Der Zionismus ist die Basis Israels. Doch der jüdische Widerstand gegen diese Ideologie ist alt und reicht bis in die Gegenwart. Eine Buchbesprechung von Heiko Flottau.

Der Zionismus ist die Basis Israels. Doch der jüdische Widerstand gegen diese Ideologie ist alt und reicht bis in die Gegenwart. Eine Buchbesprechung von Heiko Flottau.

Der Zionismus ist die Basis Israels. Doch der jüdische Widerstand gegen diese Ideologie ist alt und reicht bis in die Gegenwart. Eine Buchbesprechung von Heiko Flottau.

Heiko Flottau
Ein Artikel von Heiko Flottau

„Wir werden das Land denjenigen zurückgeben, die seit Jahrhunderten dort gelebt haben, nämlich dem palästinensischen Volk. Unter seiner Souveränität werden wir gemeinsam an einer gerechten Lösung für alle Probleme in den jüdisch-palästinensischen Beziehungen arbeiten …“. – Mit diesen Worten aus der Neturei Karta (aramäisch „Wächter der Stadt“), einem 1938 in Jerusalem gegründeten, jüdischen, antizionistischen Bündnis, endet ein Buch, das vom französischen Originaltext bereits in vierzehn Sprachen – darunter ins Arabische und Hebräische – übersetzt war, bis es schließlich ein Jahrzehnt nach seinem Erscheinen jetzt auch auf Deutsch erscheinen durfte. Sein Titel lautet „Im Namen der Thora – Die jüdische Opposition gegen den Zionismus“.[1] Sein Autor heißt Yakov M. Rabkin. Rabkin ist Professor für Geschichte an der Universität von Montreal; zudem war Rabkin für Organisationen wie die UNESCO und die OECD tätig. Von Heiko Flottau.

Das mit vielen umfangreichen Originalzitaten ausgestattete Werk behandelt ein Thema, welches speziell in Deutschland fast so etwas wie ein Tabu ist – nämlich die Tatsache, dass es gegen den Zionismus, wie dieser etwa von Theodor Herzl propagiert wurde, eine breite innerjüdische Opposition gegeben hat und bis in die Gegenwart gibt. Dieser Widerstand beruft sich meistens auf die Thora, also auf die fünf Bücher Moses; getragen wird diese Auflehnung gegen die Bewegung, die letztlich zur Gründung des Staates Israel führte, überwiegend von den orthodoxen oder auch ultraorthodoxen Juden, den Charedim (die sich selber als „streng orthodox“ bezeichnen).

Dieser orthodoxe, sich auf die Thora berufende Widerstand gegen Herzls säkular geprägten Zionismus begann bereits 1897. Den ersten zionistischen Weltkongress wollte Herzl nach München einberufen, doch mehrere jüdische Gemeinden in Deutschland hätten sich, schreibt der Autor, auch gerichtlich gegen den Tagungsort München gewehrt. Deshalb, schreibt Rabkin, sei man in die Schweiz nach Basel gegangen. Heute, fast 125 Jahre später, sähen rechtsextreme Bewegungen in Europa und anderswo in Israel ein „Bollwerk gegen Araber und Muslime“. Man höre aber auch die Frage, schreibt der Autor, wie diejenigen, welche unter den Nationalsozialisten dermaßen gelitten hätten, die Palästinenser so behandeln (d.h. unterdrücken, Anm. d. Autors) könnten. Sein Buch, schreibt Professor Rabkin, suche auch eine Antwort auf diese Frage.

Eine Antwort gibt der Autor gleich zu Beginn seines Werkes. Er schreibt:

„Für viele religiöse Juden gibt es zwischen dem Staat Israel und der Erlösung des jüdischen Volkes keinerlei Zusammenhang. Für sie besitzt das Land (unabhängig von der Thora) keinen eigenständigen Wert. Von ihrem Standpunkt aus muss jede jüdische Gemeinde, sei es in Israel oder sonstwo in der Welt, nach den traditionellen Kriterien bemessen werden: Bringt es die Juden der Thora und der Erfüllung der Gebote näher oder nicht?“

