Jedes Jahr verfolgt mich die Erinnerung. 6. August: Die Uranbombe fegt Hiroshima von der Landkarte. 9. August: Die Plutoniumbombe löst Nagasaki im Flammenmeer auf. Von Frederico Füllgraf.
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In einem kalten Monat Juli stieß ich vor mehreren Jahren in einem Café im südbrasilianischen Curitiba in einer Tageszeitung auf eine historische Nachricht: Charles (Chuck) W. Sweeney war gestorben. Sweeney war der Einsatzleiter der amerikanischen Bomber-Schwadron gewesen, die am 9. August 1945 – drei Tage nach dem Abwurf der „Little-Boy“-Atombombe über Hiroshima – die „Fat-Man“-Bombe über Nagasaki abwarf. Der damalige Luftwaffenmajor starb als geehrter General a.D. und sorgte als Urheber eines denkwürdigen Satzes für einen Skandal. „Every life is precious. But I felt no remorse or guilt that I had bombed the city where I stood“, hatte der US-Soldat einst in Nagasaki erklärt.
Erst mit nachträglichen Recherchen begriff ich, dass diese zynische Schuld und Reuelosigkeit zugleich Motivation und Rechtfertigung der Regierung Harry Trumans (1945-1953) und einer Hand von Generälen für die atomare Vernichtung Japans bildeten. Über Jahrzehnte hinweg verteidigte der politisch-militärisch-mediale Komplex der USA die Atomschläge mit der Begründung, nur so seien unzählige amerikanische Leben gerettet worden und überhaupt ein Ende des Pazifikkrieges und damit des Zweiten Weltkriegs möglich gewesen; ein Narrativ, das ebenso seit fünfundsiebzig Jahren mit dem zeitgeschichtlichen Nachweis bestritten wird, dass Japan davor mit über 300.000 militärischen und zivilen Todesopfern brutaler Lufteinsätze längst besiegt am Boden lag. Vielmehr seien die Atomschläge mit fragwürdigen „ethischen“ Argumenten verschleiert worden, die schreckliche menschliche Verluste verursachten und in den darauffolgenden Jahrzehnten ein nukleares Wettrüsten mit der Sowjetunion und in der Gegenwart mit Russland und China nährten, gibt die National Archives Forschungsstelle in Washington zu bedenken.
Im Tunnel der Zeit
Die Nachricht über Sweeneys Tod schubste mich unbewusst in die Vergangenheit. Zunächst in die ungeordnete Bilderwelt vom hochsommerlichen August 1986 in Hiroshima und Nagasaki.
An einem herrlichen Samstagmittag betrat ich in Begleitung von Professor Ichiro Moritaki – Physiker, Philosoph und mein Gastgeber von der japanischen Friedensbewegung Gensuikin – ein Restaurant mit atemberaubendem Ausblick auf das riesige Chinesische Meer. Nach Tokio, Hiroshima und vielen hundert Kilometern an Bord des Shinkansen-Hochgeschwindigkeitszuges näherte sich mein zweiwöchiger Auftritt als Vortragsreisender auf der Insel Kyushu dem Ende.
Ich war als einziger Lateinamerikaner zu den jährlichen Gedenkfeiern der Gensuikin eingeladen worden, die 1985 eine weltweite nukleare Abrüstung und auch den generellen Verzicht auf die sogenannte „friedliche Nutzung“ der Kernenergie forderten. Und so referierte ich vor fassungslosen Japanern über bizarre Themen mit Science-Fiction-Appeal, wie ungestraft davongekommene Physiker Hitlers Anfang der 1950er Jahre heimlich die ersten Uran-Ultrazentrifugen für Brasilien bauten; eine Technologie, die mit wenigen Innovationen dreißig Jahre später von der zwischen 1964 und 1985 regierenden Militärdiktatur zum Bau ihrer ersten Atombombe genutzt werden sollte und dennoch von der „taub-blinden“ westdeutschen Regierung mit dem milliardenschweren Atomgeschäft von 1975 bedient wurde.
