanna und Caracas weiterfliegen.
Ziel der Provokation und der vom SBU eingefädelten Aktion soll nach Meinung der russischen Zeitung gewesen sein, das Verhältnis zwischen Russland und Weißrussland zu vergiften. Das Blatt veröffentlichte als Beweis Abrechnungen und Fotos der beteiligten SBU-Helfer in Weißrussland. Offen bleibt die Frage, warum der weißrussische Geheimdienst KGB und der russische FSB nicht eher in die Überführung von Wagner-Leuten nach Weißrussland eingriffen.
Am 7. August führten Putin und Lukaschenko ein Telefongespräch, in dem sie sich nach Mitteilung des Kreml-Pressedienstes über eine Lösung im Fall der 33 Wagner-Leute berieten. Die 33 verhafteten Russen befinden sich noch immer in weißrussischer Haft.
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