Eine der charidischen Gruppen, welche den Staat Israel im Grunde ablehnt, sich aber mit ihm, sozusagen, arrangiert hat, ist die Schas-Bewegung. Schas steht für „Sephardische Thorawächter“. Diese seien, schreibt Yakov Rabkin, vornehmlich aus muslimischen Ländern eingewandert, hätten dort die lokalen Sprachen wie Aramäisch, Arabisch, Paschtunisch und Persisch beherrscht und seien erheblich weniger Verfolgung und Gewalt ausgesetzt gewesen als Juden im christlichen Europa. Für die sephardischen Juden der Schas sei der Zionismus Herzls ein säkulares, der Thora fremdes Projekt, ein „europäisches Projekt“, vornehmlich auch ein Projekt russischer Juden, die im Zarenreich erheblicher Verfolgung ausgesetzt waren. In Israel müssten diese sephardischen Juden, schreibt Rabkin, noch immer um Anerkennung kämpfen, ihre Hoffnung, „sie könnten mit Hilfe des Zionismus und des staatlich-religiösen Bildungssystems in die Modernität eintreten“, habe sich nicht erfüllt.

Indessen, schreibt der Autor, hätten grundsätzlich alle Strömungen des orthodoxen Judentums die Ablehnung des Zionismus gemeinsam. Für sie sei der Zionismus Ketzerei, Leugnung fundamentaler Prinzipien jüdischen Glaubens und der Bruch des Schwures, den das jüdische Volk Gott einst gegeben habe: das Heilige Land nicht mit Gewalt zu erobern.

Nun, diese Tatsache gibt der Autor selbstverständlich zu, es ist ganz anders gekommen. Schon das Alte Testament beschreibt die gewaltsame Eroberung Palästinas durch die Juden. Und die Geschichte des 20. Jahrhunderts gibt noch einmal Zeugnis für eine gewaltsame Eroberung – diesmal freilich durch den säkularen Zionismus, den die Orthodoxen ablehnen. Eine Gruppe der Orthodoxen, die Satmar-Charedim [1] sähen, schreibt der Autor, im Holocaust sogar die Strafe Gottes für die Ketzerei des Zionismus.

Doch die Ablehnung des Zionismus beschränkt sich – folgt man dem Autor – keineswegs auf das orthodoxe Judentum. Auch die jüdische Reformbewegung, die 1885 in Pittsburgh gegründet wurde, habe „dem jüdischen Nationalismus in jeder nur denkbaren Form“ eine Absage erteilt, „noch bevor der moderne Zionismus in Europa auf die Bühne“ getreten sei, schreibt Yakov Rabkin.

Nach Ansicht mancher Historiker hat der Zionismus entscheidend dazu beigetragen, die eigentlich guten Beziehungen zwischen Muslimen und Juden zu zerstören. Rabkin schreibt, „dass es in allen Ländern des Mittelmeerraumes immer gute nachbarschaftliche Beziehungen zwischen Juden und Arabern gegeben“ habe, „auch im Heiligen Land“. Erst die Zionisten hätten „durch verdeckte Aktionen in verschiedenen arabischen Ländern“ antijüdische Unruhen provoziert, u.a. auch „durch ihre offene Aggression in Palästina“. Hass auf Juden sei, schreibt Yakov Rabkin weiter, eine „spätere und damit umkehrbare Erscheinung“. Die Krux sei die „weitverbreitete Verwechslung zwischen Jude und Zionist“.

Kleiner Exkurs: Die angesehene Berliner Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer schreibt in ihrem Buch „The Jews in Modern Egypt 1914-1952“ [1], dass die Juden in der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg in Ägypten einen „sicheren und respektierten Platz in der Gesellschaft“ eingenommen hätten. „Ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten, ihr religiöses, kulturelles, soziales, politisches Leben – Zionismus eingeschlossen – unterlag keinerlei Einschränkungen.“ Erst mit dem arabisch-israelischen Krieg von 1948/49 und nachdem Gamal Abdel Nasser 1956 den Suezkanal verstaatlicht hatte und daraufhin Israel, Großbritannien und Frankreich die Suezkanalzone besetzt hatten, habe sich die Situation der Juden in Ägypten drastisch verschlechtert.

Einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung des politischen, säkularen Zionismus (den die orthodoxen Juden als Häresie bezeichnen) nahmen und nehmen nach den Worten von Yakov Rabkin die russischen Juden ein. Sie litten extrem unter der Diskriminierung im Zarenreich und unter den Pogromen – etwa denen in Kishinev (heute Chisinau, Hauptstadt von Moldawien). Im Verlauf dieser Gewaltakte kamen 1903 etwa 120 Juden ums Leben, 500 wurden verletzt; im Pogrom von 1905 wurden 15 Juden ermordet, etwa 56 erlitten Verletzungen.