Die Samurais, der Angelus Novus und die Ruinen
Jetzt, auf jenem ins Meer vorgeschobenen Promontorium von Nagasaki, forderte uns jedoch das Protokoll mit geprobten Gesten orientalischer Etikette dazu auf, Platz zu nehmen und die Köstlichkeiten zu probieren, die uns am Tisch erwarteten. Meine Sinne schienen etwas betäubt. Sie versuchten immer noch den Besuch der Hibakuscha – der seit vierzig Jahren an Leukämie leidenden und verendenden Atombomben-Überlebenden – im Krankenhaus von Hiroshima und des Gedenkmuseums zu verarbeiten, in dem zwar virtuell, aber ergreifend die Hölle vom 6. August 1945 mit einigen ursprünglichen Ruinen dargestellt war, denen die sensibleren Besucher sehr wohl den beißenden Geruch von Rauch, geschmolzenem Gusseisen und verschmorter menschlicher Haut entnahmen. Die Empfindlichsten hörten auch vierzig Jahre später immer noch Schreie, das Wimmern todesverängstigter Kinder, Hilferufe und den apokalyptischen Masseneinsturz von Gebäuden. Mit geduldigem Lächeln sah Moritaki mich von der Seite an und ahnte vielleicht, wie ich durch den Zeittunnel wanderte, als ich auf die Niederungen Nagasakis schaute, aber immer noch Hiroshima vor Augen hatte.
Warmer, sommerlicher Morgen des 6. August 1945. Die Sonne schien von Paul Tibbets, Pilot des US-Bombers „Enola Gay“, entzweit. Feuersbrunst, eine Druckwelle mit mehreren tausend Grad Wärme, taumelnde Gebäude. Und vom Himmel fiel der schwarze, klebrig-saure Regen. Die USA beeilten sich, die Zahl von 70.000 bis 80.000 unmittelbar getöteten Menschen zu verbreiten. Zwischen den rauchenden Körpern laufen menschliche Lumpen, zombifizierte Überlebende, mit dem Tod um die Wette. Ein Bild des Grauens, das mich für immer verfolgen sollte, ist das einer jungen Japanerin, in deren seidige Rückenhaut das Muster ihres Hemdes durch das uranhaltige Atomfeuer eingebrannt wurde. War sie etwa die Frau, die die Figur Eiji Okadas in Alain Resnais‘ Meisterwerk „Hiroshima, mon amour“ nicht vergessen kann? Die Anzahl der Verletzten betrug mindestens weitere 80.000 Opfer, von denen die Hälfte in den Monaten darauf ebenfalls starb. Langzeituntersuchungen haben weitere tausende Todesopfer von Spätfolgen ermittelt, womit der Abwurf der ersten Atombombe in der Menschheitsgeschichte mindestens 150.000 Todesopfer in Kauf nahm.
Moritakis einziges Auge erhellt sich plötzlich, als er unser in Hiroshima unterbrochenes Gespräch über Kyudo, die „ritterliche Kunst des Zen-Bogenschützen“, wieder aufgreift. Als Überlebender des Atom-Holocausts erklärte der Physiklehrer am Morgen jenes 6. August 1945 seinen Schülern das Newtonsche Gesetz von der Schwerkraft, als die Druckwelle das Schulgebäude zerschmetterte und ein Wirbelsturm den Klassenraum mit Glassplittern beschoss, wovon einer sich in sein rechtes Auge bohrte.
Die Kellner servieren Mentaiko – großzügig gepfefferte Fischeier – und Champon, ein exotisches Gericht aus Nudeln, Meeresfrüchten und Gemüse, das im Tontopf gekocht wird. Während Moritaki sich seinem Teller widmete, nahmen in meiner Fantasie Samurais auf dem Meer Stellung ein und richteten ihre Bögen auf die fliegenden Festungen der B-29, die sich der japanischen Küste näherten. Doch selbstverständlich hatten die Japaner mit ihrer Invasion Koreas und Chinas gegen Kriegsende hunderttausende Todesopfer brutalster Gewaltanwendung auf dem Gewissen.