Dieses schwere Schicksal hat nach den Worten von Yakov Rabkin einen nachhaltigen Einfluss auf die Gründung Israels gehabt. Die russischen Juden hätten nicht nur die Mehrheit unter den Gründern Israels gestellt, „sie waren auch die einflussreichste Gruppe in der militärischen Elite“ (Rabkin). So sei Avraham Stern, Gründer der Terrorgruppe Lechi, russischer Jude gewesen. Moshe Dayan, Ezer Weizmann, Jitzhak Rabin, Rechavam Zeevi, Rafael Eitan und Ariel Sharon seien Nachfahren russischer Juden.

Yakov Rabkin schreibt: „Das Maß ihrer Bereitschaft zum Einsatz von Gewalt verhält sich proportional zum Maß ihrer Entfremdung von der Tradition.“ Nur nach der völligen Abwendung vom Judentum hätten die russischen Juden „eigene Kraft gewinnen und ihre Fähigkeit, Israel zu erobern und zu verteidigen“, entwickeln können. Zu den ebenfalls in Russland bzw. in der Sowjetunion geborenen israelischen Politikern gehören Menachem Begin (geboren in Brest Litowsk), Yitzhak Shamir (geboren in Ruzhany, einem Dorf im Zarenreich) sowie der Späteinwanderer Avigdor Lieberman (geboren in Chisinau, Republik Moldawien). Auch Wladimir Jabotinsky, der in seinem Aufsatz von 1923 unter dem Titel „Die Eiserne Mauer“ die Zionisten dazu aufgefordert hatte, so stark wie eine „eiserne Mauer“ zu sein, an der jedweder arabische Widerstand zerschellen müsse, stammt aus dem Zarenreich, er wurde in Odessa geboren.

„Im Namen der Thora“ – wie Yakov Rabkin sein Buch nennt – hat es natürlich stets Widerstand gegen diesen militanten Zionismus gegeben. 1948, nach der Proklamation des Staates Israel, schrieb eine Gruppe von in Jerusalem geborenen Juden, man werde es nicht zulassen, dass im Namen eines Götzen, mit Namen Zionismus, „unsere Frauen und Kinder in den Tod geführt werden“. Und den Sechstagekrieg von 1967 habe der Rebbe von Satmar, so zitiert es Yakov Rabkin, mit den Worten verurteilt, dass die Thora es in keiner Weise erlaube, „das Leben auch nur eines einzigen Juden für den ganzen zionistischen Staat zu opfern“.

Doch wie die Geschichte zeigt, gab es Gewalt, und sie gibt es bis heute. Der Autor nennt zwei Beispiele. Da war der holländische Jude Jakob Israel de Haan (1881-1924). Als überzeugter Zionist reiste er nach Palästina. „Aber“, schreibt Yakov Rabkin, „seine Bekanntschaft mit Jabotinsky und anderen Vertretern des zukünftigen rechten israelischen Lagers, die fasziniert waren vom Erstarken der faschistischen Bewegungen in Europa … ließen de Haan bald begreifen, wie gefährlich das Gewaltmoment des Zionismus war“. De Haan wechselte die Seiten, er wurde Anhänger des religiösen Antizionismus. Die Zionisten, so schildert es der Autor, hätten den zunehmenden Einfluss de Haans auch in Europa gefürchtet und daher beschlossen, ihn zu töten bzw., wie es aus den zionistischen Führungskreisen hieß, „den Verräter zu liquidieren“. So geschah es. Am 30. Juni 1924 wurde de Haan in Jerusalem ermordet – vermutlich auf direkten Befehl von Wladimir Jabotinsky. Der jüdische Schriftsteller Arnold Zweig, der später nach Palästina reiste, hörte von dem Fall de Haan und verarbeitete ihn in seinem 1932 erschienenen Roman „De Vriendt kehrt heim“.