Als ahne er wieder den Grund meiner Unruhe, hielt der nahezu 80-jährige Professor mit den üppigen, grauen Haaren inne und erklärte mit breitem, zärtlichem Lächeln, das eine große Anzahl goldener Zahnprothesen enthüllte: „Mit einigen Freunden, Intellektuellen und Mönchen unterhalte ich einen Zen-Tempel in der Nähe von Hiroshima. Wann immer Sie wollen, kommen Sie, Sie sind willkommen und haben bereits Ihren Meister! Zugleich beschämt und dankbar, versuchte ich meine Aufregung zu verbergen und schaute vom Buddha-Antlitz des Meisters auf die Weite des Chinesischen Meeres, dessen Frieden mich vergessen lassen wollte, warum ich in Nagasaki war.
Und dann ergriff mich die Wahrnehmung, dass es zwei Blicke auf Nagasaki geben musste: einen von oben nach unten und den anderen in umgekehrter Richtung. Dort, weniger als einen Kilometer entfernt, befand sich Ground Zero – das Epizentrum der ehemaligen unteren Stadt Nagasakis, die jetzt von unbegreiflicher territorialer Leere geprägt ist und als eine Art virtuelles Denkmal aus Ruinen und Wind bezeichnet werden kann.
Ich erinnerte mich an Paul Klees kubistisches Bild vom Angelus Novus, dem Protagonisten von Walter Benjamins „Konzept der Geschichte“. Auf eine sehr kurze Formel gebracht, bezeichnete dieses Konzept die Menschheits-Geschichte als eine Ansammlung von Trümmern. Eine Schreckenserfahrung, die Benjamin mit dem am Himmel schwebenden Engel beschreibt: Je größer seine Entfernung vom Erdboden, um so gewaltiger die Ansammlung der Ruinen.
Der Anflug der „Bockscar“ auf Nagasaki
Erst während des langen Rückfluges nach Brasilien las ich, dass der Abwurf der Plutonium-Bombe zunächst auf die alte Kaiserhauptstadt Kyoto geplant war, doch von US-Kriegsminister Henry Stimson Anfang Juni 1945 wegen seiner kulturellen Bedeutung von der „Zielliste“ gestrichen und durch Nagasaki ersetzt wurde.
Im Atomforschungszentrum Alamo Gordo wollten Robert Oppenheimer und die Generäle nach der erfolgreichen Detonation der Bombe mit angereichertem Uran über Hiroshima nun den Grad der Plutoniumzerstörung messen. Das eine Auge auf Japan, das andere auf die im besetzten Deutschland stationierten Sowjets gerichtet; subtil war die „Botschaft“ ganz und gar nicht.
So erhob sich am Morgen des 9. August im Pazifik ein US-Bombergeschwader mit Kurs auf Nordwesten. Die Operation war auch entsprechend medial vorbereitet. An Bord des B-29-45-MO-Superfortress-Bombers sah sich William L. Laurence, Wissenschaftsjournalist der New York Times, die Bombe „Fat Man“ an und notierte in seinem Tagebuch: „Is ‘ne schöne Sache zum Anschauen, dieses Geschenk! “ (wörtlich Gadget im Original).
Es waren die Worte eines patriotisch angehauchten und törichten Reporters, so jung wie die meisten Mitglieder des Geschwaders, das auf dem Weg zur Massenmordmission über den Pazifik raste. Sein Kommandant, Kapitän Frederick C. Bock, war 27, der Sprengmeister und Leutnant 1. Grades Charles Levy kaum 26, der Pilot und Leutnant 2. Grades Hugh C. Fergus gerade mal 21 und der Navigator Leonard A. Godfrey nicht mehr als 24 Jahre alt. Das Kommando über das Geschwader und die gesamte Mission hatte der gerade 25-jährige Major Charles W. Sweeney.
Um 5 Uhr morgens drang erstes Licht durch einige zerstreute Wolken. Laurence erinnert sich, dass das geplante Treffen von drei Bombern unter freiem Himmel auf der Insel Yakoshima, südwestlich von Kyushu, noch vier Stunden entfernt ist. Er holt den Stift aus seiner Lederjackentasche und schreibt: „Irgendwo am Fuße der riesigen Berge weißer Wolken liegt vor mir Japan, das Land unseres Feindes. In den kommenden vier Stunden wird eine Ihrer Städte – in der Waffen hergestellt werden, um uns anzugreifen – durch die mächtigste künstliche Waffe von der Weltkarte ausradiert. In einer Zehntausendstel-Sekunde, einem Bruchteil der Zeit, die von einer Uhr nicht gemessen werden kann, wird ein Sturm vom Himmel herabsteigen und Tausende von Gebäuden und Zehntausende seiner Bewohner vernichten“.
In den Kabinen der B-29 vergingen Stunden mit Geräte-Routine und vielen Witzen. Zur vereinbarten Zeit fliegt die Bockscar, das Flaggschiff der Mission, Kreise am Himmel. Das war das Zeichen. Dann fliegt sie zusammen mit den Begleitmaschinen über die Küste, sie können aber den Ausgang aus der dichten Wolkendecke nicht finden. „Die Winde des Schicksals scheinen bestimmte japanische Städte begünstigt zu haben, deren Namen geheim bleiben müssen …“, sinniert Laurence in seinem Notizbuch: „Mitleid oder Mitgefühl haben mit den armen Teufeln, die kurz vor dem Tod stehen? Nein, wenn wir uns an Pearl Harbor und den Tod in Battan erinnern!“, lautet sein Vergeltungsurteil.
Es ist 11:01 Uhr, als die Wolken sich lichten und aus den Cockpits eine große Hafenstadt erkennbar wird. Die Jungen an Bord der drei B-29 haben keinen Zweifel: „Das Schicksal hat Nagasaki als letztes Ziel gewählt …“. Sie stellen ein abgesprochenes Funksignal ein und setzen ihre ARC-Brille auf. Es ist 11:02 Uhr, als eine Stimme befiehlt: „There she goes!“ – und aus den Eingeweiden der B-29 springt eine metallische, schwarze und gepanzerte Kreatur ins Nichts, die sich in rasanter Geschwindigkeit auf Nagasaki zubewegt.
Sekunden später überflutet ein greller Lichtblitz den Himmel und blendet die Männer in den flüchtenden Maschinen. Die Amerikaner blicken auf den Erdboden, von dem sich das Monster erhebt und an ihnen vorbei auf 40.000, 50.000, 60.000 Fuß ansteigt! Damit hatten sie nicht gerechnet, dass sie ein 20 Kilometer hoher Atompilz wie eine Bestie der Apokalypse mindestens eine halbe Stunde lang verfolgt.
74.000 Menschen sterben sofort an Ort und Stelle. Nachdem William L. Laurence den Pulitzer-Preis für seine An-Bord-Reportage gewonnen hatte, gehen weitere 75.000 Einwohner von Nagasaki als Hibakushas – die „Überlebenden“ – in die Geschichte ein, in deren Körper das Plutonium nach 1945 die Chronik des Spättodes durch Verbrennungen, Leukämie, Lymphkrebs und Demenz geschrieben hat.
Zweihundert Flugmeilen von Nagasaki entfernt hatte Laurence in seinem Notizbuch in einer Mischung aus Angst und Arroganz über die Atombombe philosophiert: „Es besteht kein Zweifel: Aus dem Rumpf des enthaupteten Monsters werden neue Köpfe nachwachsen…“.
Laurences Metapher könnte 75 Jahre danach nicht zutreffender sein.
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