Aus der Ermordung de Haans und – im Jahr 1985 – aus der Ermordung Jitzhak Rabins (der als Premierminister Frieden mit den Palästinensern unter Jassir Arafat schließen wollte) zieht Yakov Rabkin einen deprimierenden Schluss. Der Mord an de Haan habe in den 1920er Jahren die ersten, erfolgversprechenden Kontakte mit der antizionistischen bzw. nichtzionistischen Mehrheit in Palästina unterbrochen. Der Mord an Jitzhak Rabin habe den Friedensprozess von Oslo de facto beendet. Israel sei, so das dramatische Resümee des Autors, der einzige Staat im Nahen Osten, in dem man mit einem Mord politische Ziele erreichen könne. Denn, so schreibt der Autor, die Ermordung des ägyptischen Präsidenten Anwar el Sadat (1981) habe die Politik des Landes nicht verändert. Tatsächlich hält Ägypten bis heute an seinem Friedensvertrag mit Israel fest.

Gibt es einen Ausweg? Da ist etwa Avraham Burg, ehemals Sprecher der Knesset und ehemals Vorsitzender des Zionistischen Weltkongresses. In seinem Buch „Hitler besiegen“ spricht er sich dafür aus, nicht nur den Holocaust zur Basis Israels zu machen. Vielmehr müsse der Judaismus in einer Weise auftreten, welche die humanistische und universelle Seite des Judentums hervorhebe. Es sei das Charakteristikum des Judentums, nicht zu stagnieren, sondern stets nach neuen Ufern zu suchen. Ob Burg damit die Seele der Orthodoxen anspricht, ist eher zweifelhaft.

Aber auch Yakov Rabkin denkt am Schluss seines Werkes in diese Richtung. Er schreibt, dass zwar nach dem Zweiten Weltkrieg viele jüdische Intellektuelle wie etwa Hannah Arendt, Albert Einstein und Martin Buber die Besiedlung Palästinas befürwortet hätten. „Allerdings glaubten sie“, schreibt der Autor, „dass nur ein liberaler, pluralistischer Staat den Juden normale Lebensbedingungen im Heiligen Land garantieren könne, nicht eine Ethnokratie.“ Nachdrücklich, schreibt Yakov Rabkin weiter, hätten Ahrendt, Einstein und Buber „die ethnische Säuberung des Gebietes durch zionistische Truppen“ verurteilt; auch hätten sie darauf hingewiesen, dass „solche Aggressivität typisch für einen ethnischen Nationalismus“ sei.

Es gibt viele, auch jüdische Stimmen, welche für ein Miteinander von Juden und Arabern in Palästina plädieren. Etwa Joshua Holland, ein amerikanischer Autor, den Yakov Rabkin zum Schluss aus vielen Stimmen heraushebt. Holland schreibt, weil Juden und Palästinenser durch gemeinsame biblische Wurzeln miteinander verbunden seien, „stellt sich die Frage, warum das gesamte Gebiet, das unter die britische Mandatsherrschaft fiel, als Zufluchtsort nur für eine Gruppe dienen soll, warum es nicht zu einem Land werden sollte, in dem Juden und Arabern gleicher Schutz gewährt wird“.

Eine ähnliche Lösung des Konfliktes hat bereits Omri Boehm in seinem Buch „Israel – eine Utopie“ (Originaltitel: „A Future for Israel – Beyond the Two-State Solution“, NachDenkSeiten vom 20. Juli 2020) vorgestellt. Seine „Republik Haifa“, wie er sie nennt, sieht ein friedliches Zusammenleben in einem israelisch-palästinensischen Bundesstaat vor.

So stehen sich noch immer zwei – miteinander kollidierende – Visionen zur Beendigung des Konfliktes gegenüber: Benjamin Netanjahus Annexionspläne als Fortsetzung des militanten Zionismus, wie Yakov Rabkin ihn sieht, und sich mehrende Stimmen nach einem gemeinsamen Staat, in dem Israelis und Palästinenser die gleichen Rechte haben.

Titelbild: Ryan Rodrick Beiler/shutterstock.com


[«1] Yakov Rabkin: Im Namen der Thora. Die jüdische Opposition gegen den Zionismus. 460 S. Verlag fifty-fifty, Frankfurt/Main 2020. In Kooperation mit dem Westendverlag Frankfurt/Main

[«2] Satmar – gleich „Hof“ – ist eine orthodoxe Gruppierung, die von Rabbi Moshe Teitelbaum – 1914 geboren im rumänischen Teil Österreich-Ungarns – gegründet wurde

[«3] Gudrun Krämer: The Jews in Modern Egypt 1914-1952. 319 S. Verlag J.B.Tauris, London 1989

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